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Energie & Rohstoffe > Vordenker Jeremy Rifkin

„Die Grenzkosten für Strom gehen gegen null“

Jeremy Rifkin gehört zu den bekanntesten Vordenkern der Welt. Der Amerikaner berät die unterschiedlichsten Regierungen. Und den deutschen Mittelstand hält er für besonders widerstandsfähig.

Jeremy Rifkin bei der Innovationskonferenz DLD: Der weltbekannte Vordenker plädiert für Resilienz.

Eine Bücherwand – was könnte der Hintergrund des Büros von Jeremy Rifkin im Herzen Washingtons auch sonst stehen. Der belesene Vorsitzende der Foundation on Economic Trends nimmt sich für die Videokonferenz mit Markt und Mittelstand 90 Minuten Zeit, woraus dann zwei Stunden werden. Warum wird klar, wenn man dem 77-Jährigen zuhört: Er schätzt Deutschland, schwärmt von den Treffen mit Angela Merkel und liebt den Mittelstand. Denn die Zukunft sei wie gemacht für kleine und mittelgroße Unternehmen. Seit über 20 Jahren berät er auch die EU, außerdem die Regierungen von China den USA – derzeit vor allem zum Thema Resilienz.
 
Sie kritisieren in Ihrem neuen Buch, dass sich die Menschheit seit der Industriellen Revolution an der Effizienz orientiert hat. Was ist falsch daran?
Unternehmen müssen sehr schlank sein. Sie wollen keine Reibung. Um Investoren möglichst viel zurückgeben, möchten Sie nicht zu viel Inventar verwalten. Denn dann gibst du Geld aus. Sie müssen aber nichts ausgeben oder zu viele Arbeitskräfte vorhalten. Sie möchten auch keine redundanten Lieferketten haben. Nun, dann kam die Corona-Pandemie und das war ein Weckruf. Als Covid zuschlug und alle anfingen, sich gegenseitig anzuschreien: Wo zum Teufel sind die Masken, wo die Beatmungsgeräte? Wo ist das Toilettenpapier? Und jetzt wissen wir, wohin uns die Effizient gebracht hat.
 
Das Toilettenpapier liegt wieder im Supermarktregal. Ist die Lage wirklich so schlimm?
Effizienz hat nichts mit der Welt zu tun, auf der wir leben. Das ist ein künstliches Produkt der Aufklärung. Als wir in das Zeitalter der Landwirtschaft und des Industriezeitalters eintraten, begannen wir, die Natur an uns anzupassen, anstatt uns selbst an die Natur anzupassen – und haben sie erschöpft. Also müssen wir uns jetzt mit dem Klimawandel auseinandersetzen und uns wiederum an die Natur anpassen. Und das bedeutet, dass wir die Art und Weise ändern müssen, wie wir Wirtschaft denken, wie wir unsere Kinder erziehen, unsere Herangehensweise an die Wissenschaft und auf sehr anspruchsvolle Weise Neues lernen.
 
Ich traue mich kaum zu fragen, was Sie von Produktivität halten.
Produktivität ist der Zwilling der Effizienz. Produktivität spielt in der Natur keine Rolle, eine menschliche Idee. Typen wie Jeremy Bentham haben sich das mit den utilitaristischen Vorstellungen von Wirtschaftstätigkeit ausgedacht, aber es hat nichts mit Natur zu tun. Die Natur funktioniert nicht durch Produktivität, sie arbeitet regenerativ. Die Natur kennt kein Wachstum, sie kennt Gedeihen. Je vielfältiger und redundanter das Ökosystem in der Natur ist, desto widerstandsfähiger ist es gegen jeden Schock. Je mehr Monokultur ein Ökosystem hat, desto weniger widerstandsfähig ist es. Ohne Vielfalt ist sehr anfällig für einen Zusammenbruch. Wenn Sie also nur eine Handvoll riesiger, vertikal integrierter Unternehmen haben, die den Planeten verwalten, ist das nicht gut für die Widerstandskraft von Gesellschaften. Wir sind so nicht agil genug, um mit Klimaereignissen umzugehen.
 
