Autonomes Fahren: Deutschlands neuer Mover erobert die USA – Holon mischt den Mobilitätsmarkt auf
Endlich gute Nachrichten aus der deutschen Autoindustrie: Ein vollelektrischer Kleinbus der Benteler-Tochter Holon startet in den USA. Ein Lehrstück für Zukunftsfähigkeit.

Von der Tradition zur Innovation: Holons Weg zum Mobilitäts-Pionier
Von Thorsten Giersch
Es sind Markenversprechen, wie sie wohl nur der deutsche Mittelstand geben kann: „Wir sind ein ganz neuer Fahrzeughersteller mit knapp 150 Jahren Erfahrung." Die Worte hat sich Holon auf die Homepage genagelt und überzeugte damit im Januar auch die High Society der Tech-Welt, die sich in Las Vegas auf der Consumer Electronics Show (CES) traf. Auf der Technikmesse spielt Mobilität eine große Rolle – seitdem Autos rollende Computer sind. Aber dass die Ausgründung eines Paderborner Familienunternehmens auf dem Stand des hippen Silicon-Valley-Konzerns Mobileye den Hingucker liefert, ist dann doch etwas Besonderes. Holon stellte in Las Vegas seinen Mover vor, einen vollelektrischen autonom fahrenden Kleinbus mit einer Kapazität von bis zu 15 Personen und einer Höchstgeschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde.
Holon ging vor gut zwei Jahren aus der ehemaligen Geschäftseinheit Benteler EV Systems der Benteler Gruppe hervor. Der Familienkonzern, 1876 in Bielefeld von Carl Benteler gegründet, gab die nötige Starthilfe. Holon zog allerdings auch das Geld externer Investoren an. Die Geschichte hat das Zeug, zum Vorbild im deutschen Mittelstand zu werden. Traditionskonzern gründet neue Einheit, lässt ein paar Leute in Ruhe machen – hilft und lässt Freiheiten, einschließlich der Suche nach Investoren und Kooperationspartnern. „Mit Holon kombinieren wir nun das Fachwissen, das Netzwerk und die Ressourcen eines renommierten Unternehmens der Automobilbranche mit der Schnelligkeit, der Leidenschaft und dem Unternehmergeist eines Start-ups", sagt Firmenchef Henning von Watzdorf.
Von der Vision zur Realität: Holons Weg zum autonomen Shuttle
Die Geschichte von Holon begann 2017, als Benteler innerhalb der Automobilsparte die Business-Unit E-Mobility gründete. Der Konzern bündelte dort die Kompetenzen rund um Elektromobilität aus den Bereichen Strukturkomponenten, Chassis und Thermomanagement. Das Familienunternehmen wollte den Trend nicht verpassen, sondern mitgestalten. Benteler konnte Kunden nun bei modularen E-Mobilitätslösungen helfen – von der Planung bis zur Serienfertigung. Unterstützt von strategischen Partnern wie Bosch oder Vibracoustic hat Benteler eine Plattform für E-Fahrzeuge entwickelt. Ende 2021 wurde daraus eine eigene rechtliche Einheit – Benteler EV Systems.
„In diesem Bereich benötigten die Kunden kürzere Entwicklungsprozesse für ihre E-Fahrzeuge", sagt von Watzdorf. „Dazu brauchte es unabhängige, flexible und agile Unternehmen, um E-Mobilitätslösungen effizienter realisieren und die Zeit zur Marktreife verkürzen zu können." Ende 2022 erhielt das Unternehmen einen neuen Namen: Holon. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Ein Ganzes, das Teil eines anderen Ganzen ist". Holon konzentriert sich seitdem auf das Geschäft mit vollständig elektrischen, autonomen Personentransportern.
Der Mover läuft in der Rubrik „Wenn es einfach wäre, würden es ja alle machen". Die Industrie für autonome Shuttles muss neu aufgebaut werden. Verschiedene Firmen müssen über die gesamte Wertschöpfungskette und verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten – und auch über große geografische Entfernungen. Jede Region hat eine spezifische Stärke. Während die USA bei der Marktreife führend sind, bieten Europa und Asien innovative Technologien und schnelle Produktionsmöglichkeiten. Der Nahe Osten setzt auf sehr futuristische Projekte, bei denen neue Mobilitätskonzepte eingesetzt werden könnten.

