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Zukunftsmärkte > Deutschlands Industrie reagiert auf die Lieferengpässe. Sie will wieder mehr in der Heimat produzieren.

Das Ende der Globalisierung

Stahl und Magnesium, Pharmagrundstoffe und Textilien – und natürlich Mikrochips: Während der Pandemie rissen internationale Lieferketten gleich reihenweise. Viele wichtige Produkte sind zur begehrten Mangelware geworden. Die Lage ist dramatisch: In drei Viertel aller Industrieunternehmen sei die Fertigung durch fehlende Rohstoffe und Vormaterialien belastet, hat das Münchener Ifo-Institut festgestellt.

eine vernetzte Erdkugel
Die Globalisierung könnte wegen Lieferengpässen in Zukunft gedrosselt werden.

Stahl und Magnesium, Pharmagrundstoffe und Textilien – und natürlich Mikrochips: Während der Pandemie rissen internationale Lieferketten gleich reihenweise. Viele wichtige Produkte sind zur begehrten Mangelware geworden. Die Lage ist dramatisch: In drei Viertel aller Industrieunternehmen sei die Fertigung durch fehlende Rohstoffe und Vormaterialien belastet, hat das Münchener Ifo-Institut festgestellt. Besonders trifft es die Textil- und Automobilindustrie, hier berichten mehr als 88 Prozent der befragten Unternehmen von Materialknappheit. Eine Lösung: Produktion in Deutschland und Europa statt weit entfernt zum Beispiel in Asien. Eine andere: besseren Zugriff auf Material und Vorprodukte sichern.

Autoindustrie

Wie dramatisch die Lage in den deutschen Schlüsselbranchen ist, zeigt das Beispiel Daimler. Die Auftragsbücher sind voll, die hohe Nachfrage lässt sich wegen fehlender Teile aber nicht in Geschäft umsetzen. "Wir hätten Arbeit ohne Ende, die Auftragsbücher sind voll. Wir könnten die Wochenenden durcharbeiten und Leute einstellen", klagt Daimler-Betriebsratschef Michael Brecht. Seit Monaten müssen alle deutschen Autohersteller die Fertigung immer wieder anhalten, weil beispielsweise Halbleiter fehlen. Statt des erhofften Aufschwungs wird die Branche ausgebremst. Sie hat 2021 ein Drittel weniger verkauft als im Vorjahr. "Wir von den Arbeitnehmervertretern fragen uns schon: Die gesamte Autobranche baut erheblich weniger Autos als vor der Pandemie. Wo gehen die Chips hin?" fragt Brecht. Zu spät bestellt, Produktionsausfälle bei den Herstellern, starke Nachfrage der Unterhaltungsindustrie: Die Gründe sind vielfältig. Fest steht, dass kein Ende der Misere in Sicht ist. Die Lage bei den Chips sei sehr volatil und mitunter von Unsicherheit und Sprunghaftigkeit geprägt, sagt Daimler-Vorstandschef Ola Källenius. "Es wird uns 2022 definitiv auch beschäftigen." Und die VW-Betriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo bereitet ihre Kollegen auf ein schwieriges Jahr mit Kurzarbeit und Schließtagen vor. "Wir schätzen, dass aktuell rund vier Prozent der weltweit gehandelten Waren durch Engpässe in der Schifffahrt feststecken", sagt Ana Boata, Head of Economic Research beim Kreditversicherer Euler Hermes.

