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Zukunftsmärkte > Energiekrise

Deindustriealisierung bedeutet: D-Day für Deutschland

Noch niemals seit Beginn der Aufzeichnungen sind die Erzeugerpreise dermaßen nach oben geschossen wie im August. Bleibt das so, lohnt es sich für die wenigsten mittelständischen Fabrikanten mehr, in Deutschland zu produzieren. Dem Land droht die Deindustriealisierung.

In Deutschland wird es zu teuer, zu produzieren: Anderswo geht es günstigerBild: Shutterstock

Ein Wort macht die Runde, das die Umkehr eines Megatrends beschreibt, der Deutschland 200 Jahre geprägt hat. Es geht um das Gegenteil von Industrialisierung. Das Gegenteil von Hitze und Dampf, von Kohle und Metall von brodelnder Chemie, trocknendem Papier, von Schlacke, Qualm und Lauge. Es geht um die Deindustrialisierung dieses Landes. Die Sorge, dass es dazu kommt, treibt die Industrie seit Wochen um, seit klar ist, dass Energie für industrieller Prozesse unvorstellbar teuer geworden ist. In dieser Woche hat diese Sorge jetzt sozusagen die amtliche Bestätigung bekommen, dass sie nicht aus der Luft gegriffen ist: Das Statistische Bundesamt, eine Adresse für kühle Mathematiker, hat ausgerechnet, dass im August die Erzeugerpreise - also das, was in der gewerblichen Produktion als Preis aufgerufen wird - um 45,8 Prozent gestiegen sind. Einen solchen Anstieg hat es seit Beginn der Statistik im Jahr 1949 nicht gegeben.

Erzeugerpreise explodiert

Er spricht für eine extrem hohe Inflation und dafür, dass es in Deutschland zu teuer wird, zu produzieren. Anderswo geht es günstiger. Produktion wird damit in Deutschland zum Auslaufmodell – Deindustrialisierung eben. Selbst Ökonomen, die es wissen mussten, sind erschrocken, angesichts dieser Zahl. „Ein unfassbarer Preishammer“, kommentierte LBBW-Volkswirt Jens-Oliver Niklasch. „Das alles verheißt nichts Gutes für die Inflation. Sie ist gekommen, um zu bleiben.“ Commerzbank-Ökonom Ralph Solveen führt den Anstieg vor allem auf einen neuerlichen Schub bei den Energiepreisen zurück. Sie legten gegenüber dem Vormonat um über 20 Prozent zu, im Vergleich zu August 2021 sogar um 139 Prozent.

Energie aber ist der Treibstoff für die industrielle Produktion. Es geht um Sprit, Strom und Wärme, ohne die nichts läuft. Großkonzerne wie BASF, wie Siemens, wie Volkswagen halten den Teuerungsschub bei Energie möglicherweise aus, weil sie weltweit dort produzieren können, wo es am günstigsten ist. Kleine Unternehmen jedoch leiden, weil sie aufgrund der Kostenexplosion nicht mehr mit ausländischen Rivalen mithalten können. Sie müssen dicht machen oder verlagern – beide Alternativen führen zur Deindustriealisierung.

Ganze Branchen schlagen deswegen Alarm. Zum Beispiel die Aluminiumindustrie. Wenn die deutsche Politik nicht rasch ihre Energiepolitik ändere, werde diese Schlüsselindustrie aus Deutschland verschwinden, warnt der Präsident des Gesamtverbandes der Aluminiumindustrie Hinrich Mählmann. Er sieht für sein Unternehmen, die Otto Fuchs Gruppe, keine Möglichkeit, Gas ohne Produktionskürzungen einzusparen. „Wir können nicht 15 Prozent einsparen, ohne die Produktion zu reduzieren", sagt Mählmann. „Das heißt, wir würden weniger ausliefern können." Die Folgen träfen dann etwa die Bauindustrie, die Automobilindustrie oder auch die Medizintechnik. Im ersten Halbjahr 2022 verzeichneten die deutschen Aluminiumhütten bei der Herstellung von Rohaluminium gegenüber dem Vorjahreszeitraum bereits einen Rückgang von 21 Prozent. „Wenn wir nicht zeitnah eine Lösung in der Energiekrise finden, wird es keine Aluminiumhütten mehr in Deutschland geben", so Mählmann.

