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Technologie > KI und das erste Ein-Personen-Einhorn

Gründer ohne Team: KI-Agenten könnten die nächste Einhorn-Welle lostreten

| The Economist

Generative KI ermöglicht es Gründern, Unternehmen allein zu starten und zu skalieren – ohne Programmierkenntnisse, ohne Team, mit digitaler Unterstützung von KI-Agenten.

Illustratuon Frau am PC, Roboter als Angstellte
KI als Co-Gründer: Start-ups wachsen dank digitaler Agenten ohne Team – eine Revolution für Gründer und Märkte. (Foto: ki-generiert)

aus: The Economist

Sarah Gwilliam ist weder Softwareentwicklerin noch – wie sie selbst zugibt – jemand, der „KI spricht“. och nach dem Tod ihres Vaters hatte sie die Idee für ein Start-up im Bereich generative KI: eine Plattform, die Trauernden helfen soll, mit ihrem Verlust umzugehen und die Angelegenheiten Verstorbener zu regeln. Nennen wir es Hochzeitsplanung für Beerdigungen.

Ihr Unternehmen Solace befindet sich noch in der Frühphase, eher Idee als fertiges Geschäft. Aber außer ihr selbst hilft fast kein Mensch beim Aufbau.  Sie hat sich einem KI-gestützten Inkubator namens Audos angeschlossen, der ihr Konzept als vielversprechend einstufte. Dessen Bots halfen ihr beim Online-Auftritt und beim Start auf Instagram. Sollte sich ihre Idee bewähren, stellt der Inkubator nicht nur Kapital bereit: Die KI-Agenten unterstützen Gwilliam auch bei Produktentwicklung, Vertrieb, Marketing und Verwaltung – im Gegenzug für eine Umsatzbeteiligung. Personal braucht sie nicht. De facto hat KI das Unternehmen mitgegründet. „Ich kann gar nicht sagen, wie befreiend das war“, sagt sie.

Wie so oft hat das Silicon Valley bereits ein neues Schlagwort erfunden: Gründerinnen wie Gwilliam heißen „Solopreneure“. In Tech-Kreisen laufen Wetten, wer von ihnen das erste Ein-Personen-Einhorn schaffen wird – also ein nicht börsennotiertes Unternehmen mit einer Bewertung von über einer Milliarde Dollar. Manche hoffen, dass generative KI das Gründen so billig und unkompliziert macht, dass künftig jeder zum Unternehmer werden kann – so wie jeder zum YouTuber werden kann. Ein frischer Wind in der konzentrierten US-Wirtschaftslandschaft. Ob Gründerinnen wie Gwilliam allerdings dem Würgegriff der Tech-Giganten entkommen können, ist fraglich.

Technologische Revolutionen haben die Spielregeln im Geschäft schon oft verändert. Ende des 19. Jahrhunderts führten Maschinen und der Ausbau von Transportnetzen zum Aufstieg der Großkonzerne. Der britische Ökonom Ronald Coase argumentierte 1937 in „The Nature of the Firm“, dass Unternehmen ihre Effizienz gerade daraus bezögen, Arbeit innerhalb der Organisation zu bündeln statt sie an den Markt auszulagern. Mit der Digitalisierung änderte sich das: Firmen konnten Produktion und Verwaltung in Billiglohnländer verlagern und Plattformen wie Google fürs Marketing oder Amazon Web Services fürs Rechnen nutzen.

Der Aufstieg der KI dürfte diesen Trend beschleunigen: Halbautonome Agenten aus dem Silicon Valley erlauben es Firmen, mit weniger Mitarbeitern die gleiche Arbeit zu leisten. Henrik Werdelin, Mitgründer von Audos, sagt, dass ihm schon der Aufstieg von Cloud Computing in den vergangenen 20 Jahren geholfen habe, mehrere neue Unternehmen mit kaum mehr als einem Wisch der Kreditkarte zu starten. KI sei die nächste Welle dieser „Demokratisierung“. „Man muss nicht programmieren, man muss kein Photoshop können, weil die KI dabei hilft.“ Das, so hofft er, wird eine Welle von Startups auslösen, gegründet von Leuten wie Gwilliam – ohne Technik-Hintergrund, aber mit dem Gespür für echte Probleme.

