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Technologie > Energiewende, Georgsmarienhütte, Strompreis

Die Energiewende wird ausgebremst

Georgsmarienhütte ist auf dem Weg zum grünen Stahl weiter als viele andere Firmen. Doch der Strompreis wird zum Problem. Auch Politik und Bürger blockieren.

Gut gelaunt trotz schwerer Lage: Anne-Marie Großmann, im Vorstand von GMH zuständig für Digitales, besichtigt das Walzwerk des Stahlkonzerns. Die Managerin arbeitet daran mit, dass der Konzern CO2-neutral wird.© picture alliance/dpa | Friso Gentsch

Jahrhundertelang gab es eine scheinbar symbiotische Beziehung zwischen Kohle und Stahl. Die Kraft des Fossilen war nötig, um Metall auf mehr als 1000 Grad zu erhitzen – rotglühend, formbar. Doch dann kam die Wende zur Nachhaltigkeit und der Abgesang auf den „grauen“ Stahl mit all seinen CO2-Emissionen. Die sogenannte Elektrostahlroute wurde zum Hype und damit auch das deutsche Unternehmen, das diesen Weg seit 30 Jahren geht: Georgsmarienhütte, kurz GMH.

Damals, Mitte der 1990er-Jahre, brauchte man noch Stahl, um einen Golf III oder Ford Scorpio zu bauen. Jürgen Großmann, ein Urgestein der deutschen Wirtschaft, war der starke Mann und Visionär bei GMH. Der Stahlbaron wollte Stahl ohne Kohle und Hochofen, stattdessen mit Strom und aus Elektroschrott produzieren. Heute sagen sie bei GMH offen, dass diese in Europa revolutionäre Umstellung nur bedingt mit ökologischen Gründen zu tun hatte. Schuld war vielmehr der Umstand, dass Georgsmarienhütte nicht an einem Fluss liegt und es damit keine Möglichkeit gibt, angesichts steigender Transportkosten Kohle und Eisenerz einigermaßen bezahlbar heranzuschaffen.

Großmann hatte Georgsmarienhütte Anfang der 90er-Jahre für zwei Mark vom Klöckner-Konzern gekauft: eine Mark für die Gebäude und Maschinen, die zweite Mark für den operativen Betrieb. Händeringend suchte er nach Innovationen, die den Betrieb sicherstellen konnten. 1993 kam er begeistert aus Japan zurück. Er hatte dort eine Technologie kennengelernt und setzte sie im Werk Georgsmarienhütte um: Für 85 Millionen Mark ließ er den alten Hochofen herausreißen und einen modernen Elektroofen installieren. Eine hochriskante Chefentscheidung, die GMH zum Vorreiter beim grünen Stahl machte.

Großmann zog als Chef weiter zu RWE. Ihm und seinen drei Kindern gehören immer noch 100 Prozent an der GMH-Dachgesellschaft. Das Familienunternehmen bildet mit seinen 2000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und zwei Milliarden Euro Umsatz den gesamten Kreislauf ab: vom Schrottrecycling bis zur einbaufertigen Komponente. Bis 2039 will GMH CO2-neutral Stahl produzieren, sechs Jahre bevor es das Gesetz verlangt. Die, die das erreichen sollen, sind Großmanns Tochter Anne-Marie und  Firmenchef  Alexander Becker.
 

Im Hinblick auf die Technologie ist Stahlherstellung wie Grillen: Auf der einen Seite des Gartens steht ein Kohlegrill mit glühenden Briketts und reichlich Rauchentwicklung – das Pendant zum klassischen Hochofen. Auf der anderen Seite ein mit Strom betriebener Elektrogrill. Stammt der Strom aus erneuerbaren Energien, darf sich der Griller CO2-Neutralität auf die Fahne schreiben. In der Stahlbranche nennt sich die strombetriebene Alternative zum Kohlehochofen Elektrolichtbogenofen. Statt zwei erzeugt dieses Verfahren lediglich 0,4 Tonnen CO2, um eine Tonne Stahl herzustellen. Wenn der verwendete Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien stammt, würde die Quote auf 0,1 Tonnen sinken. Der Rest soll bei GMH von 2030 an vor allem mit grünem Wasserstoff und neuer Technologie auf null gebracht werden.

Ein weiterer Vorteil: Bei Elektrostahl wird Schrott eingeschmolzen, nicht Eisenerz. Kaum ein Stoff ist besser recycelbar als Stahl, denn es geht dabei keine Qualität verloren. Deswegen ist GMH zum Gejagten geworden. Die Großen der Branche wollen ebenfalls im Geschäft mit dem grünen Stahl mitmischen und investieren kräftig. Das ist auch nötig. „Die Umstellung der Produktionsverfahren auf die Elektrolichtbogenofenroute zur Stahlerzeugung ist mit komplexen und umfangreichen Investitionen verbunden“, sagt Gerd-Michael Hüsken vom Beratungshaus Accenture. Und wenn die neuen Anlagen fertig sind, ist sehr viel grüner Strom notwendig.

