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Bittere Pillen: Deutschlands Pharmaindustrie kämpft an allen Fronten

Regulierungsdruck, US-Zölle und Verschwörungstheorien bedrohen die Pharmabranche.

Runde Sache: Deutschland war einmal die Apotheke der Welt. Heute werden zwar noch Pillen und andere Medikamente hergestellt, doch die Branche hat an Bedeutung verloren. (Foto: Boehringer-Ingelheim)

Deutschlands Pharmaindustrie leidet unter ­Regulierung und dem ausufernden Gesundheitssystem. Jetzt bedrohen die US-Zölle die Branche. Der Ausblick ist düster.

Von Andreas Kempf

Was kommt als Nächstes? Der Blick in die Vereinigten Staaten ist in diesen Wochen oft mit Entsetzen verbunden. Auch in der Pharmaindustrie herrscht völlige Ungewissheit. Dabei überstand die Branche Anfang April den ersten Frontalangriff aus Washington ohne einen Kratzer. Noch. Die Produzenten von Wirkstoffen und Medikamenten machen sich keine großen Illusionen. Bei den Zöllen auf Vorprodukte wie sterile Schläuche, die für die Arzneiproduktion wichtig sind, wird es kaum bleiben. Auch Pharmazeutika sind im Fokus des zollwütigen Herrschers im Weißen Haus. Der hat bereits „große Zölle“ angekündigt. Wann er sein toxisches Vorhaben umsetzt? Das ist die alles bestimmende Frage, die die gesamte Branche in Atem hält.

Für die Pharmahersteller ist der US-Markt unentbehrlich. Jeden dritten Euro haben die EU-Produzenten dort verdient. Bei den deutschen Herstellern betrug das Exportvolumen in die USA im vergangenen Jahr 27,9 Milliarden Euro. Das entspricht etwa einem Viertel aller Ausfuhren. Der größte deutsche Produzent, Boehringer Ingelheim, verdient sogar fast jeden zweiten Euro in den USA. Umgekehrt bezieht die Branche Pharmazeutika im Wert von 12,2 Milliarden Euro (17 Prozent) aus den USA sowie gut zwölf Prozent der Vorprodukte, etwa Grundstoffe und Chemikalien. Sollten diese auch in den Handelskrieg zwischen EU und USA geraten, würde die Arzneiproduktion in Deutschland unter Druck geraten mit Folgen für die Medikamentenversorgung und die Beschäftigten in der Pharmaproduktion, wie Claus Michelsen warnt, Chefvolkswirt des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VFA).

Wie sich das in diesem Jahr entwickelt, ist nun völlig offen. US-Zölle verteuern europäische Produkte in den USA. Ob sich die höheren Preise auch tatsächlich durchsetzen ließen, sei offen, lautet die Einschätzung beim Chemie-Fachverband VCI. An eine Prognose wagt sich in diesem Frühjahr niemand mehr. Die Branche hat zuletzt versucht, den drohenden Schaden zu begrenzen. So wurde vielerorts in den vergangenen Wochen die Produktion hochgefahren und bereits möglichst viele Medikamente in die USA transferiert. Lufthansa Cargo registriert „einen Anstieg der Nachfrage für Pharmasendungen“. Auch DHL und Kuehne+Nagel bestätigen ein erhöhtes Aufkommen solcher Transporte. Was jetzt schon in den USA ist, unterliegt keinem Zoll. Diese Lösung funktioniert allerdings nur bei Fertigprodukten. Wie in der Halbleiterindustrie werden Zwischenprodukte um den halben Globus transportiert und weiterverarbeitet. So liefern deutsche Hersteller Grundprodukte in die USA, um sie veredelt zurückzubekommen. Unter Trumps Zöllen könnte diese komplexe Lieferkette sehr gespannt werden – oder sogar reißen.

