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Technologie > Lieferengpässe

Lange Gesichter unterm Weihnachtsbaum

Der gewohnte Last-Minute-Einkauf kurz vor Weihnachten droht in diesem Jahr zum Fiasko zu werden. Bei beliebten Geschenken wie Unterhaltungselektronik oder Deko gibt es wegen Lieferproblemen einen nie gekannten Engpass. Wer also nicht rechtzeitig kauft, kann beim Geschenke aussuchen vor leeren Regalen stehen.

Halbleiter und weitere Vorprodukte sind schon seit Monaten Mangelware. Und was hergestellt wurde kommt nicht an, weil die weltweite Seelogistik die Container nicht schnell genug ans Ziel bringen kann. Die Autoindustrie ist deshalb schon seit Monaten ausgebremst, weil die Chips für die vielen elektronischen Helferlein nicht zu bekommen sind. Aber auch die Lieferzeiten für Haushaltsgeräte ziehen sich kaugummiartig in die Länge. "Unter manchem Baum könnte der Platz in diesem Jahr leer bleiben, falls jemand erst am letzten Adventssamstag nach begehrten Geschenken sucht", erklärt Gerhard Wolf, leitender Analyst des Corporate Research der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW).

"Insbesondere im Bereich der Unterhaltungs-Elektronik besteht aufgrund des Chipmangels eine erhebliche Knappheit", so Wolf. Das dürfte das Weihnachtsgeschäft vor allem bei Handys, Konsolen und Smartwatches beeinträchtigen. "Wir gehen davon aus, dass einige Gaming-Produkte im Weihnachtsgeschäft daher nur schwer zu bekommen sind", bestätigt Felix Falk. Geschäftsführer von Game, dem Verband der deutschen Videospielbranche. Über Lieferprobleme klagt auch die Fahrradindustrie betroffen. "Wer ganz genau weiß, was es sein soll, und bei Farbe, Ausstattung, Einzelteilen sehr festgelegt ist, kann Pech haben und lange warten müssen", warnt Burkhard Stork, Geschäftsführer des Zweirad-Industrie-Verband (ZIV), gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Wer flexibler sei, komme schneller zu einem neuen Rad - ob mit oder ohne elektronische Unterstützung. Sein Tipp für Weihnachten: "Jetzt was Schönes kaufen, was im Laden steht oder lieferbar ist."

Wolfgang Weber, Vorsitzender der Geschäftsführung des Zentralverbandes Elektrotechnik- und Elektroindustrie (ZVEI) zeichnet ein differenziertes Bild. Vier von fünf Kunden hätten beim Kauf eines TV-Geräts keine Lieferverzögerungen beklagt. Probleme könne es dagegen bei Haushaltsgroßgeräten geben. Dazu zählen beispielsweise Kühlschränke oder Waschmaschinen. "Bei Elektro-Haushaltsgroßgeräten kann derzeit nicht jeder Kunde damit rechnen, sein Wunschgerät wie gewohnt gleich mitnehmen zu können oder innerhalb der gewohnt kurzen Frist geliefert zu bekommen", warnte Weber. Für die LBBW-Analysten bleibt auch unsicher, wie schnell andere Anbieter, beispielsweise im Textilbereich, angesichts der steigenden Nachfrage hinterherkommen. Der Einzelhandel versuche zwar, mitverstärkten Vorbestellungen Lieferengpässe an Weihnachten zu vermeiden. Die Konsumenten brauchen aber Geduld und Flexibilität und sollten vorausschauend einkaufen, raten die Analysten der Bank.

Noch im Sommer herrschte allgemeiner Optimismus. Nach dem pandemiebedingten Stillstand sollte es rasch zu einer wirtschaftlichen Erholung kommen, die sogar viele Jahre andauern sollte. Und tatsächlich sind die Auftragsbücher im Auto- und Maschinenbau voll. Nur liefern können die Unternehmen nicht, weil beispielsweise die entscheidenden elektronischen Bauteile fehlen. Analyst Wolf beobachtet einen sogenannten Peitscheneffekt: "Die Nachfrage steigt um zehn Prozent, der Einzelhändler bestellt 25 Prozent mehr beim Großhändler und der beim Hersteller 50 Prozent mehr." Dies werde dadurch verstärkt, dass jeder versuche so viel wie möglich von der fehlenden Ware zu bekommen. Das ist mit den Hamsterkäufen der Verbraucher vergleichbar", erklärt Wolf.

