Wie die Sexindustrie die digitale Welt revolutioniert
„Sex sells“ klingt wie eine Marketingweisheit längst vergangener Zeiten. Doch der Wunsch des Menschen nach Nähe befeuert seit Jahren die technologische Entwicklung.
Wer vorhersagen will, wohin sich Technologie entwickelt, sollte die Sexindustrie im Auge behalten. Zu diesem Ergebnis kommt der amerikanische KI-Experte Darrel M. West. In seinem Buch „The Future of Work: Robots, AI, and Automation“ beschreibt er den Wandel des Nutzerverhaltens von DVDs, Videos und Kabelfernsehen hin zu Chatrooms, Streaming und E-Commerce: Die Sexindustrie sei ein entscheidender Faktor bei der Veränderung der digitalen Landschaft gewesen. Die Nutzer ließen sich den immer einfacheren und direkten Zugriff auf virtuellen Sex einiges kosten und seien damit ein Treiber für technische Innovationen. Und sehr wahrscheinlich wird es bei künstlicher Intelligenz, vor allem sogenannter generativer KI, auch so sein.
In vielen Bereichen der digitalen Welt ist zu sehen, dass Sex „sells“. Da wäre zum Beispiel die US-Dating-App Grindr, die sich an Männer richtet, die andere Männer kennenlernen wollen. Der Hauptfokus der Nutzer liegt auf schnellem, meist unverbindlichem Sex. Grindr entstand 2009. 2023 hatte die App 13,5 Millionen Nutzer weltweit, im Juni 2024 betrug der Nettowert 1,78 Milliarden Dollar. 2012 kam das eher heterosexuell geprägte Pendant Tinder auf den Markt. Experten zufolge bewirkte der Erfolg des Portals, dass auch andere etablierte Plattformen einen größeren Fokus auf die Entwicklung eigener Apps und Mobilversionen ihrer Onlineauftritte legten.
Auch in der analogen Welt sind die klassischen Klischees von Treffen und Anbahnung oft wenig mehr als das: Klischees. Es gehört eine ordentliche Portion Mut dazu, in einer Bar spontan auf jemanden zuzugehen, ein Getränk zu spendieren und auch noch stotterfrei passgenaue flotte Sprüche parat zu haben, die das Gegenüber überzeugen. Das hat auch mit einem gesellschaftlichen Wandel zu tun, der eine neue Sensibilität entwickelt hat. Vieles von dem, was noch bis vor gefühlten zehn Jahren als unschuldiges Flirten verstanden wurde, empfindet gerade die junge Generation schnell als Belästigung.
Partywelt wandelt sich
Tatsächlich können viele Anbahnungsversuche bei jenen, die angesprochen werden, als störend, unflätig oder übergriffig ankommen. Und anders als noch bis vor zehn Jahren ist diese Wahrnehmung mittlerweile der entscheidende Faktor – und nicht mehr die behauptete Intention desjenigen, der flirten will. Oder der Rosenkavalier mag aus seiner Sicht nur Gutes im Sinn haben. Wenn nun aber die Frau an der Bar an diesem Abend bereits fünf Rosenkavaliere abgewimmelt hat und einfach ihre Ruhe haben möchte, wird sie dennoch und zu Recht gereizt reagieren.
Und weil das so ist, haben sich auch in der analogen Welt Nischen gebildet, in denen auch explizite Annäherungsversuche nicht nur geduldet, sondern Geschäftsmodell sind. Abseits vom herkömmlichen Rotlichtmilieu werden gerade in den Metropolen immer mehr sogenannte sexpositive Partys organisiert: eine Art Hybridveranstaltung aus Techno-Rave und Swingerparty. Zwar gibt es mit Etablissements wie dem Berliner Kit Kat Club schon seit 20 Jahren entsprechende Orte, allerdings waren diese eher einem eingeschworenen Stammpublikum vorenthalten und selten. Wer sich heute in der Partywelt der Städte umschaut, kann sich vor vergleichbaren Angeboten kaum retten.
Und weil mit der immer weiter wachsenden Zahl von Besuchern auch Ansprüche und Konkurrenz steigen, müssen sich die Veranstalter immer Neues ausdenken, um sich von der Masse abzuheben und den Gästen ein aufregendes, aber sicheres Erlebnis zu liefern. Das beginnt bei individuellen Hausregeln, welche die Nuancen des Abends bis ins Detail planen, bis hin zu einer Diversifizierung der verschiedenen Räume: Da gibt es dann eine Chill-Area für unbeschwertes Parlieren, einen Play-Room für Pärchen oder einen Darkroom für anonymen Sex. Und wegen der großen Popularität dieses Partyformats rüsten auch andere Partyreihen mit entsprechenden Angeboten auf. Auch hier ist Sex also ein Faktor, der die Kultur verändert.
