Wasserstoff als Jobretter? Industrie und Stadtwerke drängen auf Tempo
Thüga treibt Wasserstoff in Deutschland voran – doch Regulierung und Kosten bremsen. Was sich Betriebe wünschen.
Wasserstoff hat das Zeug, in einigen Industrien Tausende Arbeitsplätze zu retten. Woran es beim Hochlauf in Deutschland hakt und was sich betroffene Betriebe wünschen.
6.10.2025 von Thorsten Giersch für Markt und Mittelstand
Im Kino haben Superhelden in der Regel Kostüme und Umhänge an. Im Wirtschaftsleben sind sie bisweilen unsichtbar. Zumindest gilt das für Wasserstoff. Als sich Anfang September im Ruhrgebiet die wichtigsten Wirtschaftsverbände des Ruhrgebietes in Duisburg zum „Wasserstoffgipfel“ trafen, war vor allem die Hoffnung der Stahlindustrie groß. Weg von der Kohle, hin zum grünen Wasserstoff. Doch der Markt dafür ist träge. Acht bis zehn Euro je Kilogramm kostet der Energieträger, rund dreimal so viel wie konventionelles Erdgas.
Es droht ein Warten auf Godot: Die Bagger für ein Wasserstoffkernnetz stehen bereit und könnten loslegen. Aber viele Unternehmen tun sich schwer, verbindliche Abnahmeverträge zu unterschreiben. Vielleicht ist es Zufall, dass Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) ihren Auftritt in Duisburg absagen musste. Vielleicht kann man mit dem Thema Wasserstoff derzeit aber auch schlichtweg nicht viel gewinnen.
Wobei die Berliner Politik gar nicht das große Problem darstellt: Geld genug ist für den Wasserstoff-Hochlauf da. Zweistellige Milliardenbeträge wurden entweder fest verplant oder schon ausgezahlt – auch für den Ausbau des Wasserstoffkernnetzes. Vor allem die Stahlbranche wird gefördert. Zudem hat die schwarz-rote Bundesregierung gleich zum Start das Wasserstoff-Beschleunigungsgesetz auf den Weg gebracht. Wie der Name vermuten lässt, sollen Wasserstoffprojekte künftig deutlich schneller geplant und genehmigt werden.
Die EU-Regulierung ist aber so unpraktikabel, dass sie Firmen abschreckt. Um „grün“ zu sein, muss Wasserstoff nicht nur mit Strom aus erneuerbaren Quellen hergestellt sein, sondern auch aus Anlagen stammen, die neu errichtet wurden. Zudem muss die Wasserstoffelektrolyse zeitlich eng mit der Stromerzeugung aus den Erneuerbaren-Anlagen zusammenhängen. Allem Anschein nach scheint in Brüssel immer die Sonne und der Wind weht auch immer dann, wenn man ihn braucht. Investoren weisen seit langem darauf hin, wie unmöglich der Passus ist. Es wird aber nicht besser, sondern schlechter. Denn für blauen Wasserstoff, der auf Erdgasbasis hergestellt wird, plant die EU-Kommission gerade ähnlich schwierige Regularien. Das steht im argen Widerspruch zum Vorhaben der deutschen Regierung, Wasserstoff eine Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung zuzuschreiben – vor allem in den Branchen, in denen eine direkte Elektrifizierung nicht möglich ist, wie etwa in der Stahl- und Chemieindustrie.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir jetzt eine klare Agenda haben, um Wachstum und Klimaschutz zu vereinen und dies bei all den aktuellen sicherheitspolitischen Fragen nicht vernachlässigen.
Veronika Grimm ist Professorin für Energiesysteme und Marktdesign, Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung – auch „Wirtschaftsweise“ genannt – und Beraterin von Bundeswirtschaftsministerin Reiche.
