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Technologie > Verbraucherschutz

Die Inkassobranche im Wandel

Zum 1. Oktober gilt das Gesetz zum Schutz säumiger Verbraucher. Das Forderungsmanagement in Unternehmen wird sich ändern. Das Gesicht der Inkassobranche wandelt sich.

"Guten Tag, wir haben von der Firma X einen Inkassoauftrag erhalten, da Sie sich in Zahlungsverzug befinden. Vielleicht ist es bei Ihnen im Alltag untergegangen – das kann ja mal passieren." So nett zieht das Unternehmen Paigo per Mail die Daumenschrauben an. Hinter der neuen Freundlichkeit steckt betriebswirtschaftliches Kalkül des Auftraggebers: Finanzprozesse sind Kontaktpunkte mit Kunden. Zudem gelten gut 60 Prozent der Schuldner im Business-to-Consumer-Bereich als nachlässig oder vergesslich, aber weder als unseriös noch betrügerisch. Wer sie trotzdem so behandelt, vergrault sie. Und wer weg ist, ist weg. Ihre Neu-Akquise wäre teurer und vermutlich vergebens. Das bringt Unternehmen doppelt in die Zwickmühle. Nicht nur, weil Forderungsmanagement deutliche Mehrkosten bedeutet und dennoch oft erfolglos ist. Die neue deutsche Nettigkeit im Forderungsmanagement vernebelt auch den Blick auf die Zahlungsmoral der Konsumenten sowie Unternehmenskunden. Bettina Breitenbücher lichtet den Nebel. Die renommierte Insolvenzverwalterin beobachtet: "Unternehmen sind längst nicht mehr so kulant wie früher. Sie stunden seltener, mahnen schneller und fordern Verzugszinsen." Zahlungsziele würden verkürzt, stattdessen "werden Anzahlungen oder Abschlagszahlungen gefordert".

Unternehmen in Not

"Die Zahlungsmoral hat in den letzten Jahren sehr gelitten", sagt Breitenbücher. Mit Corona habe das nichts zu tun, eher im Gegenteil. "Die hohe finanzielle Unterstützung der Bundesregierung für durch die Pandemie in Not geratenen Unternehmen führt dazu, dass sich gerade eine künstlich verzögerte Insolvenzwelle aufbaut", sagt die Dresdnerin. Ihre These belegen die Zahlen der deutschen Amtsgerichte aus dem ersten Quartal 2021. Dort stellten 3762 Firmen einen Insolvenzantrag mitten in der Pandemie, 19,7 Prozent weniger als im fast krisenfreien ersten Quartal 2020. Die meisten Firmeninsolvenzen gab es in Gastgewerbe, Handel und Baugewerbe.

Händler im B-to-B-Bereich haben dabei wohl noch Glück im Unglück. Sie sind nicht so stark von schusseligen Shoppern betroffen wie der im vergangenen Jahr boomende Online-Handel. Gerade dort verzeichnen die Inkasso-Unternehmen Zuwächse. Patric Weilacher vom Bundesverband für Inkasso- und Forderungsmanagement stellt ebenfalls fest: "Es gibt einen gesellschaftlichen Wertewandel bei der Zahlungsdisziplin. Die Hemmschwellen sinken." Auch die Zahlungsmoral der öffentlichen Hand habe sich nicht verbessert. Da hören wartende Lieferanten dann häufig, dass beispielsweise die Staatsbediensteten wegen ihrer Arbeit im Homeoffice leider noch keine Gelegenheit zur Prüfung der Forderungen gehabt hätten. Lieferantenkredite halten die deutsche Volkswirtschaft am Laufen. Die Inkassobranche auch: Mehr als sechs Milliarden Euro führten die Inkassounternehmen jährlich zurück in den Wirtschaftskreislauf, wirbt ihr Bundesverband BDIU. Inkassounternehmen müssen sich im Rechtsdienstleistungsregister anmelden. 2000 sind dort registriert, aber nur rund 750 gelten als aktiv. Der Datendienst Ibisworld rechnet für Inkassobüros und Auskunfteien 2020 mit einem Umsatzrückgang von 5,1 Prozent auf 4,7 Milliarden Euro. Das entspricht einem Branchenwachstum von mageren 0,7 Prozent im Schnitt der vergangenen fünf Jahre. Zufall?

Mehr Rechte für Säumige

Anders als bei Banken und Versicherungen digitalisierte diese Sparte der Finanzwirtschaft erstaunlich wenige hausinterne, vorgelagerte Prozesse. Auch bei Ton und Image ist manches von gestern – und nicht nur bei den schwarzen Schafen. Das betrifft selbst Branchengrößen wie das Unternehmen EOS, eine Tochter der Otto-Gruppe. Sie geriet erst im März in die Schlagzeilen, weil sie aus dem Ärger mit den Säumigen noch mächtig Kapital geschlagen haben soll. Das funktioniert über "Konzerninkasso", nämlich über steigende Kosten für die Schuldner, weil weitere, konzerneigene Inkassoeintreiber zwischengeschaltet werden. Gerhard Schick, bis 2018 für die Grünen Mitglied des Bundestags und des Cum-ex-Untersuchungsausschusses, machte darauf aufmerksam.