Wie soll ein Wirtschaftssystem ohne Wachstum funktionieren?
Wir sehen eine Verschiebung vom Wachstum zum Gedeihen, nicht kein Wachstum, sondern Gedeihen. Das ist das Maß für den Erfolg. Nichts davon ist in Stein gemeißelt. Aber der Anfang ist gemacht, unsere Infrastruktur wird belastbarer. Wir sehen eine auch eine Veränderung von Finanzkapital zu ökologischem Kapital. Das wird der Schlüssel sein.
 
Den Unterschied zwischen Wachstum und Gedeihen müssen wir herausarbeiten: Sie sagen, das Zeitalter des Fortschritts ist vorbei. Wie meinen Sie das?
Ich sehe niemanden, der beim Klimawandel von Fortschritt spricht. Es geht ab sofort nicht mehr um Effizienz, sondern um Anpassungsfähigkeit. Es geht darum, die Natur zu regenerieren. Wir könnten es schaffen und auf neue Weise gedeihen – im Zeitalter der Resilienz.
 
Wie können wir unsere Wirtschaft widerstandsfähiger gestalten?
Wir müssen uns auf sehr agile, hochtechnologische, kleine und mittlere Unternehmen konzentrieren. Das bedeutet nicht, dass wir alle vertikal integrierten Organisationen eliminieren sollten. Es braucht auch Konzerne, aber wir müssen mehr Wert auf mittelständisch geprägte Unternehmen und Genossenschaften legen, die sich anpassen, also sich jederzeit fließend ändern können.

Müssen wir dafür die Globalisierung zurückdrehen?
Die Infrastruktur der dritten industriellen Revolution zeichnet sich dadurch aus, dass es so billig ist, Dinge digital um die Welt zu bewegen. Wenn Sie Architekt in Italien sind, der ein 3D-gedrucktes Haus gebaut hat, da können Sie ihre Idee des Hauses digital auf die Philippinen schicken und mit der richtigen Software dort umgehend nachbauen. Das ist ein Anbieter-Benutzer-Netzwerk und Sie eliminieren die Nachteile der Globalisierung, um deren Vorteile wahrzunehmen. Das nur eines von so vielen Beispielen, die sich gerade in Richtung Mainstream bewegen. Aber wenn die Infrastruktur der dritten industriellen Revolution reift und sich bis zur Mitte des Jahrhunderts in die belastbare Infrastruktur des Zeitalters der Belastbarkeit zu verwandeln beginnt, werden Sie viel mehr globalisierte mittelständische Unternehmen sehen und Plattformen, die agil genug sind, sich an das Klimageschehen anzupassen. Das schafft eine widerstandsfähige Wirtschaft.
 
Welche Art von internationaler Zusammen braucht es?
Die große Veränderung wird die bioregionale Governance sein. Wir haben ja erlebt, dass Überschwemmungen, Dürren, Waldbrände, Taifunen und massiven Schneefällen sich nicht um politische Grenzen scheren. Sie kümmern sich um Ökosystemgrenzen. In Ordnung, also wird sich die gesamte Governance verschieben müssen. Deshalb geben wir geben Nationalstaaten nicht auf. Aber die Menschen erkennen das jetzt, dass Regierungen diese Klimaereignisse nicht alleine bewältigen können, sie sind einfach zu überwältigend. An der Stelle ist Amerika Europa und China tatsächlich voraus: Wir haben zwei große Bio-Regionalregierungen, die es jetzt seit etwa 30 Jahren gibt.
 
Sie schreiben: „Leistung wird zum Ersatz von Zufriedenheit.“ Ich glaube vielmehr: Immer mehr vor allem junge Menschen wünschen sich auf kurzem Weg Erfolg, ohne die Leistung im Blick zu haben. Stärkt das die Widerstandskraft einer Gesellschaft?
Das ist ein großes Problem und auch das hat mit Effizienz zu tun. Niemand will mehr warten. Kinder spüren oft nicht mehr, dass Vorfreude die große Freude ist. Viele Menschen wollen immer mehr in kürzeren Abständen und haben immer weniger Zufriedenheit. Sie erkennen nicht, dass alles Wertvolle auf der Welt bedeutet, dass man etwas dafür tun muss. Aber die Effizienzlehre sagt, mehr in immer kürzeren Zeitintervallen zu gestalten und irgendwann werden die Menschen von ihrem Besitz absolut besessen und sind nicht glücklich. An Japan erkennen Sie aber, dass das umkehrbar ist.
 
