Beitrag teilen

Link in die Zwischenablage kopieren

Link kopieren
Suchfunktion schließen
Energie & Rohstoffe > Energiemarkt-Reform

Kohle als Preisinstrument: Risiken und Chancen für Deutschlands Strommarkt

Union und SPD planen Einsatz von Reservekraftwerken zur Strompreissenkung – Experten warnen vor Marktverzerrungen und Investitionsrisiken.

(Foto: shutterstock)

Die geplante Koalition aus Union und SPD will den deutschen Strommarkt grundlegend verändern. In ihrem Sondierungspapier kündigen die Parteien an, künftig Kohlekraftwerke aus der Reserve nicht nur bei Versorgungsengpässen, sondern auch zur Stabilisierung der Strompreise einzusetzen. Ziel ist es, den Industriestrompreis "um mindestens fünf Cent je Kilowattstunde" zu senken.

Kohlekraftwerke als Preisdrücker: Das Konzept

Der Plan basiert auf dem Merit-Order-Prinzip des Strommarktes: Der Preis wird durch das teuerste Kraftwerk bestimmt, das zur Deckung der Nachfrage benötigt wird. Derzeit sind Kohlekraftwerke billiger als Gaskraftwerke. Helen Senior, Expertin für den europäischen Strommarkt bei der Preisagentur Argus Media, bestätigt: "Der Betrieb von Steinkohlekraftwerken mit Standardwirkungsgrad ist seit Anfang 2025 im Durchschnitt um 17,42 Euro pro Megawattstunde günstiger als der Betrieb von Gaskraftwerken".

Durch die Rückkehr von Kohlekraftwerken aus der Reserve in den regulären Markt sollen teure Gaskraftwerke verdrängt und dadurch die Strompreise gesenkt werden. Deutschland hatte allein im vergangenen Jahr Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von 8,5 Gigawatt stillgelegt und teilweise in die Netzreserve überführt.

Besonders bei Preissprüngen im Winter, wenn wenig Solar- und Windstrom verfügbar ist, könnten die Reservekraftwerke einspringen. Im Winter 2024 stiegen die Strompreise zeitweise auf bis zu 1000 Euro pro Megawattstunde – deutlich über dem Normalbereich von 50 bis 100 Euro.

Kritik von Energiekonzernen und Experten

Der Plan stößt jedoch auf erheblichen Widerstand. Energiekonzerne wie E.ON und RWE warnen vor Marktverzerrungen und negativen Auswirkungen auf Investitionen in moderne Technologien. E.ON befürchtet "unvorhersehbare Wettbewerbs- und Marktverzerrungen, die schädlich für die Strompreisbildung sind."

RWE bezeichnet die geplante Rückkehr alter Kraftwerke aus der Reserve als "Irrweg", der den Strompreis nicht senken, sondern Batterien und Spitzenlastkraftwerke aus dem Markt drängen werde. Diese Anlagen rechnen sich vor allem bei hohen Strompreisen – fallen diese weg, schwindet der Anreiz für Investitionen in Batteriespeicher oder moderne Kraftwerke.

Daniel Wragge von der Energiebörse EEX warnt: "Eine Marktteilnahme von Reservekraftwerken bringt kaum Vorteile, aber einen massiven Vertrauensverlust bei Investoren. Verfälschte Preissignale gefährden Investitionen in neue Kapazitäten und treiben langfristig die Kosten."

Auch der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) gibt zu bedenken, dass im Jahr 2024 die Strompreise nur an 15 von 8784 Stunden des Jahres bei mehr als 500 Euro lagen – also äußerst selten. BDEW-Präsident Stefan Dohler sieht darin einen Beleg dafür, dass der Strommarkt funktioniert.

Auswirkungen auf geplante Gaskraftwerke

Ein weiteres Problem: Die Kritiker befürchten, dass sich der Bau neuer Gaskraftwerke verzögern könnte. Diese werden dringend benötigt, weil durch den Kohleausstieg immer mehr Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. Gaskraftwerke können schnell hoch- und heruntergefahren werden und so die schwankende Stromerzeugung erneuerbarer Energien ausgleichen. Zudem verursachen sie weniger CO₂ als Kohlekraftwerke.

Ein Sprecher des Kraftwerksbetreibers Uniper warnt: "Deutschland braucht jetzt zuallererst eine Entscheidung für den dringend benötigten Investitionsrahmen zum Bau von effizienten Gaskraftwerken." Durch den angedachten Einsatz alter Reservekraftwerke im Markt bestehe das Risiko eines EU-Rechtsverfahrens, das alles noch komplizierter machen würde.

Christoph Maurer vom Beratungsunternehmen Consentec befürchtet, eine Rückkehr der alten Kraftwerke in den Markt "würde das Vertrauen in die Rahmenbedingungen erodieren lassen und zukünftige Investitionen verteuern".

