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Augmented Reality soll die Arbeit in Lager und Produktion erleichtern

Augmented Reality, Virtual Reality und Mixed Reality: Smarte Brillen sollen die Produktivität erhöhen – vor allem in Logistik und Fertigung. Wie weit ist der Mittelstand schon heute?

Jetzt wird Arbeit einfacher. Die Logistikmitarbeiter beim Werkzeughersteller Stahlwille in Cronenberg bei Wuppertal haben digitalen Beistand bekommen. Ihre Datenbrillen führen sie beim einstufigen Multiorder-Picking in sinnvoller Reihenfolge zu den Lagerplätzen. Zugleich sehen die Mitarbeiter ständig sämtliche Informationen des Auftrags. „Die Anzeige wird am Blickfeldrand eingeblendet, so dass Auftragsstatus und Umgebung gleichzeitig wahrgenommen werden“, sagt Dirk Franke, Geschäftsführer des Softwareherstellers für Datenbrillen Picavi.

Das neue Kommissioniersystem auf Basis von Augmented Reality (AR, auf Deutsch: „erweiterte Realität“) löst bei dem Unternehmen das bisherige Konzept von Terminals aus Vertikalkommissionierern und Handscannern ab. Nun sollen die 12.000 Werkzeuge, Ersatzteile und Geräte besser zu Lieferungen zusammengestellt, verpackt und versendet werden. Rund 15.000 Aktionen pro Tag führen die Mitarbeiter im Lager auf diese Weise aus. „Mit Pick-by-Vision lassen sich komplexe Logistikprozesse einfach darstellen, und die Datenbrillen sind in die bestehende Systemarchitektur integrierbar“, erläutert Andreas Putsch, Leiter Logistik bei Stahlwille.

Positiver Nebeneffekt: Fehler werden mit der Technologie weitgehend ausgeschlossen, weil durch Scan und Echtzeitverbindung zum Lagerverwaltungssystem (LVS) jeder Griff automatisch überprüft wird. Notfalls lassen sich Missgriffe manuell nachjustieren. Für jeden Vertikalkommissionierer steht eine der elf Datenbrillen zur Verfügung, deren Datentransfer über eine Schnittstelle zum LVS erfolgt. Durch die stets aktuellen Daten hat sich der Materialfluss verbessert.

Optimale Wegführung

Auch die Mitarbeiter nehmen die neue Methode positiv auf. „Die Bewegungsfreiheit und die einfache, an unsere Anforderungen angepasste Bedienung begeisterten die Kollegen schnell“, sagt Andreas Putsch. Die Brille zeigt dabei vor allem die optimale Reihenfolge und Platzierung von kleinen Ersatzteilen an und hilft beim Einordnen von großen Werkzeugen in die Verpackungseinheiten. Ganz nebenbei erhöht sich die Arbeitssicherheit, denn die Logistikmitarbeiter müssen die Informationen über einen Auftrag nicht mehr in Papierform nachschlagen, sondern haben ihre Umgebung, vorbeifahrende Gabelstapler und gleichzeitig alles Wissenswerte über ihre Aufträge vor Augen.

Auch für schwer erreichbare Barcodes auf Waren, die in Bodennähe angebracht sind, haben sich die Logistikexperten von Picavi etwas einfallen lassen. In solchen Fällen kommen Handscanner zum Einsatz, die ihre Informationen per Bluetooth an die Datenbrille weitergeben. Ein weiterer Vorteil: Die heute häufig verwendeten Data-Matrix-Codes lassen sich deutlich besser auslesen als traditionelle Strichcodes. Da kann schon mal ein Drittel der Informationen fehlerhaft oder verdeckt sein, der Artikel lässt sich dennoch eindeutig identifizieren – dank der eingebauten Technologie direkt über die Datenbrille.

Eingebaut in smarte Brillen

All dies ließ sich ohne große Anpassung oder Eingriffe in die IT-Infrastruktur an der Wuppertaler Hauptverwaltung von Stahlwille bewältigen, wie Dirk Franke betont. Das Auftragsvolumen bei Stahlwille wächst, kann aber mit denselben räumlichen und personellen Kapazitäten gestemmt werden, da die Produktivität in den Pick-Prozessen höher ist. Besonders wichtig dabei ist neben den verbesserten Arbeitsabläufen für die Mitarbeiter die Verbindung zwischen Kommissioniertechnologie und LVS. Ebenso verbessert haben sich die Abläufe sowie das Kennzeichnen und Kommissionieren von kundenspezifischen Artikeln und Anbruchmengen. Die Datenbrille sendet die Informationen für den Etikettendruck über das Firmen-WLAN in den Drucker beim Vertikalkommissionierer.

Doch nicht nur die Abläufe im Lager sollen sich verbessern, sondern auch in der Fertigung, bei der Wartung, der Produktentwicklung und bei der Präsentation von Waren und Dienstleistungen. Für die unterschiedlichen Einsatzbereiche kommen verschiedene AR-Technologien zum Einsatz – meist eingebaut in smarte Brillen.