Es herrscht also Panikstimmung unter den Pharmaunternehmen. Dabei waren die deutschen Hersteller – in Deutschland erfasster Jahresumsatz 64 Milliarden Euro – recht optimistisch ins neue Jahr gestartet. Erwartet wurde vor der Zoll-Schizophrenie des US-Präsidenten ein Wachstum von zwei Prozent. Endlich ein Lichtblick, denn die Branche hat zuletzt eher Trostpillen gebraucht. Die Umsätze auf dem Heimatmarkt Europa sind um sieben Prozent gesunken. Das Geschäft im Inland stagnierte. Zulegen konnte die Branche mit ihren 133.000 Beschäftigten vor allem in Asien und – ausgerechnet – in Nordamerika. Lediglich die forschenden Hersteller wuchsen 2024 um zwei Prozent.

Wegen der drohenden Zölle an der US-Grenze will die Branche, ganze Produktionen in die USA zu verlagern. Roche denkt offen darüber nach, so Donald Trumps Hürden zu umgehen, wie eine Sprecherin bestätigt. Der europäische Verband EFPIA droht damit, dass Investitionen im Volumen von 100 Milliarden Euro abfließen könnten. Allerdings dürften sich solche Manöver nur die Großen der Branche leisten können. Denn eine neue Fertigung aufzubauen, ist langwierig und teuer. So muss das Verfahren von der US-Zulassungsbehörde FDA bestätigt werden, selbst wenn das gleiche Produkt in Europa produziert wird. „Bis das alles durch ist und die Produktion anläuft, können fünf bis sieben Jahre vergehen“, erklärt ein Branchenkenner hinter vorgehaltener Hand. Die Drohungen des EU-Spitzenverbandes dürften zumindest kurzfristig eher ein Placebo sein.

Fragwürdige Belastung

Die USA sind besonders attraktiv, denn dort lassen sich wesentlich höhere Preise erzielen als in Europa. Das führt dazu, dass Zulassungsverfahren erst dort angegangen werden. Manches Medikament kommt erst Jahre später in der EU auf den Markt. Mehr als 100 Mittel, die in den USA in den vergangenen neun Jahren eingeführt wurden, sind nach Angaben des VFA in Deutschland nicht zugelassen. Das europäische Zulassungsverfahren erschwert zudem den Zugang. Das hat zur Folge, dass Medikamente in einem Mitgliedsland zu bekommen sind und in einem anderen wiederum nicht. Für die Hersteller bedeutet das – wirtschaftlich betrachtet –, dass der EU-Markt gar nicht so groß ist, wie das die 450 Millionen Einwohner vermuten ließen.

Von Deutschland als „Apotheke der Welt“ ist nicht mehr viel übriggeblieben. „Die massive Belastung der Unternehmen steht im Widerspruch zur politisch gewollten Stärkung des Pharmastandorts und ist auch verfassungsrechtlich fragwürdig“, sagt Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI). Der aktuelle Kurs werde das Problem der Medikamentenknappheit sogar noch verstärken und zu Engpässen bislang ungeahnten Ausmaßes führen. „Deshalb muss die Bundesregierung der einseitigen Belastung der Pharmaunternehmen entgegenwirken.“

Die Arzneimittelhersteller beklagen wie andere Wirtschaftsbereiche die vielen Standortnachteile in Deutschland. Neben hohen Energiekosten und fehlenden Fachkräften sieht sich die Pharmaindustrie vor allem durch das enge Normenkorsett gegängelt. „Die Überregulierung hat sich in der pharmazeutischen Industrie immer mehr zu einem Schraubstock entwickelt, der den Unternehmen die Luft für Innovation und Forschung und damit die Zukunftsorientierung abschnürt“, erläutert Joachimsen.

Die Preisregelungen reichen von Festbeträgen und Rabatten über Importklauseln bis zu Hersteller- und Kombiabschlägen. Zusätzlich komplex wird der deutsche Markt durch die dezentralen Regulierungen von 17 Kassenärztlichen Vereinigungen mit Quoten, Leitsubstanzen sowie Ampelsystemen – die Abrechnungen der Krankenkassen sind in Hamburg anders als in Bayern. Hinzu kommen noch von der EU befeuerte Normen wie beispielsweise die Kommunalabwasser-Richtlinie, die der Branche am Ende einen großen Teil der Reinigung aufhalst. Das führe zu einer jährlichen Belastung von mehr als 20 Milliarden Euro, heißt es beim BPI.

