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Technologie > KI-Start-ups bewertet

Die Bewertungen von KI-Unternehmen bewegen sich am Rande des Wahnsinns

THE ECONOMIST über den Hype rund um KI-Start-ups: Milliardenbewertungen, kaum Umsätze – wie „Vibe Valuing“ traditionelle Maßstäbe aushebelt.

Milliarden für Ideen: KI-Start-ups wie „Thinking Machines Lab“ erhalten atemberaubende Bewertungen – oft ohne tragfähiges Geschäftsmodell. (Foto: ki-generiert, chat-gpt)

„Vibe Coding“, also die Fähigkeit, mithilfe generativer Künstlicher Intelligenz (KI) Software zu entwickeln, ohne klassische Programmierkenntnisse, ist derzeit der letzte Schrei im Silicon Valley. Doch es gibt ein nah verwandtes Phänomen: „Vibe Valuing“. Gemeint ist die Fähigkeit von Risikokapitalgebern, gigantische Unternehmensbewertungen für KI-Start-ups aus dem Boden zu stampfen – mit erstaunlich geringer Rücksicht auf traditionelle Bewertungskennzahlen.

Beispielhaft dafür steht Mira Murati, ehemals Chef-Technologin von OpenAI, die quasi über Nacht in den Geldadel aufgestiegen ist. Ihr KI-Start-up „Thinking Machines Lab“ hat Berichten zufolge in einer ersten Finanzierungsrunde zwei Milliarden Dollar eingesammelt – bei einer Unternehmensbewertung von zehn Milliarden Dollar. Und das, obwohl es bislang kaum eine Strategie gibt, geschweige denn nennenswerte Umsätze.

Muratis Erfolg erklärt sich vor allem durch das Team: zahlreiche ehemalige OpenAI-Forscher arbeiten für sie. Tech-Giganten wie Meta zahlen derzeit astronomische Gehälter für solche KI-Talente. Dennoch berichten Venture-Capital-Größen, dass selbst bei weniger prominenten Start-ups traditionelle Bewertungsmaßstäbe wie prognostiziertes Umsatzwachstum, Kundenabwanderung oder Kapitalverbrauch deutlich an Bedeutung verlieren. Das liegt zum einen an der rasanten Entwicklung im Bereich der KI, die belastbare Prognosen erschwert. Zum anderen fließt derzeit so viel Kapital in den Bereich generativer KI, dass Maß und Mitte ins Wanken geraten.

Besonders gefährdet ist eine ehemals zentrale Kennzahl: der jährlich wiederkehrende Umsatz (Annual Recurring Revenue, ARR). Dieser war lange Zeit ein stabiler Anker der Start-up-Bewertung – insbesondere bei Anbietern von Software-as-a-Service. ARR ließ sich einfach berechnen: Man multiplizierte den durchschnittlichen Monatsumsatz – meist auf Basis der Zahl der Nutzer („Seats“) – mit zwölf. Ergänzt wurde das durch hohe Kundenbindung: Die Abwanderungsquote lag oft unter fünf Prozent pro Jahr. Weil die Grenzkosten niedrig waren, konnten viele Start-ups schon mit überschaubarem Kapitalbedarf profitabel werden. Eine solide Grundlage also.

Doch nicht so bei KI-Start-ups. Deren Umsatzwachstum ist mitunter extrem. So meldete Anysphere, Anbieter des beliebten Programmier-Tools Cursor, im Juni eine ARR von 500 Millionen Dollar – fünfmal so viel wie noch im Januar. Auch Windsurf, ein weiteres Tool zur Code-Generierung, verzeichnete explosionsartiges Wachstum, bevor OpenAI es im Mai für drei Milliarden Dollar übernahm.

Doch wie nachhaltig ist dieses Wachstum? Jamin Ball von Altimeter Capital, einer VC-Firma, merkt an, dass viele Unternehmen derzeit mit unterschiedlichsten KI-Anwendungen experimentieren – was auf Begeisterung, aber nicht unbedingt auf langfristige Bindung schließen lässt. Er spottet, dass man eher von „Experimental Run Rate“ (ERR) als von ARR sprechen müsse. Andere Beobachter verweisen auf Abwanderungsquoten von über 20 Prozent. Hinzu kommt, dass manche Start-ups nach Nutzung abrechnen statt nach Nutzerzahl – was die Planbarkeit weiter erschwert.

Erschwerend kommt der gnadenlose Wettbewerb hinzu. Auch ein rasant wachsendes KI-Start-up hat keine Garantie auf langfristigen Erfolg. Viele bauen ihre Anwendungen auf Modellen auf, die von großen KI-Laboren wie OpenAI oder Anthropic entwickelt wurden – dieselben Labore, die zunehmend eigene Anwendungen auf den Markt bringen. Zudem senkt generative KI die Einstiegshürden massiv: Schon mit wenigen Mitarbeitern lässt sich ein Unternehmen gründen, erklärt Max Alderman von der Beratungsfirma FE International.

Selbst bekannte KI-Unternehmen schreiben tiefrote Zahlen. Perplexity, das versucht, das von Google dominierte Suchgeschäft zu revolutionieren, erwirtschaftete im vergangenen Jahr Berichten zufolge 34 Millionen Dollar Umsatz – bei einem negativen Cashflow von rund 65 Millionen Dollar. Das hat einer stattlichen Bewertung jedoch nicht geschadet: In der jüngsten Finanzierungsrunde wurde Perplexity mit knapp 14 Milliarden Dollar bewertet – mehr als dem 400-Fachen des Jahresumsatzes (zum Vergleich: an der US-Technologiebörse Nasdaq liegt das Kurs-Umsatz-Verhältnis im Schnitt bei unter 5). OpenAI wiederum verbrannte im vergangenen Jahr rund fünf Milliarden Dollar – und wird dennoch mit 300 Milliarden Dollar bewertet. Die Investoren sehen über diese Verluste hinweg, weil sie davon ausgehen, dass der potenzielle Markt für KI gigantisch ist – und die Kosten weiter sinken werden. Im Fall von Perplexity kommt hinzu, dass das Start-up als Übernahmekandidat gilt.

Vielleicht werden traditionelle Bewertungsmethoden irgendwann wieder en vogue – und ein kühlerer Kopf setzt sich durch. „Nennen Sie mich ruhig old fashioned – ich brauche klassische Kennzahlen, um mich wohlzufühlen.“, sagt Umesh Padval von der VC-Firma Thomvest. "Vorerst gilt: Einfach den Vibes folgen".

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Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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