Das Problem ist immer das gleiche: Die Hersteller kaufen die Teile und Vorprodukte in Asien oder Nordamerika ein und sind abhängig davon, dass weit entfernt produziert und dann auch geliefert wird. Die EU-Kommission hat in einer Studie 137 Produkte identifiziert, bei denen die Union besonders von Importen abhängt. "Reshoring" heißt deshalb die viel diskutierte Alternative zum Kauf in Asien oder Nordamerika. Die EU-Kommission will beispielsweise die europäische Chipversorgung auf eigene Füße stellen. Brüssel plant unter anderem ein zweites Important Project of Common European Interest on Microelectronics (IPCEI). Mitte der vergangenen Dekade wurde bereits ein erstes Programm dieser Art auferlegt, an dem sich Berlin mit einer Milliarde Euro beteiligte. Davon flossen rund 200 Millionen Euro in den Bau der neuen Dresdner Chip-Fabrik von Bosch. Der Konzern hat mehr als eine Milliarde Euro in den neuen Standort investiert. An einem zweiten IPCEI wäre man sehr interessiert, signalisiert eine Sprecherin in Stuttgart. Die alte Bundesregierung hat bereits drei Milliarden Euro Fördermittel eingeplant. Bis zum Aufbau einer umfassenden europäischen Chipversorgung werden Jahre vergehen. Bis dahin bleibt Asien Hauptlieferant.  Und die Autoindustrie geht eigene Wege: Michael Brecht, der bei Daimler auch stellvertretender Aufsichtsratschef ist, sagt: "Die Fahrzeughersteller werden künftig selbst Rohstoffe und Schlüsselkomponenten direkt beim jeweiligen Lieferanten einkaufen und sich nicht mehr allein auf die großen Zulieferer als Systemlieferanten verlassen." BMW hat das schon umgesetzt und Anfang Dezember Verträge mit zwei Halbleiter- Produzenten abgeschlossen. Die Münchener sichern sich so nach eigenen Angaben die Versorgung mit mehreren Millionen Mikrochips pro Jahr. Aus Asien kommen derzeit auch die meisten Energiespeicher für die E-Mobilität. Das soll nicht so bleiben: Die europäische Autoindustrie will frühzeitig eine eigene Infrastruktur schaffen. Denn in der Batterie steckt die wichtige Zukunftstechnologie, sie gilt als "Motor der E-Mobilität". Für die Hersteller geht es also um das Herzstück ihrer Fahrzeuge. Da hat die Branche einiges vor sich: Nach Schätzungen des Bundeswirtschaftsministeriums steigt die Nachfrage bei Lithium-Ionen-Batterien bis 2030 von rund 200 auf mehr als 2000 Gigawattstunden. Davon entfallen mehr als 60 Prozent auf Elektromobilität. Allein VW will in Europa sechs große Batteriezellfabriken für 30 Milliarden Euro hochziehen. Mit dem belgischen Konzern Umicore und dem Lithiumhersteller Vulcan Energy seien Verträge für die Großserienfertigung von Akkus geschlossen worden, berichtete der Konzern Anfang Dezember. Die Produktion soll 2025 mit zunächst mit 20 Gigawattstunden für das VW-Werk in Salzgitter starten. Vulcan soll im Oberrheingraben Lithiumhydroxid gewinnen. Bis zum Ende des Jahrzehnts ist eine jährliche Produktionskapazität von bis zu 160 Gigawattstunden angepeilt, was dem Bau von etwa 2,2 Millionen E-Autos entspricht. E-Konkurrent Tesla hat eine Fertigung in Aussicht gestellt, die neben der Gigafactory im brandenburgischen Grünheide entstehen soll. Im ersten Schritt ist eine die Produktionskapazität von etwa 100 Gigawattstunden pro Jahr geplant. Später könne sie auf 250 Gigawattstunden ausgebaut werden, ließ der US-Konzern im Sommer verlauten.

Auch die Zulieferer sind aktiv. Im schwäbischen Ellwangen bereitet beispielsweise Varta den Einstieg in die Speicherfertigung für E-Mobile vor. Über Kunden wie Porsche wird an den Börsen immer wieder spekuliert. Doch Varta schweigt sich bisher aus. Auch Bosch wagt sich wieder an das Thema heran und liefert ab 2025 Anlagen für Batteriefabriken, nachdem man beim Versuch, eine eigene Produktion aufzuziehen, scheiterte.

Textil

Mit dem Projekt Textilfabrik 7.0 will die alte Textilhochburg Mönchengladbach wieder eine weltweit führende Rolle in Produktion und Forschung übernehmen. Dafür haben sich am Niederrhein Hochschulen, Verbände der Textil- und Bekleidungsindustrie, lokale Produzenten und die Stadt zusammengeschlossen. 7.0 soll heißen: Wir liefern Industrie 4.0 plus erneuerbare Energieselbstversorgung, Zero-Emission, künstliche Intelligenz, Robotik und Biotechnologie – für alles von T-Shirt bis Hightech-Gewebe für die Industrie. Auf 20 Hektar sollen mit Fördermitteln des Bundes 2500 Arbeitsplätze entstehen. Rolf Königs, Präsident des Verbands der Rheinischen Textil- und Bekleidungsindustrie, nennt es die "zweite textil-industrielle Revolution". Die wäre in ganz Deutschland dringend nötig. Hier gibt es nur noch rund 1400 Textilunternehmen mit rund 100.000 Beschäftigten – ein Zehntel im Vergleich zu den 70er Jahren.