Assisted Reality

Experten und Industrie erwarten einen Boom der AR-Branche. Eine Studie der Deutschen Bank zum Beispiel prognostiziert für 2020 einen Gesamtumsatz von 7,5 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum, so stellen Deloitte und das Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik (FIT) in einer Studie fest, dürften allein in Deutschland Unternehmen etwa 850 Millionen Euro für Systeme der virtuellen Realität (VR) ausgeben. „Das ist eine lohnende Investition mit schnellem Return on Investment – gerade dort, wo die nachgebildete Umgebung sehr teuer, schwer verfügbar oder gefährlich ist“, sagt Hubert Weid, Geschäftsführer des App-Anbieters Mobivention. Doch nach seiner Beobachtung zeigen sich die Verantwortlichen für IT und Management „noch zögerlich“. Der Business-Einsatz von VR sei oft „Neuland, und das technologische Potential zu wenig bekannt“.

Kein Wunder, wird doch VR nur allzu häufig mit Onlinespielen in Verbindung gebracht, in denen mit Datenbrillen armierte Personen scheinbar sinnlos vor sich hin gestikulieren. Solche Anwendungen können allerdings auch für Messeauftritte, die Präsentation von Waren oder Imagefilme dienen. Auch in der beruflichen Weiterbildung oder in der Produktentwicklung sind solche Systeme zu finden. Sie schotten allerdings das Blickfeld des Anwenders ab und versetzen ihn komplett in eine virtuelle Umgebung.Technisch anders ausgelegt dagegen sind die Datensichtgeräte für Augmented Reality, die im Bereich Logistik und Wartung eingesetzten Smart Glasses sind Teil einer Assisted-Reality-Lösung. Dabei agiert der Anwender in seiner natürlichen Arbeitsumgebung, wird aber mit zusätzlichen virtuellen Informationen auf dem Brillenglas in seiner Tätigkeit unterstützt. Wichtig dabei ist, dass das Gewicht der virtuellen Sehhilfe bei einem Arbeitstag von acht bis zehn Stunden im Lager möglichst wenig belastet, wie Dirk Franke betont. Je nach Hersteller wiegt das Hightech-Gestell ab 42 Gramm einschließlich Display.

Unterschiedliche Anforderungen

Auch beim Einsatz von AR-/VR-Brillen in der Wartung von Maschinen kommt es auf die Akzeptanz durch die Mitarbeiter an, wobei hier die Anforderungen etwas anders sind. Zwar werden die Brillen im Servicefall nur stundenweise aktiviert, dafür muss aber die Anzeige weit anspruchsvoller sein als in der Logistik. In der Wartung und Fertigung hingegen sind komplexe Baupläne oder Werkzeuge in 3-D-Darstellung gefragt. Das verlangt nach aufwendiger Technik, die von einer Mixed-Reality-Brille erfüllt werden – zum Beispiel von der weitverbreiteten, rund 5.000 Euro teuren Hololens von Microsoft. Auf ihr erhält der Mitarbeiter zum Beispiel Hinweise, wohin er seine Aufmerksamkeit richten soll. „In unseren Werken haben wir bereits solche Remote-Einsätze“, sagt Patrick-Benjamin Bök, Vice President Global Factory Digitalisation bei der Weidmüller Gruppe.

Wenn kein WLAN oder Funkempfang möglich ist, etwa bei Servicearbeiten in einem Aufzugsschacht, wissen sich die Wartungstechniker zu helfen. „Hier muss das Handy als mobiler Access Point genommen werden. Die Daten kommen eben aus dem Smartphone, das sich in der Nähe der Brille befindet“, sagt Bök. Doch bis der Servicetechniker an seinem Einsatzort beim Kunden ankomme, „läuft er ja mit einer Kamera durch die Produktion“. Damit nicht der Eindruck von Industriespionage entstehe, müsse deutlich sein, dass die Kamera abgeschaltet ist.

Mixed-Reality-Brillen für den professionellen Einsatz im Lager und in der Produktion

  • Smart Glasses erweitern mit Informationen zum Kontext der Umgebung das Sichtfeld des Anwenders. Diese Brillen werden bereits von Unternehmen im Lager oder für die Wartung verwendet.
  • Next Generation AR: Holografische Abbildungen legen sich über die realen Darstellungen und führen so die virtuelle und die reale Welt zusammen.
  • Full-Feature-VR-Brillen liefern vollwertige virtuelle Welten aus dem PC. Sie eignen sich etwa für Produktpräsentationen oder Visualisierungen von Produktentwicklungen.
  • Mobile VR-Brillen sind mit einem Smartphone verbunden, aus dessen Display die virtuellen Darstellungen entnommen werden. Dafür gibt es spezielle Apps.

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Der Text gehört zu einem Thema aus der Markt-und-Mittelstand-Ausgabe 11/2017. Hier können Sie das Heft bestellen und „Markt und Mittelstand“ abonnieren.

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