Wer die Betriebe fragt, was sie für den Wasserstoffhochlauf brauchen, kriegt komplexe Antworten: Katharina Eisl, Geschäftsführerin des Stahlwerks Annahütte, und Jörg Falkenberg, Standortleiter bei Evonik in Rheinfelden, sind zwei Unternehmensvertreter, die künftig auf grünen Wasserstoff zur Dekarbonisierung setzen wollen. Der Druck, klimaneutral zu werden, ist groß, ebenso wie die wirtschaftlichen Risiken. Denn ein Stahlwerk muss steigende Kosten an seine Kunden weitergeben. Nur wer kauft am Ende die teureren grünen Produkte? „Die Frage bei den Produktionskosten ist: Bleibe ich wettbewerbsfähig für meine Produkte?“, beschreibt Eisl vom Stahlwerk Annahütte die Lage. „Und ist die Versorgung mit grünem Strom in unserer Region da, um auch wirklich grünen Wasserstoff erzeugen zu können?“
Für Falkenberg ist die aktuelle Herausforderung, „dass die Förderkulisse noch so unklar ist, dass die Akteure im Moment keine gute Wirtschaftlichkeitsrechnung für ihre Investitionsentscheidung abbilden können.“ Der Evonik-Manager zieht den Vergleich mit einem Schwesterprojekt in den Niederlanden, das er auch gerne so an seinem Standort in Rheinfelden realisieren würde. „In den Niederlanden sieht die Situation viel besser aus. Da haben wir einen Partner gefunden, um einen Elektrolyseur zu bauen. Mit der dortigen Förderkulisse liegen die Wasserstoffpreise pro Kilogramm auf einem Niveau, bei dem wir sagen: Das können wir gut darstellen, das kriegen wir auch gut verkauft.“
Und nun kommen die kommunalen Energieversorger und Stadtwerke ins Spiel. Niemand kennt die Gegebenheiten, Energiebedarfe, Potenziale und auch Kundenbedürfnisse vor Ort so gut, wie sie. Im Idealfall könnten Stadtwerke selbst in die Produktion von grünem Wasserstoff einsteigen und so eine regionale Wertschöpfungskette aufbauen. Wichtig dabei: „Kein Ökosystem ohne Abnehmer – idealerweise mit konstantem Bedarf und langfristigem Planungshorizont“, sagt Béatrice Angleys, Leiterin der Thüga-H2-Plattform. „Es braucht nun dringend ein abgestimmtes Vorgehen von Energieversorgern und den Unternehmen vor Ort. Mit konkreten Umsetzungsprojekten.“
Erste Leitung verlegt
Wie dies gelingen kann, erläutern Julie Bürkle-Weiss, Geschäftsführerin Technik von Badenova-Netze, und Marcus Böske, Sprecher der Geschäftsführung von Energie Südbayern. Beide Unternehmen treiben den Wasserstoffhochlauf in ihrer Region mit Nachdruck voran.
Mit dem Bau einer Wasserstoffleitung am Hochrhein beteiligt sich die Badenova-Gruppe durch ihre Tochtergesellschaft Badenova-Netze als eines der ersten Unternehmen aktiv am Aufbau des nationalen Wasserstoffkernnetzes. Die 58 Kilometer lange Leitung soll künftig besonders die energieintensive Industrie entlang des Hochrheins mit grünem Wasserstoff versorgen. Dieser kann sowohl aus lokaler Erzeugung als auch aus überregionaler Einspeisung stammen. Die Inbetriebnahme des Gesamtprojekts ist bis 2030 vorgesehen.
Bürkle-Weiss sagt: „Mit der Genehmigung des Kernnetzes und dem frühen Baustart nimmt der Wasserstoffhochlauf im Südwesten deutlich früher Fahrt auf als ursprünglich erwartet. Das schafft Planungssicherheit für Industrie und Kommunen und stärkt die langfristige Standortattraktivität am Hochrhein.“ Sie fügt hinzu: „Wir brauchen Planungssicherheit, also einen klaren Rahmen, und zwar nicht nur bei den Fernleitungsnetzbetreibern, sondern auch bei den Verteilnetzbetreibern.“ Sie betont den Unterschied, weil es offenbar Nachholbedarf bei der Politik gibt. Die einen Netze transportieren das Gas quer durch die Republik, die anderen sorgen dafür, dass es auch bei den Kunden ankommt. Beides muss verknüpft sein. Bisher hakt es da.
Die großen Erdgas-Kunden von Energie Südbayern sind im Durchschnitt mehr als 16 Kilometer vom H2-Kernnetz entfernt. Es sei daher wichtig, das Kernnetz in die Verteilnetze hinein fortzusetzen, sagt Chef Böske. Gleichzeitig müsse dezentral Erzeugung vor Ort aufgebaut werden. Er formuliert drei Wünsche für den Wasserstoffhochlauf: „Zum einen das Wissen darum, dass man ein Erdgasnetz in ein Wasserstoffnetz transformieren kann, dass man es nicht neu bauen muss.“ Dies müsse sich auch in den Gesetzen und Verordnungen widerspiegeln.