Doch trotz und wegen Corona könnte Deutschland mit großen Schritten aufholen. Automatisierungstechnik verbilligt schon länger die textilen Produktionskosten, aber jetzt werden auch noch Nachfrageschwankungen und steigende Transportkosten wichtig. Eine lokale Produktion ermöglicht es, auf Nachfrageschwankungen schneller reagieren zu können. Kürzere Lieferketten verringern zudem den CO2-Fußabdruck und kleinere Stückzahlen lassen sich vor Ort schneller produzieren als im Massenmarkt Asien. Die führenden Textilanbieter erwarten nach einer Umfrage der Beratungsfirma McKinsey einen grundlegenden Wandel. Konkurrenzfähig bleibe demnach nur, wer auf flexible, schnelle, nachhaltige, digital verbesserte und verbraucherorientierte Beschaffung setze.  

Die befragten Bekleidungsriesen setzen darum auf Reshoring – besonders Nearshoring –, um die Lieferketten zu sichern. Jedes zweite Unternehmen erwartet, dass bereits 2025 nicht mehr niedrige Löhne, sondern der Automatisierungsgrad der Produktion entscheidend sein werden. Hier hat Deutschland ein Ass im Ärmel. Die heimischen Maschinenbauer sind Spitzenanbieter von automatisierten und digitalisierten Textilmaschinen. Sie liefern die Prozess- und Produktionsqualität, an denen es in Billiglohnländern mit vielen Näherinnen und Nähern oft hapert. Trotzdem werden nicht komplette Produktionen aus Asien zurückkehren. Bei Stoff und Faden zeichnet sich die gleiche Marketing-Strategie ab, unter der Messerhersteller aus Solingen schon seit 50 Jahren leiden. Nur der letzte Schliff erfolgt in Deutschland. Viel Vorgelagertes geschieht am anderen Ende der Welt. Mit dem Siegel "Made in Germany" dürfen die Hersteller trotzdem werben.

Pharma

"Die Chinesen brauchen gar keine Atombombe. Sie liefern einfach keine Antibiotika, dann erledigt sich Europa von ganz allein." So brachte Ulrike Holzgrabe, Professorin für Pharmazie an der Uni Würzburg, die Lieferengpässe bei Medikamenten schon 2020 auf den Punkt. Das trifft auch Deutschland. Was für ein Armutszeugnis für eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Hierzulande fehlt es immer wieder selbst an Standard-Blutdrucksenkern, Magensäureblockern und Schmerzmitteln. Im vergangenen Jahr waren 16,7 Millionen mal Arzneimittel nicht verfügbar. Schon vor Corona machte deshalb die alte Bundesregierung Druck auf die europäischen Pharmahersteller. Sie sollten Teile ihrer Produktion vor allem aus China und Indien zurückzuholen. Denn Europa hängt am asiatischen Tropf.  

Nach der Chemie- und Mineralölindustrie steht, so ermittelte das ifo-Institut, Pharma auf Platz drei der deutschen Branchen, die von ausländischen Vorleistungen am abhängigsten sind – weit vor Metall und Elektronik. Die einstige Apotheke der Welt sieht sich unfair in die Zange genommen. Einerseits fordern Politiker Liefersicherheit, andererseits greifen sie mit Zwangsabschlägen und Rabattverträgen in den Markt
ein. Einem Reshoring gegenüber ist der Pharmaverband BPI gleichwohl nicht abgeneigt "Die Fertigproduktherstellung in Europa ist ohne größere Probleme wieder verstärkt realisierbar. Die grundlegenden Strukturen sind vorhanden." Die Warnung folgt gleich hinterher: Die Rückführung dauere zehn Jahre und werde wegen hoher Investitionen für Patienten und Krankenversicherungen teuer. Der BPI fordert deshalb: "Politisch könnte man das durch verstärkte Förderungen unterstützen." Schon 2020 erklärte Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD), es sei zu rechtfertigen, die Produzenten in Deutschland und Europa staatlich zu bevorzugen. Als Bundesgesundheitsminister könnte er das nun politisch anschieben.