Befürworter sehen kurzfristige Entlastung

Steag-Iqony-Chef Andreas Reichel verteidigt dagegen den Plan. Er betont, dass sein Unternehmen selbst auch Stromspeicher baut und sagt: "Preisspitzen, wie sie die Netzreserve-Kraftwerke künftig abdämpfen sollen, spielen im Geschäftsmodell von Batteriespeichern nicht die entscheidende Rolle." Zudem sei die Marktrückkehr der Reservekraftwerke nur als Übergangslösung gedacht, bis neue Gaskraftwerke in Betrieb gehen.

Auch Helen Senior von Argus Media sieht kurzfristige Vorteile: "Diese Kraftwerke wieder auf den Markt zu bringen, könnte kurzfristig Wirkung zeigen." Allerdings werde der Preisvorteil von Jahr zu Jahr kleiner, weil die Kosten für CO2-Emissionszertifikate bei Strom aus Kohle stärker zu Buche schlagen als bei Gas.

Faktenbox: Strommarkt und Energiemix in Deutschland

Die Stromgewinnung aus erneuerbaren Energien nimmt weltweit zu, während fossile Energieträger weiterhin dominieren. Ein Blick auf die aktuelle Situation zeigt die Herausforderungen der Energiewende.

Der Anteil der Solarenergie an der weltweiten Stromerzeugung stieg von 5,6 Prozent im Jahr 2023 auf 6,9 Prozent im Jahr 2024. Die Stromerzeugung durch Sonne hat sich in nur drei Jahren verdoppelt und betrug 2024 weltweit mehr als 2.100 Terawattstunden.

Windkraft legte ebenfalls zu und erreichte einen Anteil von 8,1 Prozent an der globalen Stromerzeugung. Wasserkraft bleibt mit 14,3 Prozent die größte einzelne erneuerbare Quelle.

Den größten Anteil an der Stromerzeugung hatte 2024 weiterhin Kohle mit 34,4 Prozent, gefolgt von Erdgas mit 22 Prozent.

Atomkraft trug 9 Prozent bei, andere fossile Energieträger 2,8 Prozent.

Fazit

Die geplante Rückkehr von Kohlekraftwerken aus der Reserve in den Strommarkt könnte kurzfristig zu Preissenkungen führen, birgt jedoch erhebliche Risiken für die langfristige Transformation des Energiesystems. Während energieintensive Unternehmen von niedrigeren Strompreisen profitieren könnten, drohen Investitionen in moderne Technologien wie Batteriespeicher und Gaskraftwerke ausgebremst zu werden. 

Die Erfahrungen aus Österreich zeigen alternative Wege: Dort investieren Unternehmen wie Verbund AG in den Ausbau von Pumpspeichern, um die wachsende Volatilität der Stromerzeugung auszugleichen. 

Für den deutschen Mittelstand bedeutet die Situation vor allem eines: Planungsunsicherheit. Unternehmen, die auf stabile Rahmenbedingungen für ihre Energieversorgung angewiesen sind, müssen sich auf wechselnde politische Prioritäten einstellen. Die Herausforderung liegt darin, kurzfristige Preisvorteile gegen langfristige Investitionssicherheit abzuwägen – ein Balanceakt, der weit über die aktuelle Debatte um Reservekraftwerke hinausreicht.

Die Geschichte der Strompreisregulierung – von den Anfängen bis zur Gegenwart

Die Debatte um staatliche Eingriffe in den Strommarkt ist kein neues Phänomen:

  • Seit der Liberalisierung des deutschen Strommarktes Ende der 1990er Jahre schwankt die Politik zwischen Marktmechanismen und regulierenden Eingriffen.
  • In den 1950er bis 1980er Jahren war der deutsche Strommarkt durch regionale Monopole gekennzeichnet. Die Preisbildung erfolgte nicht über Marktmechanismen, sondern durch staatlich kontrollierte Tarife. Mit der Liberalisierung sollte der Wettbewerb die Preise senken und Innovationen fördern.
  • Die Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Jahr 2000 markierte dann einen entscheidenden Wendepunkt. Der Staat griff wieder stärker in den Markt ein, um den Ausbau erneuerbarer Energien zu fördern. Die garantierten Einspeisevergütungen für Solar- und Windstrom veränderten die Preisbildung am Strommarkt grundlegend.
  • Die Energiekrise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 führte zu massiven Preissprüngen und erneuten staatlichen Interventionen – von Preisbremsen bis zur Verlängerung von Kraftwerkslaufzeiten. Der nun geplante Einsatz von Reservekraftwerken zur Preissteuerung reiht sich in diese Geschichte staatlicher Eingriffe ein.

Historisch betrachtet zeigt sich: 

Phasen der Liberalisierung wechseln sich mit Phasen verstärkter Regulierung ab. Dabei reagiert die Politik meist auf Krisen oder Marktversagen. Die Herausforderung besteht darin, kurzfristige Preisdämpfung mit langfristigen Investitionsanreizen in Einklang zu bringen – eine Balance, die in der Vergangenheit selten dauerhaft gelungen ist.

Ähnliche Artikel