Post vom Inkassobüro wird immer noch mehrheitlich als bedrohlich empfunden. Oft auch als unfair, wenn die Höhe der Forderung und der Aufschlag für das Schuldeneintreiben nicht mehr in angemessener Relation zu stehen scheinen. Auch deshalb hat sich die Bundesregierung des Themas kritisch angenommen. Ab 1. Oktober 2021 werden die amtlich befundenen Verbesserungen zum gültigen "Gesetz zur Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht". Dienstleister müssen dann mit der ersten "Geltendmachung" dem Schuldner klar, verständlich und schriftlich erklären, warum sie was einfordern und auch, welche Rechte der oder die Angeschriebene hat. Gemeint ist "jede natürliche Person, gegen die eine Forderung geltend gemacht wird, die nicht im Zusammenhang mit ihrer gewerblichen oder selbstständigen beruflichen Tätigkeit steht". Zudem müssen sie auf Stundungs- oder Ratenzahlungsvereinbarungen und die Folgen eines Schuldanerkenntnisses hinweisen. Auch bei den Kosten tut sich etwas. Inkassounternehmen betrachten es als schmerzhaften Eingriff in ihr Geschäftsmodell. Die Inkassogebühren sinken ab Oktober vor allem bei geringen Forderungen und orientieren sich dann am Rechtsanwaltsvergütungsgesetz. Die Inkassokosten für Verbraucher sollen im Schnitt um rund ein Drittel sinken. Auch wenn die Inkassounternehmen den gleichen oder wegen des Transparenzgebots mehr Aufwand als zuvor betreiben müssen.

Dem Caritas-Verband reicht das dennoch nicht. Er kritisiert, dass das Gesetz nur einen Teil der Forderungen aus der Schuldnerberatung aufgegriffen habe und es damit auf halber Strecke stehen geblieben sei. Schon die kurze Evaluierungsfrist des Gesetzes von zwei Jahren zeige das Bewusstsein der Regierung für weiteren Änderungsbedarf. Ab Oktober wird also freundlich gemahnt, aber nicht weniger hart in der Sache. Anwältin Breitenbücher beobachtet: "Viele kleinere und mittlere Unternehmen straffen gerade ihr Debitorenmanagement. Das kann die klassische Frau vom Chef, die die Buchhaltung für den Handwerksbetrieb macht, gar nicht mehr leisten. Die Firmen übernehmen das Inkassoverfahren selbst und mahnen schneller." Zunehmend würden gebündelte Forderungen auch verkauft, sagt die Expertin für Insolvenzrecht. Sie erwartet, dass Lieferanten schneller Lieferstopps verhängen oder Lieferantenkredite nur noch niedriger als bisher gewähren. Neuer Zoff ist also programmiert.

Die jungen Wilden

Das Inkasso-Start-up Troy will das alles besser machen. Näher am Menschen, Schuldner heißen dort in Verzug geratene Mandanten. Jochen Schüssler, Chief Commercial Officer, beschreibt, welche Kundenwünsche die Firma aus Lippstadt identifiziert habe: Der Kunde will den Zahlungsprozess selbst regeln. Am liebsten so digital und via App wie seine Bankgeschäfte. Er wünscht sich alle Zahlungswege von Cash über Paypal & Co. bis zur Kreditkarte ebenso wie die Kommunikation über Chats, SMS, Messenger-Dienste, Mails und klassische Briefe. Persönlicher Support übers Telefon gehört auch zum Forderungskatalog der Mandanten. "Echte Omnichannel-Kommunikation mit digitalem Self-Service über eine cloudbasierte Plattform", nennt es der Marketingprofi und strahlt: "So wird diese Kommunikation zum positiven Kundenerlebnis." Im besten Fall. Interessant ist der Deep-Learning-Ansatz dahinter. Woher weiß Troy überhaupt, über welchen Kanal, in welcher Tonalität ein ihnen gerade noch unbekannter Säumiger optimal angesprochen werden sollte? "Diese Daten, die mit bis zu 100 Attributen pro Kunde individualisiert werden, sind auf dem Markt zu kaufen", erklärt Schüssler. Das bedeutet: Auch so werden die freiwilligen und unfreiwilligen Tracking-Infos jedes Internet-Users weiterverwertet. Im Callcenter überlässt Troy ebenfalls nichts dem Zufall. Das Unternehmen nutzt künstliche Intelligenz, um Gesprächsverläufe zu steuern. Parallel zum Telefonat mit einem Schuldner, bekommt der Mitarbeiter Vorschläge eingeblendet, wie er als Nächstes argumentieren soll. Ein rotes oder grünes Signal zeigt ihm an, wie konform mit der jeweiligen Unternehmenskultur sein Gespräch gerade läuft. "Dieses Coaching für die ‚next best action‘ gibt dem Case-Manager Sicherheit", sagt Schüssler. Oder Kontrolle.

Demnächst sollen Bots einfache Aufgaben gleich ganz übernehmen. Womöglich ein dankbares Geschäftsmodell. Während eingesessene Inkassoriesen noch mühsam alte Prozesse und veraltetes Denken umprogrammieren müssen, starten die Jungen auf der grünen Wiese ohne „Tech-Legacy“ oder Betriebsräte. Und treiben auf ihre userfreundliche Art Außenstände womöglich erfolgreicher als andere ein. "Unsere Zahl-Quote liegt um 25 bis 80 Prozent höher, die Kunden bleiben dem Unternehmen erhalten und auch unsere eigene Weiterempfehlungsrate ist bestens", quantifiziert es Schüssler. Am Geld wird der Aufstieg der neuen, digitalen Geldeintreiber ohnehin nicht scheitern. Für Troy zum Beispiel steht bis Jahresende die nächste Finanzierungsrunde an. Internationales Wachstum lautet die Mission. Die Versicherung HDI, die zum großen Talanx-Konzern gehört, hat sich schon beteiligt.

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