 

Ein weiterer Enthusiast ist Karim Lakhani von der Harvard Business School. Dort gibt es inzwischen einen Leadership-Kurs, in dem Führungskräfte mithilfe generativer KI in 90 Minuten ein Snack-Start-up entwickeln – inklusive Marktforschung, Rezeptentwicklung, Lieferantensuche und Verpackungsdesign.

In einer Studie ließ Lakhani 776 Fachkräfte von Procter & Gamble reale Geschäftsprobleme bearbeiten – teils allein, teils im Zweierteam, mit und ohne KI-Tools. Ergebnis: KI hob die Einzelleistungen auf das Niveau von Teams ohne KI. KI wirkte mehr wie ein „Teammitglied“ denn wie ein Werkzeug.

Da das Zeitalter des billigen Geldes vorbei ist, wollen Gründer Kosten sparen. Peter Walker vom Start-up-Dienstleister Carta sagt: Früher prahlten Gründer damit, wie viele Mitarbeiter sie hätten. „Heute ist es ein Ehrenabzeichen zu sagen: Schaut, wie wenige Leute für mich arbeiten.“ Carta-Daten zeigen: Die Zeit bis zur ersten Einstellung stieg von unter sechs Monaten (2022) auf über neun Monate (2024). Das KI-Coding-Start-up Base44 wurde kürzlich für 80 Millionen Dollar an die Webplattform Wix verkauft – mit gerade einmal acht Beschäftigten.

Noch steckt alles in den Anfängen. KI-Agenten sind weit davon entfernt, fehlerfrei zu sein. Im Juni testete das KI-Labor Anthropic sein Modell Claude Sonnet an einem Getränkeautomaten. Ziel: nicht pleitegehen. Der Bot konnte Lieferanten finden und auf Kundenwünsche reagieren – etwa die absurde Suche nach einem Wolframwürfel. Doch er übersah lukrative Chancen, halluzinierte, gewährte zu viele Rabatte und machte am Ende Verlust.

Auch andere Hürden stehen einer KI-getriebenen Gründungswelle im Weg. Trotz Internet, Social Media, SaaS und Cloud blieb die Zahl neuer Firmen in den USA bis zur Pandemie schwach – auch wegen der alternden Bevölkerung. Dieser demografische Druck wird eher zunehmen.

Zudem schafft KI neue Probleme. Annabelle Gawer von der University of Surrey weist darauf hin, dass die Technologie zwar Markteintrittsbarrieren senkt, es aber auch erleichtert, Ideen blitzschnell zu kopieren. Ohne spezifisches Fachwissen wird es für Gründer schwer, einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil aufzubauen.

Hinzu kommt: Die großen Tech-Konzerne dominieren die Bereitstellung von KI-Tools. Ob OpenAI (gestützt von Microsoft), Anthropic (mit Amazon und Google) oder andere – sie kontrollieren die Infrastruktur, ähnlich wie schon beim Cloud-Boom der 2010er-Jahre. Zwar erleichtert das den Start-ups das Leben, doch macht es sie auch abhängig. Die Gewinne der drei Großen machten im vergangenen Jahr bereits 7 % des gesamten US-Gewinns aus – vor zehn Jahren waren es noch 2 %.

Und natürlich könnten die Tech-Riesen die besten Ideen der Kleinen einfach übernehmen. Gwilliam von Solace nimmt es gelassen. Was sie „First-Mover-Nachteil“ nennt, könne zwar lästig sein, aber auch ihre Idee bestätigen. „Vielleicht kommen sie und sagen: Wir wollen Solace. Dann sage ich: Super, verkauft!“ Ganz die typische Unternehmerin eben.

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Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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