Revolutionäre Technologie für den Nahverkehr der Zukunft
Holon will nicht weniger als „die Welt der Mobilität verändern" mit seinem Kleinbus, dem nach eigener Aussage „ersten autonomen Level-4-Elektrofahrzeug, das dem anspruchsvollen Alltag des öffentlichen Nahverkehrs gerecht wird". Soll heißen: Das Shuttle fährt autonom und bietet alle Standards, die man aus der Automobilindustrie kennt: sicher, komfortabel und mit typisch deutscher Produktionsqualität. „Unser Fahrzeug ermöglicht einen sicheren, inklusiven, emissionsfreien und nachhaltigen Personentransport", sagt Holon-Chef von Watzdorf. Das Ziel lautet, mit einer Plattformtechnologie den Personentransport im öffentlichen wie im privaten Sektor neu zu definieren.
Innenstädte entlasten
Das Fahrzeug soll besonders in Regionen rollen, in denen Busse sich nicht rechnen. Einsatzgebiete des Movers sind On-Demand-Dienste wie Ridepooling, bei denen sich mehrere Personen ein Fahrzeug teilen, und Ridehailing, bei denen das Fahrzeug auf Anforderung kommt. Auch Liniendienste oder Fahrstrecken in Industriegebieten eignen sich. In Zukunft könnten auch größere Busse, Krankentransporter oder Spezialfahrzeuge hinzukommen. Das Gefährt soll dazu beitragen, die Innenstädte zu entlasten und CO2-Emissionen zu senken. Das Mobilitätsangebot richtet sich an Kommunen, private Betreiber und Institutionen wie Flughäfen, Universitäten, Gemeinden, Gesundheitseinrichtungen und Nationalparks. Das Fahrzeug ist barrierefrei und bietet eine automatisierte Rampe und einen gesicherten Rollstuhlplatz.
Die autonome Fahrtechnologie kommt von der Intel-Tochter Mobileye, auf dessen Stand der Kleinbus auf der CES zu besichtigen war. Mobileye DriveTM heißt das selbstfahrende System der Amerikaner. Es ist eines der ersten kommerziell nutzbaren autonomen Fahrsysteme. Dank Sensor-, Kartierungs- und Fahrrichtlinien-Technologien unterstützt es den – immer noch notwendigen – Fahrer dabei, Hindernisse zu erkennen, die Verkehrslage zu analysieren und angemessen auf unerwartete Situationen zu reagieren. „Diese Technologie ist ein gutes Beispiel für das enorme Potenzial des autonomen Fahrens", sagt von Watzdorf. „Gemeinsam mit Mobileye zeigten wir auf der CES 2025, wie wir mit unserem gebündelten Wissen Mobilität grundlegend neu denken – hin zu einer vernetzten und nachhaltigen Zukunft." Im nächsten Schritt werden die Fahrzeuge für weitere Tests mit dem Selbstfahrsystem von Mobileye ausgestattet.
Von der Idee zur Produktion: Holons Weg in die USA
Die Premiere auf der Technikmesse in Las Vegas feierte das Fahrzeug zwar schon vor zwei Jahren, aber damals war das Projekt noch recht vage und so geriet der Auftritt in diesem Jahr zum „richtigen" Start. Im Februar 2024 war Holon der finanzielle Durchbruch gelungen: Die Investitionsvereinbarung mit Tasaru Mobility Investments aus Saudi-Arabien sicherte dem Unternehmen einen dreistelligen Millionenbetrag, der die Serienentwicklung des Movers de facto ermöglichte. Im September 2024 entschied sich das Unternehmen für den Produktionsstandort in Florida. In Jacksonville entsteht auf 45.000 Quadratmetern ein hochmodernes Werk, in dem jährlich bis zu 5000 autonome Shuttles im Einschicht-Betrieb produziert werden sollen. Die Fahrzeuge erfüllen auch die Anforderungen des „Buy America Act" und schaffen in Florida rund dort 150 neue Arbeitsplätze.
Seit November 2024 kurven die ersten Prototypen bei Testfahrten rund um Jacksonville – ein entscheidender Schritt in Richtung Serienreife. Noch sind Fahrer, Lenkrad und Bremse nötig, bis das autonomste Fahrsystem in Bälde voll übernimmt. „Wir sind sehr stolz auf die ersten Fahrten unserer Prototypen. Wir liegen voll im Zeitplan und die Entwicklung läuft weiter auf Hochtouren", sagt Holon-Chef von Watzdorf.
