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Zukunftsmärkte > Wie Habeck über Wirtschaftswachstum denkt

Dein Wohlstand ist nicht mein Wohlstand

Der Wirtschaftsminister hat diese Woche seinen Jahresbericht vorgestellt und dabei etwas gemacht, was seit mehr als einem halben Jahrhundert keiner gewagt hat: Er stellt die Kriterien, wie Wachstum gemessen wird in Frage. Seine Gegenvorschläge zielen auf mehr Nachhaltigkeit. Doch helfen sie wirklich weiter?

Bild von Robert Habeck
Wachstum müsse mit weniger Emissionen erreicht werden.

Robert Habeck hat etwas Neues gemacht. Ob es klappt, weiß keiner, aber er hat es gemacht. Der grüne Wirtschafts- und Klimaminister nutzte einen Termin, den es seit 54 Jahren immer um diese Jahreszeit gibt: Er stellte den Jahreswirtschaftsbericht vor, so wie es sein Ministerium seit 1968 tut und für eine Tiefenbohrung nutzt: Wie hat sich die Wirtschaft entwickelt? Was war, was kommt? Zentrale Messgröße seit mehr als einem halben Jahrhundert ist dabei das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die Entwicklung, die sich aus dem Verkauf aller Produkte und Dienstleistungen in Deutschland ergibt. Wächst es, ist alles in Ordnung, schrumpft es, ist Alarm. So war das bisher.

 

Dimensionen der Wohlfahrt

Habeck hat dem Bericht jetzt ein Kapitel hinzugefügt, das ganz unscheinbar daherkommt. „Dimensionen der Wohlfahrt“, heißt es. Darin steht, was sich sonst noch so alles messen ließe, um eine Ahnung davon zu haben, ob es wirklich bergauf geht. Der Anteil der Frauen in Führungspositionen findet sich da zum Beispiel als Indikator, die Gründung neuer Unternehmen, der Breitbandausbau, aber auch Geburtenraten und Ganztagsbetreuung, Luftschadstoffe und der Anteil erneuerbarer Energien. Und prominent geht es auch um den Gini-Koeffizienten, der die Ungleichheit bei den Einkommen messen soll. „Kein Beiwerk und kein Schmückwerk“ sei das Kapitel, sagt Habeck, sondern eines der weitreichendsten im ganzen Bericht.
Ganze 31 alternative Indikatoren zur Messung des Wohlstands haben Habecks Beamte zusammengetragen auf. Der Nitratgehalt im Grundwasser und die Durchlässigkeit im Bildungssystem, die Überlastung durch Wohnkosten ist genauso ein neuer Wohlstandsindikator wie die Entwicklung der Treibhausgas-Emissionen. Die hat der Minister im aktuellen Bericht gemeinsam mit dem BIP in einer Grafik auf eine Seite komprimiert als Beispiel dafür, was der Bericht ab sofort liefern soll. „Sie sehen, wie weit das auseinander geht“, sagt er. Wachstum müsse mit weniger Emissionen erreicht werden.


Fundamentalkritik allerdings ist in dem Bericht dem Kompromiss gewichen. Das BIP jedenfalls will Habeck nicht ignorieren. Die Grenzen des Wachstums, die der Club of Rome einst formulierte, klingen beim Wirtschaftsminister so: „Zu sagen, wir verzichten auf die Idee von Wachstum, würde bedeuten, wir verzichten auf die Idee von Fortschritt.“ Es dürfte in dieser Einschätzung des Wirtschaftsministers auch der Einfluss des Finanzministers stecken. Tatsächlich entsteht der Jahreswirtschaftsbericht zwar federführend im Wirtschaftsministerium, aber das Finanzministerium ist informiert, unterstützt, verbessert, redigiert oder legt streng sein Veto ein. In Habecks Bericht steckt also auch eine Menge Christian Lindner.

 

Für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft

Das Haus Lindner hat wohl streng eingegriffen. Bereits vor Weihnachten, als einzelne Inhalte des Entwurfs aus dem Wirtschaftsministerium so langsam Richtung Finanzministerium flossen, ging es schon um den Titel des Berichts. Damals hieß der in der Unterzeile: „Den Ordnungsrahmen klimagerecht fortentwickeln.“ Jetzt heißt der: „Für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft.“ Das „Handelsblatt“ hat Entwurf und Endergebnis genau analysiert und stellt die entscheidenden Veränderungen gegenüber. So stand ursprünglich in Habecks Dokument: „Zentral war dabei die Erkenntnis, […] dass auch der soziale Ausgleich nicht zur kurz kommt und Fehlentwicklungen der Marktkräfte korrigiert werden.“ Das war nichts für die Liberalen vom Schlage Lindners. In der aktuellen Kompromissversion steht deswegen: „Im Zentrum des Konzepts [steht] die Maßgabe, […] dass der marktwirtschaftliche Prozess aus sich heraus zu einem sozial ausgewogenen Wachstum führt, so dass eine nachträgliche sozialstaatliche Korrektur der Marktergebnisse nur sehr begrenzt notwendig ist.“