Zum anderen nennt er im Rahmen der Grüngasquote eine verpflichtende Beimischung von dekarbonisierten Gasen zu den Erdgasprodukten. „In der Anfangsphase ist das eine gute Möglichkeit, die Absatzseite zu stimulieren.“ Und drittens die bilanzielle Belieferung von Kunden am Ende eines Netzes. „Also solche Kunden, die heute schon Wasserstoff brauchen, obwohl das netztechnisch erst in ein paar Jahren möglich ist. Diese Kunden müssen auch heute schon in der Lage sein, Wasserstoff bilanziell zugeordnet zu bekommen“, sagt Böske.
Veronika Grimm ist Professorin für Energiesysteme und Marktdesign, Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung – auch „Wirtschaftsweise“ genannt – und Beraterin von Bundeswirtschaftsministerin Reiche. Ihre Meinung: „Ich glaube, es ist wichtig, dass wir jetzt eine klare Agenda haben, um Wachstum und Klimaschutz zu vereinen und dies bei all den aktuellen sicherheitspolitischen Fragen nicht vernachlässigen.“ Um ein Industrieland zu bleiben und auch künftig für Sicherheit zu sorgen, brauche es Wasserstoff. Es sei wichtig, dass jetzt alle Player zusammenkämen und Ideen einsammelten. Viele Dinge gelängen in der regionalen Umsetzung einfach besser, weil sich die Leute mit den Projekten identifizierten, sich gut kennten und wüssten, was vor Ort umsetzbar sei, sagt Grimm.
Angleys, Leiterin der Thüga-H2-Plattform, erklärt, dass sich Deutschland in einer frühen Phase des Wasserstoffhochlaufs befinde. Dies müsse sich in den Erwartungen an die Rendite und auch an die Langfristigkeit der Projekte niederschlagen. „Wir sollten diesen Wasserstoffhochlauf, nicht direkt ersticken mit zu vielen Erwartungen und zu viel Regulatorik“, sagt sie. „Dafür bieten wir als H2-Plattform der Thüga-Gruppe auch Unterstützung für die Unternehmen vor Ort, damit jetzt eben auch die richtigen und die mutigen Projekte umgesetzt werden können.“ Der Weg zur Klimaneutralität für Industrie und Mittelstand führe nicht über eine zentrale Lösung, sondern über viele regionale Ökosysteme, die sich langfristig in ein Gesamtsystem einfügten.
Faktenbox: Wasserstoff in Deutschland
-
Klimaziel: Deutschland will bis 2045 klimaneutral sein – Wasserstoff gilt als Schlüsseltechnologie für Industrie, Energie und Mobilität.
-
Strategie: Die Nationale Wasserstoffstrategie (2020, Fortschreibung 2023) sieht bis 2030 10 GW Elektrolysekapazität vor.
-
Fördermittel: Bund und EU stellen über 20 Milliarden Euro für Projekte bereit, u. a. über IPCEI (Important Projects of Common European Interest).
-
Importabhängigkeit: Experten rechnen damit, dass Deutschland künftig 50–70 % des Wasserstoffs importieren muss – aus Ländern mit viel Sonne und Wind.
-
Netzausbau: Bis 2032 soll ein Wasserstoffkernnetz von rund 9.700 Kilometern entstehen – größtenteils aus umgewidmeten Erdgasleitungen.
-
Industrieeinsatz: Hauptverbraucher werden Stahl-, Chemie- und Zementindustrie sein; direkte Elektrifizierung ist dort kaum möglich.
-
Farbenlehre:
-
Grün: Aus erneuerbarem Strom (klimaneutral, teuer).
-
Blau: Aus Erdgas mit CO₂-Abscheidung (umstritten).
-
Türkis/Violett: Neue Verfahren, noch im Test.
-
-
Herausforderungen: Hohe Kosten, unklare EU-Regulierung, fehlende Infrastruktur, internationale Konkurrenz um Fördermittel.
Der Artikel erschien in der Print-Ausgabe Nr. 8 (Oktober 2025) von Markt und Mittelstand.
Bleiben Sie auf dem Laufenden, abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter und erhalten Sie immer die neuesten Nachrichten und Analysen direkt in Ihren Posteingang.