Vom Testbetrieb zur Realität: Holons Pläne für Deutschland
In Kürze startet der Mover auch im deutschen Straßenverkehr – und zwar in Hamburg. Holon und die Hamburger Hochbahn vereinbarten im vergangenen Jahr eine Absichtserklärung zum Einsatz autonomer Shuttles im öffentlichen Nahverkehr. Der E-Kleinbus soll künftig einen Beitrag zum „Hamburg-Takt" leisten: Bis 2030 soll jeder Hamburgerin und jedem Hamburger von morgens bis in die Abendstunden binnen fünf Minuten ein öffentliches Mobilitätsangebot zur Verfügung stehen. Autonome On-Demand-Angebote wie der Mover sind da wichtig.
Öffentlichen Verkehrsbetriebe fehlen derzeit Fahrer. Die Kosten sind hoch und die oft mit Diesel betriebenen Busse stoßen im Straßenverkehr Schadstoffe aus. Viele Kommunen wollen zudem den Autoverkehr verringern. Großstädte verbannen private Pkw zunehmend aus den verdichteten Kernzonen. Außerdem muss der Nahverkehr die städtischen Randgebiete und die ländlichen Regionen besser erschließen, in denen sich große, liniengebundene Busse nicht rechnen. „All das spricht für den zusätzlichen Einsatz von autonomen und inklusiven Movern, die Mobilität auch für Menschen mit Einschränkungen möglich machen", sagt von Watzdorf.
Ganz neu ist die Idee von Holon nicht, und bei aller Begeisterung ist der Markt schwierig. Ein erster Test mit autonomen E-Bussen in Deutschland endete gerade in Bayern. Der Hersteller Easymile ist insolvent. Seit 2017 fuhren Fahrzeuge der französischen Firma, die denen von Holon äußerlich ähneln, in Bad Birnbach. Sie transportierten fast 111.000 Personen.
Party mit Arnie? Vorbei!
Auf der CES in Las Vegas war Holons Fahrzeug für die deutsche Autobranche die schöne Ausnahme. Die Stimmung unter den Herstellern und Zulieferern war eher mies. So mancher fehlte, Mercedes-Benz oder Volkswagen etwa, die noch vor einem Jahr ausstellten. Nur BMW hatte einen Stand in Las Vegas mit dem überlebensgroßen Plakat „Tech hat keine Seele. Oder doch?". Man könnte auch sagen: Ohne konkurrenzfähige Technologie ist die Freude am Fahren begrenzt.
Dabei war es immer so schön auf der CES: 2023 zeigt BMW das Konzeptauto iVision Dee, das auf Knopfdruck die Farbe wechselte und die Windschutzscheibe zum Display machte. Eine Party mit Arnold Schwarzenegger gab es auch. 2024 führte Volkswagen die Chancen der künstlichen Intelligenz (KI) mit der Integration des Textroboters ChatGPT vor und ließ gemeinsam mit Bosch Elektroautos vollautomatisch freie Parkplätze suchen. Stattdessen sprach man in diesem Jahr an den Ständen der europäischen Hersteller und Zulieferer über Chefwechsel, Werksschließungen und Schrumpfkuren. Alles nach dem Motto: „Die fetten Jahre kommen nicht wieder." Die Angst, dass Tech-Konzerne zum Autobauer werden, ist immerhin weitgehend verflogen. Längst haben die IT-Riesen erkannt, wie margenschwach das Autogeschäft im Vergleich zu dem mit Software ist.
Dass die Politik an allem schuld sei, sagten in Las Vegas nur die Lobbyisten. Die Hersteller haben selbst zu verantworten, dass der Messestand von Waymo der meistbesuchte auf der CES ist: Der Vorsprung der Alphabet-Tochter ist beim autonomen Fahren einfach zu groß. Und die Bedeutung von Software, wo Amerikaner und Chinesen ebenfalls weit enteilt sind, wird bei den deutschen Fachleuten zufolge selbst intern noch immer kleingeredet.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (parteilos) war nach Las Vegas gereist und verbreitete zarten Optimismus. „Wir sind sehr gut aufgestellt. Aber es gibt natürlich die klassischen Probleme: Wie kriegt man Innovationen schnell in den Markt?" Zu Holon ist sein Zitat überliefert: „Autonom fahrende Shuttles, wie der Mover, werden essenzieller Bestandteil des Nahverkehrs der Zukunft sein." Das Fahrzeug sei eine Antwort auf gesellschaftliche Megatrends wie Urbanisierung, Klimawandel und Demografie. „Es ist gut, dass Spitzentechnologie dieser Art in Deutschland entwickelt wird und immer stärker zum Einsatz kommt."