All diese Regulierungen bremsten Innovationen, Forschung, Entwicklung, eine zukunftsorientierte Industriepolitik fehle, klagt der BPI. Mit 16 Prozent Anteil am Umsatz investiert die Branche mehr als jede andere in Forschung und Entwicklung. Sie ist in Deutschland stark vom Mittelstand geprägt. Von den 614 Unternehmen sind nach BDI-Angaben 93 Prozent kleine oder mittelständische Betriebe. Sie forschen und entwickeln spezielle Produkte, die wegen der kleinen Mengen für die Riesen der Branche mit ihren großen Anlagen nicht interessant sind. Dass sich unter der neuen Bundesregierung viel ändert, ist nicht abzusehen. Im Koalitionsvertrag von Union und SPD jedenfalls sind keine umfangreichen Reformen des Gesundheitssystems vorgesehen. Dabei wird es immer teurer, gilt als ineffizient.

Der Weg zum neuen Medikament oder Impfstoff ist lang und mit erheblichen finanziellen Risiken verbunden. Im Schnitt vergehen 13,5 Jahre, bis aus einer erstmals identifizierten Substanz tatsächlich ein zugelassenes Produkt wird. Die ganze Strecke schafft nur einer von 10.000 möglichen Wirkstoffen. Große Chancen werden Lösungen zugesprochen, die mit der mRNA-Technologie hergestellt werden. Die meisten Impfstoffe gegen das Coronavirus sind so entstanden. Vor allem Medikamenten gegen Krebs stehen im Fokus der Forscher. Unternehmen wie Biontech in Mainz und Curevac in Tübingen gelten hier als führend.

Doch beide sind auf die Hilfe von Pharmariesen wie den US-Konzernen Pfizer und Glaxo angewiesen, um den Aufwand stemmen zu können. Nach dem Corona-Erfolg hat Biontech einen Umsatzeinbruch von einer Milliarde Euro verbucht. Vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass das erste Krebsmedikament nicht wie erhofft wirkt. Auch bei Curevac ist die Durststrecke lang. Die Tübinger wären ohne finanzkräftigen Partner sogar inzwischen pleite. Genau solche Investoren haben dem Münchener Biotech-Unternehmen Medigene gefehlt. Kurz vor Ostern mussten Vorstand und Aufsichtsrat beim Amtsgericht Insolvenzantrag stellen.

Überall Verschwörer

Den deutschen Spitzenunternehmen droht nicht nur durch Zölle in den USA eine noch viel bittere Pille. Der neue US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. ist ein offener Anhänger von Verschwörungstheorien und verbreitet die Ansicht, dass Corona-Impfstoffe zu den gefährlichsten Medikamenten gehören. Zudem behauptet er, Biontech und Pfizer hätten das Vakzin gar nicht selbst entwickelt. Einen großen Regierungsauftrag für Impfstoffe beim Konzern Moderna hat Kennedy erst einmal gestoppt. Der anerkannte US-Impfbeauftragte Peter Marks ist aus dem Amt getrieben. Er verantwortete die Einschätzungen der FDA zu neuartigen Behandlungsmethoden wie Zell- oder mRNA-Therapien. Der Minister wünsche „eine unterwürfige Bestätigung seiner Fehlinformationen und Lügen“, sagte Marks.

Jetzt rätselt man nicht nur bei Biontech und Curevac, ob neue Technologien auf dem wichtigsten Pharmamarkt der Welt überhaupt noch eine Chance haben. In der gesamten Pharmabranche herrscht derzeit höchste Aufregung und Verunsicherung. Welche Medikamente, die derzeit in den Laboren entwickelt werden, bekommen in den USA noch eine Zulassung? Und welche Rolle werden künftig noch die Forscher an den renommierten US-Unis spielen?

Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Bloomberg will die Trump-Regierung mehr als 27 Milliarden Dollar für globale Gesundheitsinitiativen streichen. Darunter sind Mittel für die Impfallianz Gavi, die weltweit Millionen von Kindern gegen tödliche Krankheiten immunisiert. Gestoppt wurde auch ein Impfprogramm gegen Vogelgrippe – die Krankheit und das Massenkeulen von erkrankten Legehennen sind die Ursache, dass Eierpreise in den USA die Marke von zehn Dollar für das Dutzend erreicht haben. Bittere ­Zeiten eben. 

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