Ganze Branchen könnten verschwinden

Eine solche Deindustrialisierung bedeute eine Verlagerung in Regionen mit deutlich geringeren Sozial- und Umweltstandards - mit entsprechenden Folgen für das Klima. „Deswegen sollten wir nicht an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen" Für all die Unternehmen entstehen durch die umstrittene Gasumlage Mehrkosten in Höhe von knapp 300 Millionen Euro. Davon entfällt mit etwa zwei Dritteln der Großteil auf die Aluminiumindustrie. Gerade bei gasintensiveren Betrieben, wie etwa bei den für die Senkung der CO2-Emissionen so wichtigen Recyclingbetrieben, ergeben sich dadurch Zusatzkosten, „die schnell in den fünfstelligen Euro-Bereich pro Mitarbeiter gehen“, betont Mählmann.

 

Es geht jedoch nicht nur um ganze Branchen, sondern auch um ganze Regionen. So hat die Industrie- und Handelskammer (IHK) Schwaben einen Apell veröffentlicht, der durch den nun testierten Anstieg der Erzeugerpreise an Dramatik gewinnt.. Nach Einschätzung der Kammer gefährden die Kostensteigerungen bei Strom und Gas viele Unternehmen in ihrer Existenz – und damit auch den gesamten Wirtschaftsstandort. Auch die Kammer nutzt das „D“-Wort. Sie warnt vor der Deindustrialisierung Schwabens.

Firmen fahren Produktion runter

Jeder dritte Betrieb aus der Industrie und Bauwirtschaft leidet inzwischen unter Produktionsausfällen. Jedes vierte Unternehmen sieht gar das eigene Geschäftsmodell in Gefahr. Probleme machen sowohl die hohen Energiekosten als auch anhaltende Ausfälle in den Lieferketten. Die bayerisch-schwäbische Wirtschaft befinde sich aufgrund der Energiekrise in einer gefährlichen Lage, urteilt die IHK. „Der stark industriell geprägte süddeutsche Raum verspielt gerade seine wirtschaftliche Führungsposition – sowohl innerhalb Deutschlands als auch im internationalen Vergleich“, glaubt Marc Lucassen, Hauptgeschäftsführer der IHK Schwaben. Mehr als ein Drittel der  der regionalen Unternehmen aus Produktion, Handel und Dienstleistungen sehen sich von höheren Energiekosten „stark oder sehr stark betroffen". „Wenn wir diese Krise nicht in den Griff bekommen, werden immer mehr Unternehmen in Schieflage geraten", warnt Lucassen, der darin „klare Vorboten einer Deindustrialisierung unserer Region" sieht. Eine Abwanderungsbewegung sei damit in Gang gesetzt. Seine Forderung: „Die politisch Handelnden müssen ihre parteitaktischen Überlegungen nun hinten anstellen und sich einzig und allein auf die Lösung dieser Jahrhundertkrise konzentrieren.“ Einige Überzeugungen müssten in der aktuellen Lage hintenangestellt werden, um das Strom- und Gasangebot zu "maximieren". Lucassen verlangt, dass „alle verfügbaren Kapazitäten zur Stromproduktion auch tatsächlich genutzt werden und die Hemmnisse des Ausbaus weiterer Kapazitäten endlich fallen". Die IHK spricht sich damit für eine Verlängerung der Atomkraft aus. Kosten wie die CO2-Abgabe oder die Stromsteuer seien der Wirtschaft bereits seit Längerem ein Dorn im Auge. Diese müssten „umgehend auf das europäische Minimum gesenkt werden", fordert Lucassen.

Ansonsten passiert das, was der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau in seinem Buch mit dem Titel „Germany is our Problem“ aus dem Jahr 1945 beschwor. Sein Vorschlag war, Nachkriegsdeutschland zu deindustrialisieren und in einen agrarwirtschaftlichen Staat zu verwandeln. Es kam anders. Statt des Morgentau-Plans kam der Marshall-Plan zum Zuge, der Wiederaufbau und Prosperität versprach. Das allerdings, was jetzt passiert, könnte einen Schub entfachen, der Morgenthaus kühnste Erwartungen von einst übertrifft.

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