Wieso Japan?
Japan war die erste 24/7-Gesellschaft. Die Leute starben buchstäblich am Schreibtisch. Vor allem in den 1980er- und 90er- Jahren arbeiten die Menschen rund um die Uhr. Einige Leute sind dann von ihrem Schreibtisch aufgestanden und haben angefangen, in der Natur spazieren zu gehen. Andere hörten davon. Jetzt machen es alle Menschen auf der Welt, hauptsächlich in den asiatischen Ländern, aber auch beginnend in Europa. Sie orientieren sich wieder an ihrer inneren biologischen Uhr, was gut ist für Stoffwechsel und Cortisolspiegel.
 
Wir lernen also, dass Menschen ein Ökosystem sind.
Ja, und das ist keine Metapher, das ist sehr wichtig: Die National Institutes of Health, die größte wissenschaftliche Einrichtung der Welt, und die US-Regierung begannen vor ein paar Jahren mit einem Projekt namens Human Biome. Sie haben offiziell erkannt, dass unser Körper ein Ökosystem ist. Der Mensch kommt und geht jeden Monat. Außer unseren Augen, einigen Zellen in unserem Gehirn und ein paar anderen Dingen wird alles andere ersetzt. Das menschliche Skelett wird alle 10 Jahre ersetzt. Die Leber ist alle 365 Tage eine völlig neue Leber. Dann stellt sich heraus, dass über die Hälfte der Zellen im menschlichen Körper nicht menschlich sind, sie gehören diesen anderen Kreaturen. Dies ist eine tröstliche neue Geschichte aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft.
 
Weltweit sprechen wir derzeit viel über Energie – eines ihrer größten Themen. Sie haben beim Aufbau der regenerativen Energien intensiv mit der EU und vielen Ländern zusammengearbeitet. Welche Fehler hat Deutschland gemacht?
Damals gab es einen großen Anreiz, um Solar- und Windkraftanlagen und Mikronetze aufzubauen. Jeder fing damit an und dann sank der Preis. Dann kam China ins Spiel und drückte den Preis weiter. Ich habe auch dort mit der Staatsführung zusammengearbeitet. Das haben die Stromversorger in Deutschland nicht kommen sehen. Ich nahm 2014 mal auf Einladung des damaligen Eon-Chefs an einer öffentlichen Debatte teil. Er fragte mich, was ist das Problem? Ich sagte, dass Sonne und Wind bald die günstigste Energieform sein werden. Ein paar Jahre noch und dein Geschäftsmodell ist überholt. Er war damals nicht beunruhigt, obwohl rund 92 Prozent seines Stroms immer noch aus Kernkraft und fossilen Brennstoffen bestand. Er verstand Exponentialkurven nicht wirklich.
 
Was sollen die Versorger nun tun?

Ihre neue Aufgabe ist, das zu tun, was IBM getan hat: IBM hat Mitte der 90er-Jahre erkannt, dass seine Computer der Konkurrenz nicht mehr gewachsen waren. Die Koreaner und Japaner waren günstiger. Also fragten sich die IBM-Manager, was der Kern ihres Geschäfts ist: Informationen verwalten. Und nun steht IBM da, was es steht. Also sagte ich zu den Energieversorgern, Ihre wahre Expertise liegt im Management von Energie und Elektrizität. So bauen Sie Partnerschaften mit Tausenden von Unternehmen auf. Viele kleinere Unternehmen werden helfen, die Energie zu verwalten, die sich durch ihre Wertschöpfungsketten bewegt, und ihnen helfen, sich anzupassen, damit sie ihre Kosten senken und einen Teil ihrer Leistung an sie senden.
 
