Beitrag teilen

Link in die Zwischenablage kopieren

Link kopieren
Suchfunktion schließen
Energie & Rohstoffe > Wirtschaftlicher Aufschwung

Energiehauptstadt Deutschlands

Jahrzehntelang kämpfte Wilhelmshaven um wirtschaftlichen Aufschwung. Jetzt tut sich etwas in der Stadt mit Deutschlands einzigem Tiefwasserhafen.

(Foto: picture alliance)

Wilhelmshaven überrascht. Wer vorn aus dem Bahnhofseinkaufszentrum tritt, sieht links einen leerstehenden Monumentalbau von Karstadt und rechts eine riesige Freifläche, auf der einmal C&A stand, auf der das geplante Shoppingcenter aber nie gebaut wurde. Über allem schreien die Möwen. Gut, das hier ist schließlich strukturschwacher Raum. Aber mit sehr viel Grün, einer lässigen Haltung, verwunschenen Ecken am Siel, Nationalparkhaus Wattenmeer, Südstrand, Hotels am Wasser. Es gibt den größten Marinestandort Deutschlands. Einen Tiefwasserhafen, Logistik. Jede Menge Industrieflächen. Und den Willen, nach den Rückschlägen der vergangenen Jahrzehnte wirtschaftlich endlich wieder durchzustarten. Die Chancen stehen dieses Mal sehr gut.

Inmitten von Gründerzeitstraßenzügen, Nachkriegsklinkerbauten, Parks und Lücken, die der Zweite Weltkrieg riss, thront das Rathaus, expressionistisch Mitte der 30er-Jahre aus roten Backsteinen erbaut. Im zweiten Stock rechts sitzt der parteilose Oberbürgermeister Carsten Feist, der die Chancen ergreifen will. Mit Augenmaß, wie es sich für echte Friesen gehört. Wilhelmshaven, das wird im Gespräch schnell klar, liegt gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und das hat wesentlich mit Energie zu tun.

„Wir werden in zehn Jahren die Hauptstadt regenerativer Energien in Deutschland sein“, sagt Feist selbstbewusst. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts zeige, dass künftig allein 60 Prozent des in der Bundesrepublik benötigten Wasserstoffs über Wilhelmshaven geliefert werde. „Für uns als Stadt und Region ist das eine riesige Chance. Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir auch Wertschöpfung bei uns behalten und nicht nur durchleiten“, sagt Feist. „Das ist eine große Herausforderung.“

Vom Geheimtipp zum Energie-Hotspot Deutschlands

Vor zwei Jahren haben sie gezeigt, dass Wilhelmshaven liefern kann – sehr schnell. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine musste das russische Gas, das Deutschland in großen Mengen per Nord Stream importierte, ersetzt werden. Flüssiggas sollte per Schiff kommen, doch es gab keinen Terminal. Dafür aber einen entsprechenden Plan beim Energieunternehmen Uniper und in Wilhelmshaven und den angrenzenden Gemeinden zupackende Menschen. Das Terminal war komplett mit Pipelineanbindung nach wenigen Monaten fertig.

Seither fließt nicht nur Gas. Damals „hatte Wilhelmshaven sehr viel Aufmerksamkeit“, sagt Oberbürgermeister Feist. „Und die ist nachhaltig. Anders als früher sind die Menschen von außerhalb informierter. Und interessieren sich gezielter für den Standort.“ Plötzlich kennt fast jeder Wilhelmshaven. Irgendwie sind sie die Retter – und das Momentum gedenken Feist und die Wirtschaftsförderung zu nutzen. Deren Chef Alexander Leonhardt schwärmt. „Das Gesamtpaket ist aus meiner Sicht einfach herausragend: Energie der Zukunft und eine allen Anforderungen gerecht werdende Infrastruktur befinden sich in einer Region mit hoher Lebensqualität.“

 

Auch das ist Wilhelmshafen

Vom LNG-Terminal zum grünen Wasserstoff-Hub

In den vergangenen Jahrzehnten sah es nicht immer so gut aus. Viele Versuche, die Stadt nach vorn zu bringen, scheiterten. Unter den 400 deutschen Städten und Landkreisen findet sich Wilhelmshaven beim wirtschaftlichen Niveau denn auch auf Platz 393, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ermittelt hat. Die Arbeitslosigkeit ist fast doppelt so hoch wie im Bundesschnitt. Doch bei der wirtschaftlichen Dynamik gehört die Stadt an der Jade zu den Aufsteigern.

Der Standort bietet schließlich nicht nur ein Spezialschiff als LNG-Terminal. Das zweite soll noch in diesem Herbst festmachen. Die Terminals können auf Wasserstoff umstellen. Geplant sind Methan und Ammoniakverarbeitung, beides Wasserstoffverbindungen, die sich über weite Strecken per Schiff transportieren lassen. Uniper und das Unternehmen TES wollen zudem jeweils eine Fabrik für grünen Wasserstoff bauen. Strom aus erneuerbaren Energien ist reichlich vorhanden.