Nationalismus

Neben den Lieferproblemen stellen immer mehr auch politische Entwicklungen die bisher gekannte Globalisierung infrage. Schon 2019 hat die Welthandelsorganisation WTO ermittelt, dass fast jede zehnte Ware (8,7 Prozent) mit besonderen Zollhürden belegt war. Seit Donald Trumps "America first" ist nichts mehr, wie es war. Denn diesen Kurs verfolgt auch Joe Biden, Trumps Nachfolger als US-Präsident – nur nicht so laut. Chinas Machthaber greifen ebenfalls immer wieder in die Handelsströme ein, mal stehen ganze Häfen still, mal die Stromversorgung gedrosselt und so die Produktion wichtiger Waren behindert. Und wer nicht auf Chinas Linie ist, fällt in Ungnade. Das erleben beispielsweise Australien oder das EU-Mitglied Litauen, wo kürzlich Taiwan eine diplomatische Vertretung eröffnet hat. Und China sieht Taiwan nicht als eigenen Staat, sondern als abtrünnige Provinz an.  

"Decoupling" heißt der Trend, der die alte Globalisierung zunehmend ablöst. So verfolgt Peking konsequent das Ziel, Importe zu verringern und immer mehr Güter im eigenen Land zu fertigen. Ausländische Anbieter werden durch immer höhere Importhürden gezwungen, vor Ort zu produzieren. Für viele mittelständische Betriebe ist das unmöglich. "Sie werden sich nach anderen Märkten umsehen müssen", meint denn auch Karl Heusgen, Präsident des Verbands deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA). Aber auch die Vereinigten Staaten schotten sich ab, vor allem gegenüber China. Die Experten des Beratungskonzerns Bain haben ermittelt, dass von 2016 bis 2020 die technologiebasierten Investitionen zwischen China und den USA um 96 Prozent zurückgegangen sind. Beide Länder treiben mit hohem Aufwand die Entwicklung neuer Lösungen mit eigener Kraft voran. "Die Skepsis gegenüber der Globalisierung nimmt trotz vieler unbestrittener Vorteile stetig zu", betont Bosch-Vize-Geschäftsführer Stefan Asenkerschbaumer. Die Stuttgarter haben sich deshalb auf verschiedene Szenarien eingestellt, die von einzelnen protektionistischen Handelsbarrieren über eine Isolation der drei wichtigsten Wirtschaftsräume bis zu einer "Zweiteilung der Welt" gehen. Im letzten Fall müsste sich Europa zwischen den USA und China entscheiden.

"Europäische Unternehmen sollten sich gut anschnallen und auf das Schlimmste vorbereiten", warnen die Autoren einer Studie der Europäischen Handelskammer in China (EUCCC). Gerade im digitalen Bereich treibe Peking zunehmend eigene Standards voran. Bereits jetzt beeinflussten unterschiedliche Definitionen und Interpretationen von Daten (und entsprechende regulative Rahmen) den Geschäftsbetrieb von 82 Prozent der befragten Unternehmen negativ. Restriktive Regelungen für den Umgang mit persönlichen Daten (die vor allem den Transfer über Grenzen betreffen) haben der Studie zufolge bei 34 Prozent der Unternehmen dazu geführt, neue Produkte, Dienstleistungen oder Projekte zu überdenken; 19 Prozent haben neue Produkte, Projekte und Dienstleistungen bereits aufgeschoben oder ganz aufgegeben. Die Firmen setzen nicht mehr auf China.  

Der politisch befeuerte Abschied von der Globalisierung bedeutet, dass europäische Anbieter wie vor Jahrzehnten unterschiedliche Standards bedienen müssen. Und gleichzeitig sind importierte Technologien nur noch bedingt einsetzbar, wenn chinesische Chips nicht mehrt für Güter zu gebrauchen sind, die in den USA verkauft werden sollen – und umgekehrt. Vor allem in der europäischen Autoindustrie bündelt man deshalb die Kräfte und entwickelt gemeinsam Lösungen, um mithilfe staatlicher Förderung selbst die Standards der Zukunft für die gesamte Welt zu setzen. Im Bereich der Quantencomputer – der neuen Rechnergeneration – treibt Europa mit Wissenschaft und Unternehmen die Entwicklung voran, um nicht gleich wieder in die nächste Abhängigkeit zu geraten. Allein Deutschland steckt hier rund zwei Milliarden Euro in die Forschung. Für den Mittelstand ist das alles eine Nummer zu groß. Die kleinen und mittleren Betriebe werden sich auf raue Zeiten einstellen müssen und frühzeitig nach neuen Marktchancen in der Nische Ausschau halten.

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