Derzeit steigen die Energiepreise dramatisch. Die Produktion wird immer teurer. Wie kommen wir hin in diese schöne Welt, die Sie beschreiben?
Die jetzigen Anstiege sind ein vergleichsweise kurzfristiges Phänomen. Die Stromgestehungskosten durch erneuerbare Energien fielen 2019 tatsächlich unter alle anderen. Sie lagen unter die Kernenergie, weit unter Kohle, Öl und Erdgas. Und sie sinken weiter, sogar exponentiell. Irgendwann sind die Grenzkosten nahe null. Wir haben keine einzige Rechnung von der Sonne oder dem Wind erhalten. Kohle, Öl und Gas und Uran sind verdammt teuer in der Förderung. Die Industrie für fossile Brennstoffe steht auf ihren letzten Thron. Elf Billionen Dollar sind aus fossilen Brennstoffen ausgeschieden, hauptsächlich Rentenfonds und Versicherungen, weil sie ihr Vermögen niemals amortisieren werden.

Aber Energiekonzerne machen derzeit sogar Übergewinne.
Die großen Unternehmen für fossile Brennstoffe behalten einfach, was sie haben, und erhöhen den Preis, um mehr aus dem herauszuholen, was sie noch haben. Es ist ein Endspiel. Es ist im Moment gefährlich, aber Sonne und Wind sind nicht nur die billigsten Energien, sie bewegen sich am schnellsten und in den Entwicklungsländern bewegen sie sich sogar schneller. Da muss man sich keine Sorgen machen um alte Vereinbarungen, Vorschriften, Standards, Interessenbindungen und all das. Es wird hart und es gibt keine Garantie, dass wir diesen Übergang schaffen werden. Es gibt all die Kräfte, die dies verhindern könnten. Aber die Alternative ist ein Aussterbeereignisses (extinction event). Der letzte war vor 65 Millionen Jahren.
 
Woher soll all der grüne Strom kommen?
Das neue Modell ist ganz anders, weil Versorger nicht den gesamten Strom allein produzieren können. Man kann genug Strom aus erneuerbaren Energien erzeugen, aber die Hälfte davon werden Mikronetze sein. Haushalte  werden Versorgungsunternehmen sein. Es braucht Genossenschaften, eine Struktur von kleinen High-Tech-Unternehmen.
 
Sie schreiben: Umweltdienstleistungen werden Millionen von Arbeitsplätzen schaffen. Welche und wer bezahlt sie?
Im Jahr 2010 begann mein Team ein Projekt in Texas. Während die zwei gerade neu gebauten Atomkraftwerke finanziell aus dem Ruder liefen, empfohlen wir ihnen Wind und Sonne. Und wir bezogen in das Konzept alle Ranches aus, die republikanisches Territorium waren. Für die Bauern ist es eine zusätzliche Einnahmequelle – und sie können ihre Ernte immer noch genauso anbauen. Ähnlich war es in Michigan oder in Kentucky und Tennessee. Früher hatten die alle diese F-150-Trucks, das zweitwichtigste Produkt in den USA nach dem iPhone. Heute fahren die alle elektrisch.
 
Das schafft Millionen Jobs?
Es geht ja viel weiter: In den USA muss ein Drittel der Landfläche verwildern, damit der Oberboden regeneriert. Wir haben für ungefähr 60 Jahre Mutterboden übrig, weil wir ihn mit unserer effizienten chemischen und biotechnologischen Landwirtschaft erschöpft haben. Und der Wald, dafür werden Millionen von Arbeitsplätzen benötigt. Es gibt keinen anderen Weg, als auf ökologische Dienstleistungen umzusteigen. Carbon Farming, Wiederaufforstung – das sind zum Teil sehr technische Jobs, aber auch für ungelernte Menschen. So oder so: Der Bedarf ist da für Millionen Arbeitsplätze – und dafür braucht es Menschen mit Händen, das kann kein Roboter und keine Big-Data-Analyse allein für uns erledigen.
 
Sie wirken sehr optimistisch für die Zukunft unserer Kinder?
Ich denke, alle Eltern fragen Sie jetzt, wo wir von hier aus hingehen. Und ich sage Ihnen: Wir sind die am besten angepasste Spezies. Und wir Menschen sind eine zähe Rasse. Das sind wir wirklich. Wir können das schaffen. Wir sind spät. Aber ich denke, es ist möglich, das Nötige zu tun.

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