Knapp sind Elektronikbauteile, Stahl und Kunststoff. Drei von vier Unternehmen sehen Ihre Abläufe aufgrund von Materialmangel beeinträchtigt. Bereits seit mehreren Monaten sinkt in allen Branchen die Produktion trotz voller Auftragsbücher stetig, weil wichtige Rohstoffe oder Bauteile zu spät kommen oder nicht erhältlich sind. Auch weniger hochtechnisierte Produkte sind nur eingeschränkt erhältlich. Die meisten Blicke richten sich auf die Hersteller von Halbleiter. Die sind mit dem Ansturm völlig überfordert. Das Problem: Die Fertigung lässt sich nicht "über Nacht" steigern. Die winzigen Bauteile durchlaufen wochenlange komplexe Produktionsstufen, bevor sie ausgeliefert werden.

Verschärft wurde die Lage durch einen Brand beim japanischen Chip-Hersteller Renesas, ein Hauptlieferant der Autoindustrie. Während dort die Produktion wieder läuft verschrecken neue Horrormeldungen aus China die Weltwirtschaft. Dort kommt es immer wieder zu Stromausfällen. In der Halbleiterindustrie kann dies aber bedeuten, dass die wochenlange Arbeit an einem Chip umsonst war und der Prozess wieder von vorn beginnen muss. So wird Apple beispielsweise mit 15 Prozent weniger Chips für das neue iPad Pro aus China beliefert, als eigentlich benötigt.

Eine schnelle Entspannung bei der Nachfrage nach Halbleitern sehen die Analysten der LBBW nicht. Sie verweisen darauf, dass zwischen Investitionsentscheidung und Fertigstellung einer Fabrik fünf Jahre vergehen und rund zehn Milliarden Euro nötig sind. In einer bestehenden Anlage dauert es nach Angaben von Infineon immer noch 18 Monate, bis die Kapazität erweitert ist. Entsprechend sind die Lieferzeiten sind aktuell von zehn auf 25 und sogar 36 Wochen hochgeschnellt. Oft reist der Chip für ein Smartphone sogar um die ganze Welt, bis aus einer Siliziumscheibe viele einsatzfertige Microchips geworden sind. Immer mehr Branchen wie Unterhaltungsindustrie oder Auto- und Maschinenbau gieren nach immer mehr Chips. Damit bleibt die Nachfrage hoch. Die Experten der LBBW erwarten, dass "frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2022" mit einer Besserung der Versorgungslage zu rechnen ist.

Selbst wenn die Waren fertig sind, heißt das noch lange nicht, dass sie auch beim Konsumenten ankommen. In vielen chinesischen Häfen stauen sich volle Container, weil die Regierung coronabedingt Personal abgezogen hat oder die Inlandsversorgung bevorzugt. Der blockierte Suezkanal in diesem Sommer, hat einen Rückstau auf der wichtigsten Seeroute der Welt verursacht. Dabei können die Reedereien gar nicht so viele Container heranschaffen, wie die Weltwirtschaft derzeit braucht. So haben sich die Preise für einen dieser Behälter vervierfacht. Somit stecken viele Waren aus Asien und Amerika, von der Weihnachtsbeleuchtung, Kerzen, Textilien, Baumschmuck oder Engel im Logistikstau. Manchmal fehlt es auf dem Weg zum Kunden selbst hierzulande schon an Kleinigkeiten, zitiert die LBBW-Studie einen Bericht aus der Logistikindustrie. Demnach seien selbst Plastikeimer oder das das Holz für Paletten sowie Plastikfolien für die Verpackungen knapp.

Noch halten sich die Auswirkungen für die Gesamtkonjunktur in Grenzen, aber das LBBW Research hat bereits seine Prognose für das Bruttoinlandsprodukt 2021 von zuletzt 3,2 auf 2,8 Prozent angepasst. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) schraubte seine Erwartung von 3,9 auf 2,6 Prozent nach unten. "Zulieferengpässe sind mittlerweile das größte Wachstums- und damit Ertragsrisiko für die Industrie", so Wolf. Bereits absehbar sei aber, dass die Unternehmen langfristig eine Regionalisierung ihrer Lieferbeziehungen nicht mehr vermeiden könnten.

Der Analyst sieht vor allem den Mittelstand betroffen: "Da diese Unternehmen eher kleinere Mengen bestellen, ist es wahrscheinlich, dass Großabnehmer bevorzugt werden." Ohne Material können sie keine Aufträge ausführen, mit deren Bezahlung sie Löhne und Abgaben begleichen. "Ihnen droht schlimmstenfalls trotz voller Bücher die Insolvenz."

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