GMH benötigt pro Jahr ziemlich genau eine Terawattstunde (TWh). Die benachbarte Stadt Osnabrück liegt bei 0,85 TWh. Oder anders gerechnet: GMH bräuchte ungefähr 80 Windkrafträder mit Rotorblättern von 90 Meter Länge, dazu niemals Flaute, um seinen Stromhunger stillen zu können. Den Stahl für die Wind­riesen könne man ja beisteuern, sagen sie hier im Scherz. Aber so einfach ist das nicht – Stichwort „Verspargelung der Landschaft“. Planbarkeit ist nötig, was die Verfügbarkeit von grünem Strom betrifft. Den wollen alle, also muss in großem Stil zugebaut werden.

Hadern mit dem Standort

2022 berichtete Markt und Mittelstand über die Transformation des Stahlunternehmens. Aus dem Vorzeigeunternehmen ist ein Sorgenkind geworden, das mit dem Standort hadert. „Wir sind wirklich stolz darauf, Vorreiter der Dekarbonisierung zu sein. Die Familie Großmann arbeitet seit 25 Jahren daran“, sagt Firmenchef Becker. Gerade ist er dabei, erdgasbetriebene Aggregate durch strombasierte zu ersetzen – Stückpreis 23 Millionen Euro. Die Investitionen sind hoch. Und genau jetzt setzt das Herz der nachhaltigen Transformation aus: der Strom, genauer gesagt der Preis, den er dafür zahlen muss.

In Zahlen ausgedrückt bedeutet Transformation bei der GMH: Die CO2-Emissionen sanken von vier Millionen Tonnen 1992 auf 800.000 Tonnen 2022. In demselben Zeitraum stieg der Stromverbrauch von 340.000 Megawattstunden auf 1,2 Millionen. GMH plant, die CO2-Emissionen bis 2039 auf null herunterzufahren bei einem Stromverbrauch von dann 1,4 Millionen Megawattstunden pro Jahr. 

Entscheidend für das Gelingen der Wende ist, dass genug grüner, also CO2-freier Strom zu einigermaßen bezahlbaren Preisen zur Verfügung steht. Das weiß jeder – auch in Berlin. Doch dann kam der Winter 2023, der in der deutschen Industrie als „Hiems horribilis“ in Erinnerung bleiben wird. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kündigte an, den Strompreis auf 60 Euro zu begrenzen. Doch der Brückenstrompreis kam dann nicht. Dafür etwas anderes. „Die Verdopplung der Netzentgelte über Nacht hat uns wirklich den Boden weggezogen. Und das gilt für alle in der Industrie“, sagt GMH-Chef Becker. „Ich war am 14. Dezember so sauer, weil jegliche Planbarkeit über den Haufen geworfen wurde. Netzentgelte im Rahmen von 5,5 Milliarden Euro sind auf die Industrie umgewälzt worden.“

Strafe für grüne Transformation

Der Ärger des CEO ist unüberhörbar, wenn er über diese Wochen spricht, wohlgleich er dabei geduldig und seriös Zahlenkolonnen vorlegt. Zahlte GMH für Netzentgelte im November 2023 noch 23 Euro pro Megawattstunde, sind es nun 44 Euro. Insgesamt stieg der Preis, den GMH für eine Megawattstunde aufbringen muss, binnen weniger Wochen von 87 Euro auf 111 Euro – ein Plus von 70 Prozent. Becker rechnet es um. „Über Nacht sind 25, fast 30 Prozent der Investitionssumme eines Jahres weggebrochen – das gab es in Deutschland so noch nicht.“

Entsprechend bewertet er die ­Entscheidungen der Bundesregierung. „Genau die Unternehmen, die sich wie wir auf den Weg der grünen Transformation gemacht haben, werden jetzt bestraft.“ Die Folge: Während die Herstellung von Hochofenstahl zwischen 2022 und 2023 konstant blieb, sank der von Elektrostahl um 13 Prozent. Die Lücke füllen europäische Nachbarländer. „Die Frustration ist so groß, dass sie in Wut umschwingt“, sagt Becker.