Von den Offshore-Windparks in der Nordsee landet ein Kabel nördlich Wilhelmshavens. Der Masterplan Energy Hub sieht zudem eine CO2-Pipeline, Speicher und ein Terminal vor, von dem das Gas per Schiff abtransportiert werden kann. Wenige Kilometer entfernt ruhen tief unter der Gemeinde Friedeburg riesige Kavernenspeicher für Öl und Gas in einem Salzstock, in denen auch Wasserstoff eingelagert werden könnte. Energie allein dürfte Wilhelmshaven nicht wirtschaftlich aufsteigen lassen. Der Oberbürgermeister ist aber sicher: „Die Produktion folgt der Energie, das war schon immer so. Und wir haben große freie Industrieflächen.“

Dem Meer abgerungene Flächen

Den besten Blick darauf hat, wer von der Erinnerungsstätte Seefrieden, direkt nördlich des Marinestützpunkts am Deich entlang gen Norden fährt. Insgesamt etwa elf Kilometer Hafenkante mit mehreren Anlegern für Öl- und Gastanker, auf der anderen Seite die riesigen Flächen. In drei Abschnitten sind die Groden genannten Gebiete dem Meer abgerungen worden, Ende der 30er-Jahre, in den 60ern und Anfang der 70er-Jahre, um Flächen für Industrie zu gewinnen. Schon damals gab es große Pläne, die aber nur in Teilen aufgingen, weshalb mitten im Industriegebiet jetzt auch zwei Vogelschutzgebiete liegen.

Es geht vorbei an einem Teil der deutschen Ölreserve auf dem Heppenser Groden. Von hier aus verlaufen auch Pipelines. Auf den Rüstersieler Groden ragt das stillgelegte Kohlekraftwerk des Energiekonzerns Uniper in den Himmel, etwas weiter läuft noch das von Onyx. Am Voslapper Groden dann der Jade-Weser-Port, ein Containerhafen, den Schiffe jeglicher Größe anfahren können. Probleme mit Tiefgang wie in Hamburg oder Bremerhaven haben sie in der Jade nicht. Der Radweg heißt Atlantik, später Arktis. Ein Vogelschutzgebiet, dann ein weiteres Ölterminal, eine Raffinerie, noch ein Schutzgebiet, das Chemiewerk Vynova, dann der Anleger mit dem schwimmenden Flüssiggasterminal Höegh Esperanza.

Wirtschaftsförderer Leonhardt erklärt, wen Wilhelmshaven anziehen will. „Der Markenkern werden erneuerbare Energien, umweltfreundliche Technologien und nachhaltige Produktionsmethoden sein“, sagt er. „Vor diesem Hintergrund richten wir uns konkret in Richtung traditioneller (zum Beispiel Chemie- und Metallindustrie) und neuer Industrien aus. Darüber hinaus sehen wir Produktionsstätten für erneuerbare Energien, also im Bereich Solarzellen, Windturbinen und Batterien.“ Biotechnologie und Pharma sind auch willkommen. „Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie und Aquakulturen können vor allem als Ergänzung spannend sein.“ Und dann sind da die Energiefresser der Zukunft: „Wir schließen im Bereich der künstlichen Intelligenz und maschinellem Lernen Ansiedlungen im Bereich Datenzentren und Internetinfrastruktur nicht aus.“

Herausforderungen bei Vogelschutz, Batterierecycling und Fachkräftemangel

Sie denken jetzt also groß an der Jade. Und sie lernen kräftig dazu. Zum Beispiel die Sache mit der Überlandleitung. „Die Entwicklung hat einige überraschende Tücken“, gibt Oberbürgermeister Feist zu. „Auf dem Voslapper Groden gibt es neben den Industrieflächen auch noch zwei europäische Vogelschutzgebiete. Dafür benötigen wir Ausgleichsflächen von mehr als 300 Hektar. Da stehen wir im Konflikt mit einer neuen 380-kV-Überlandleitung für Windstrom aus der Nordsee.“ Ist noch nicht gelöst, aber sie arbeiten dran.

Auch sonst gelingt den Optimisten nicht immer alles. Stichwort Batterierecycling. „Das geplante Batterierecycling im industriellen Maßstab, vor eineinhalb Jahren vorgestellt, rechnet sich nicht mehr. Die Technik hat sich weiterentwickelt“, sagt Oberbürgermeister Feist. „Vor fünf Jahren hätte das Wilhelmshaven taumeln lassen und zurückgeworfen, jetzt haben wir andere Projekte, die wir angehen können.“

Neben der Frage, wie sie Wertschöpfung und damit auch Steuereinnahmen in Wilhelmshaven halten können, sieht Bürgermeister Feist noch eine zweite große Herausforderung: Fachkräfte. „Allein TES plant für die Wasserstofffabrik mit 600 bis 800 Beschäftigten. Die müssen irgendwoher kommen“, sagt er. Und auch da kann Wilhelmshaven aus seiner Sicht punkten: „Für Fachkräfte ist schon interessant, dass man hier bezahlbar wohnen kann, auch im Grünen. Dass es bezahlbare Kitaplätze gibt. Die Lebenshaltungskosten sind niedrig, die Lebensqualität ist hoch.“

Wer vom LNG-Terminal an der nördlichsten Spitze Wilhelmshavens über Land in die Stadt zurückwill, radelt durch das Dorf Alt-Voslapp, kilometerweit durch Wald. Vorbei an rot geklinkerten Einfamilienhaussiedlungen unter Bäumen, zeitweise ist auch die Straße geklinkert. Vom Wind ist nichts zu spüren. Plötzlich taucht wieder das Rathaus auf. Alles ganz nett, aber reicht das im Wettbewerb um Industrie? „Ich hoffe, dass wir in einem wirtschaftlich starken Deutschland nicht zu sehr über Konkurrenz sprechen müssen“, sagt Wirtschaftsförderer Leonhardt. „Wilhelmshaven muss sich nicht verstecken, im Gegenteil.“

Ähnliche Artikel