 

Grüne Ordnungspolitik und liberales Marktverständnis

Deutlich wird: Grüne Ordnungspolitik und liberales Marktverständnis prallen auf einander wie der Einschlag eines Kometen auf die Erde. Im Entwurf von Dezember begründeten die Autoren des Jahreswirtschaftsberichts die Notwendigkeit der neuen Indikatoren noch mit ungeschminkter Wachstumskritik: „Hierbei stellt sich auch die gesellschaftliche Frage, ob und inwieweit ein weiterer und stetiger Zuwachs des materiellen Pro-Kopf-Konsums von großen Teilen der Bevölkerung gegenüber anderen Zielen präferiert wird oder ob im Zweifel andere Ziele von Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit von einer Mehrzahl als wichtiger eingeschätzt wird.“


Im offiziellen Bericht fehlt nun die Wachstumskritik: Ziel sei, anhand geeigneter Wohlfahrtsindikatoren den Orientierungsrahmen für unser Wirtschaftswachstum zur Sicherung von Nachhaltigkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt im politischen Prozess zu präzisieren und zu aktualisieren und dabei den Naturverbrauch zuverlässig zu begrenzen und vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln.“ Auch der Kapitalismus, mit dem Habeck eigentlich abrechnen wollte, wird geschont: Ihm fehle es an einer systematischen Verankerung von Nachhaltigkeitszielen“, hieß es in der Urversion. Die Stelle ist im aktuellen Bericht ersatzlos gestrichen.


Welche Akrobatik zwischen Habeck und Lindner nötig war, um die Ansichten in Sachen Schulden auf einen Nenner zu bringen, zeigt eine andere Fundstelle im Text. In der Ursprungsversion ist Habeck Ausnahmen von der Schuldenbrense zugewandt: „Überlegungen, die ökologischen Transformationskosten“ zu berücksichtigen seien angezeigt, stand einmal da. Nun heißt es: Die Schuldenregel gewährleiste „die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung auch in Krisen zu wahren“.


Auch wenn das Finanzministerium geglättet hat – in Habecks Endfassung steckt noch genügend Zündstoff. Streng genommen sei das kein Jahreswirtschaftsbericht, „sondern ein weiterer Nachhaltigkeitsbericht“, heißt es von der Union. Tatsächlich öffnet Habeck die Diskussion für viele Interessengruppen, wenn er sich öffentlich auf die Suche nach weiteren Kriterien macht, die den Zustand der Wirtschaft messen sollen. Stefan Körzell, Vorstand beim Deutschen Gewerkschaftsbund, meldet bereits das 32. Kriterium an: Auf jeden Fall müsste der Katalog um den Punkt Tarifbindung, ergänzt werden, sagte er ebenfalls dem Handelsblatt. Und Industriepräsident Siegfried Russwurm fügt hinzu: „Die Messung von Wohlstand kann durchaus über die simple Erfassung der realen Wirtschaftsleistung hinausgehen.“ Die ambitionierte Umwelt- und Klimapolitik der neuen Bundesregierung dürfe aber unternehmerische Aktivitäten nicht gefährden.


Habeck wärmt eine Diskussion auf, die seit Jahren ergebnislos unter Ökonomen und Politikern geführt wird. Noch unter dem Eindruck der Finanzkrise setzte der Deutsche Bundestag 2010 eine Kommission ein, die den Titel trug: „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft.“ Nach drei Jahren nicht konfliktfreier Arbeit schlug sie eine alternative Wohlstandsmessung vor und lieferte die möglichen Indikatoren dafür mit. Nichts passierte. 2013 stießen Union und SPD einen Dialog an zu „Gut Leben in Deutschland – was uns wichtig ist“. Es entstand ein Konzept von zwölf Indikatoren mit insgesamt 46 Unterzielen. Auch das blieb letztlich folgenlos.


Es könnte sein, das letztlich gilt, was ein Zuschauer postete, als er den Auftritt Habecks verfolgt hatte: „Wohlstand“, schreibt er, „ist – für mich, wie sehr die Menschen sich das leisten können, was sie sich wünschen.“ Manche wünschten sich weniger Einkommens-Ungleichheit, aber tendenziell nur die, deren Einkommen kleiner seien. „Andere essen kein Fleisch, keinen Fisch, keine Eier, keine Milch, kein Schwein, keine Kuh ... aber wenn die Präferenzen der Einzelnen jetzt bei manchen Themen zu einem Standard führen, sind alle am Ende unglücklicher als vorher.“

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