Wer die Strompreise, die Industrieunternehmen in Deutschland bezahlen müssen, mit denen im Ausland vergleicht, erkennt den Standortnachteil mit einem Blick. Liegt die Spanne der Wirtschaftsvereinigung Stahl zufolge hierzulande zwischen 101 und 114 Euro, sind es in Frankreich 53 bis 64 Euro, in den USA 44 bis 49 Euro und in China 55 bis 69 Euro. Kein Wunder, dass der GMH-Chef dem Brückenstrompreis hinterhertrauert. Seine Rechnung geht so: Die energieintensive Industrie braucht 100 Terrawatt Strom pro Jahr. Die Differenz von 80 Euro pro Megawattstunde zu 60 Euro Brückenstrompreis hätte pro Jahr zwei Milliarden Euro gekostet. „Und das bei einem Bundeshaushalt von 1000 Milliarden Euro“, sagt Becker. „Man könnte mit so wenig einen so großen positiven Effekt erzeugen, aber es passiert halt nichts.“ Die USA und auch viele europäische Nachbarländer machten es anders.

Becker hat zwei Forderungen: „Wettbewerbsfähige Strompreise und die Übernahme der Netzentgelte durch die Regierung.“ Mehr sei nicht nötig, um die Industrie im Land zu halten. Aus seiner Sicht sind Stromleitungsnetze eine Infrastruktur, die der Staat zur Verfügung stellen sollte. „Sonst brauchen wir keine Steuern mehr zu zahlen.“ Dass ein Regierungswechsel die Lösung wäre, glaubt er nicht. „Die Regierung braucht einen Kompass für die Transformation. Aber die CDU braucht ja auch noch Zeit, um gute Lösungen zu präsentieren.“ Auch von den Grünen sei man inhaltlich gar nicht so weit weg. „Wir wollen auch mehr Erneuerbare zur Verfügung haben und sind für einen schnelleren Ausbau, genau wie Herr Habeck.“
Der Preis für den Strom ist bei weitem nicht das einzige Thema, bei dem sich das Unternehmen auf dem Weg zur CO2-freien Produktion ausgebremst fühlt. Bürokratie spielt auch eine große Rolle. Das spiegelt sich aus Beckers Sicht im Anstieg der Staatsbediensteten innerhalb weniger Jahre von 4,6 auf 5,2 Millionen. „Dieser Aufwuchs bedeutet nicht weniger, sondern mehr Bürokratie.“ Der Wust an Genehmigungen vergeude Zeit bei der grünen Transformation.

„Da wird einem schwindlig“

GMH braucht Solarfelder und Windkrafträder neben ihren Werken. „Doch obwohl die Bauern möchten, dauert die Genehmigung für ein einfaches Solarfeld drei Jahre“, sagt Becker. Ein anderes Beispiel für Bürokratie sei die Strompreiskompensation. „Es gibt da so viele Regularien, da wird einem schwindelig.“ Man warte bei GMH noch heute auf die Genehmigung der Kompensation für 2021. Die Verfahren müssten deutlich schneller werden. Und das lasse sich nicht nur in Berlin lösen. Da seien auch die Kommunen und die Bürger gefragt, die Windkrafträder selten in der Nähe haben wollten. „Es gibt viele Politiker, die wollen“, berichtet der GMH-Chef. „Aber wir sind auch in den Kommunen so einzementiert, wir kriegen den Bock noch nicht umgestoßen.“

Dabei ist die Stahlbranche für fast 30 Prozent der Emissionen in der gewerblichen Wirtschaft in Deutschland verantwortlich. Dem Klimaschutzgesetz zufolge sind Unternehmen verpflichtet, bis 2045 treibhausgasneutral zu arbeiten. Fachleute weisen auf die Komplexität der Pläne hin. „Stahlhersteller müssen teilweise in vollkommen neue Prozesse investieren und Anlagen ersetzen, die oft seit Jahrzehnten in Betrieb sind“, sagt Jens Burchardt, Managing Director und Partner bei der Beratung BCG. Für GMH bedeutete dies zunächst, die richtigen Fragen zu stellen: Werden Käufer 500 bis 1000 Euro mehr für ein Auto bezahlen, wenn es aus grünem statt aus grauem Stahl gefertigt wurde? Wo kommt der grüne Strom her?

Es ist eine Wette mit vielen Variablen, die GMH und andere Stahlhersteller eingehen: Grünstahl ist erheblich teurer – und er wird auch heute schon teurer verkauft. Aktuell ist der Markt eher unterversorgt. Hersteller, die früh in grüne Stahlproduktion investiert haben, gehören zu den Gewinnern. Die Auto- und Hausgerätehersteller, aber auch die Baubranche müssen nach EU-Vorgaben den CO2-Fußabdruck ihrer Produkte verringern. Grüner Stahl ist dafür unverzichtbar.

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