Wer sich noch nicht so recht traut, in diese Welt zu stürzen, ist froh über Angebote, die im Schutz des eigenen Zimmers genutzt werden können. Der neue Chatbot von OpenAI, der US-Firma hinter ChatGPT, kann zum Beispiel singen, kichern, sich im Tonfall dem Gegenüber anpassen. Er wurde nach dem Vorbild des Kinofilmes „Her“ entwickelt. Darin verliebt sich ein Mann in eine künstliche Intelligenz, die die US-Schauspielerin Scarlett Johansson synchronisiert hat. Und weil auch eine Stimme des OpenAI-Chatbots verdächtig nach Johansson klang, sah sich Firmenchef Sam Altman gezwungen, die Stimme zu deaktivieren – und musste zudem zugeben, die Schauspielerin zuvor erfolglos für eine Zusammenarbeit kontaktiert zu haben.
Zwar bestreitet OpenAI weiterhin, ihre Stimme kopiert zu haben, doch genau das will Johansson nun mit einem Rechtsbeistand klären. Unabhängig vom Ausgang einer solchen Untersuchung, auch der neue Chatbot ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sich Unternehmen an dem Bedürfnis nach Liebe, Sex und Partnerschaft orientieren. Denn wie die zahlreichen Onlineportale für Pornografie und Dating nimmt auch OpenAI eine Kundschaft in den Blick, die sich entsprechende Dienste einiges kosten lassen.
All diese Beispiele deuten eine klare Tendenz an: „Sex sells“ begünstigt die Kreativität von Unternehmen. Und die sexuellen Ambitionen von Kunden können auch eigentlich harmlose Formate verändern. Die Londoner Plattform Onlyfans steht heute wie kaum eine zweite für privat organisierte Pornografie, hier können Nutzer ein Profil erstellen und ihre expliziten Inhalte zum Verkauf anbieten.
Was aus dem Bewusstsein verschwunden ist: Onlyfans hat nicht als Sex-Portal angefangen. Es war eine Webseite, auf der Fashion-Ikonen und Bands ihre Fans ansprechen konnten und diesen exklusive Inhalte boten. Weil es aber keine formalen Regeln für die Nutzung gab, entdeckte die Pornoszene Onlyfans und eroberte es quasi über Nacht. Vergleichbare Portale wie Patreon, die Sexualität verboten, hatten das Nachsehen – Patreon aus San Francisco hat mittlerweile nur noch ein Drittel der Nutzerzahlen von Onlyfans. Vor allem in der Pandemie, in der Einsamkeit bei vielen zur neuen Normalität wurde und sexuelle Freiheiten entsprechend eingeschränkt waren, erlebte Onlyfans einen Boom. Während dieser Zeit stieg die Zahl registrierter Nutzer von 20 Millionen auf 120 Millionen, heute sind es 240 Millionen.
Die dunkle Seite des Angebots
Aber es gib auch deutliche Kritik an dem Angebot. „Onlyfans ist eine englische Plattform, auf der Sie mehr Geld verdienen, je mehr sexuelle Inhalte Sie hochladen, und dieses Material kann später online auf Pornhub gefunden werden“, sagt etwa die spanische Schauspielerin und Frauenrechtlerin Mabel Lozano. „Viele Videos von Frauen provozieren Sextortion. Onlyfans verewigt Prostitution, Ungleichheit zwischen Männern und Frauen und absoluten männlichen Chauvinismus.“
Der KI- und Technologieexperte Darrell M. West weist in seinen Arbeiten auf die dunklen Seiten dieses Gebiets hin: Manche Webseiten würden etwa Menschenhandel und die sexuelle Ausbeutung Minderjähriger begünstigen. Dazu kämen missbräuchliches Verhalten, Revenge Porn (die unerlaubte Verbreitung sexueller Inhalte von Expartnern) oder auch, tiefer im Dark Web, der dunklen Seite des Internet, sexuelle Ausbeutung von Kindern.
Um dies zu bekämpfen, steuere die Politik gegen, sagt Experte West, Senior Fellow am Brookings Institute in Washington. Neue Gesetze sollen jene Plattformen zur Verantwortung ziehen, die ein solches Verhalten erlauben. „Mit diesem Wandel ebnet die Politik den Weg für künftige Einschränkungen digitaler Technologien“, sagt West. Als Beispiel nennt er den „Fight Online Sex Trafficking Act“ der USA von 2018. Er ermöglicht es Menschen, diejenigen zu verklagen, die wissentlich am Menschenhandel beteiligt sind.
Sex ist also klarer Motor für Neuheiten und gesellschaftliche Entwicklungen. Gerade die digitale Industrie sollte das nicht ignorieren. Nicht unbedingt, weil die eigene Kundschaft plötzlich nach entsprechenden Dienstleistungen verlangt, sondern weil sich Regeln, Sitten und Nutzerverhalten entlang dieser Trends entwickeln können. Dass es etwa ein komplexes System zur Altersbeschränkung bei Filmen gibt, ist eine Folge des Siegeszuges von Pornofilmen und anderen erotischen Inhalten, die auf VHS-Kassetten und ähnlichen Formaten verbreitet wurden. Die Einführung des FSK-Systems veränderte auch Produktionen, die mit Pornografie nichts zu tun haben. Wer solche Entwicklungen verschläft, wird im Wettbewerb der Ideen auch künftig das Nachsehen haben.