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Einkauf, Marketing und Marken > Lieferkettenprobleme durch Covid-19

„Der Mittelstand steht bei der Politik nicht im Zentrum der Überlegungen“

Unternehmen leiden derzeit unter einem Angebots- und Nachfrageschock. Die Folge: Sie verteilen das Risiko auf die Lieferkette. Was brauchen Firmen, damit sie sich in der Corona-Krise nicht gegenseitig zerfleischen?

Frau Greifeneder, Sie betreuen Mittelständler seit über 15 Jahren in Vertragsverhandlungen. Inwiefern haben sich die Konflikte der Unternehmen durch die Corona-Krise verändert?

Pauschal ist das schwer zu beantworten. Bei einer komplexen Situation wie der Corona-Pandemie muss ich die Fälle einzeln betrachten. Allerdings erkenne ich durchaus gewisse Konfliktmuster im Einkauf. Zunächst handelt es sich dabei um Unternehmen, die mitten im Geschehen stecken, also eklatante Lieferschwierigkeiten haben. Allen voran geht es hier um Haftungsrisiken aufgrund der Lieferengpässe und die Frage, ob die Unternehmen etwaige Schäden an die Lieferkette weiterreichen können. Dann gibt es derzeit auch viele Firmen, die von der Krise noch nicht betroffen sind, aber proaktiv handeln und sich schon jetzt auf Lieferschwierigkeiten und Produktionsengpässe vorbereiten. Die stehen sozusagen noch gut da, wollen sich aber über die Lieferkette absichern. Und dann wurden natürlich viele Betriebe in laufenden Verhandlungen von der Corona-Krise erwischt, das ist die dritte Gruppe. 

Auf höhere Gewalt können sich diese Unternehmen dann wohl schwer berufen, oder?

Nein, die Force-majeure-Klausel greift nicht, wenn die Parteien den Vertrag in der Krise abschließen, die Gefahr also schon kennen.

Wie können sich Unternehmen bei Vertragsverhandlungen während der Krise absichern?

Zum einen können sie die Verhandlungen abbrechen. Aktuell glaube ich nicht einmal, dass sie für den nicht zustande gekommenen Vertrag haften müssten. Es gibt mit der Corona-Pandemie einen triftigen Grund, der außerhalb der Vertragsverhandlungen liegt. Die speziellen Regelungen sind aber wirklich von der jeweiligen Vertragssituation abhängig und im Einzelfall zu prüfen.

 

Alle anderen Unternehmen, die keine neuen Verträge abschließen wollen, müssen mit ihren alten Verträgen klarkommen?

Genau genommen, ja. Für Unternehmen auf der Abnehmerseite ist diese Situation wirklich schwierig. Sofern es keine gesonderten Force-majeure-Klauseln im Vertrag gibt, muss der Umgang mit der Corona-Krise im Gespräch definiert werden. Wenn sie Bestellungen nicht abnehmen, kommen sie in den Annahmeverzug, sind von der Pflicht zur Zahlung aber nicht befreit und müssen zusehen, wie sie die Waren lagern. In der Risikoverteilung ist das aktuell so geregelt, dass der Abnehmer das, was er bestellt hat, trotzdem abnehmen muss. Es gibt keinen gesetzlichen Anspruch, aus dem man herleiten kann, dass ein Unternehmen die Ware nicht abnehmen muss.

 

Und beim Lieferanten: Was passiert, wenn Produktionsstätten geschlossen werden und ich die bestellte Ware eben nicht mehr liefern kann?

Dann kommt es darauf an, dass man sich den Gesamtmarkt anschaut und Ersatzbeschaffungen prüft, um die Lieferfähigkeit sicherzustellen. Ich kann mich als Unternehmen nur dann auf Corona berufen, wenn ich auch tatsächlich versucht habe, Ersatzlieferungen zu bekommen. Ich muss dabei nachweisen, dass es mir nicht möglich war, diese zu erhalten. Und das ist wirklich wichtig, deshalb rate ich Unternehmen, die Anfragen zur Ersatzbeschaffung sauber zu dokumentieren. 

Was muss das Unternehmen bei der Dokumentation beachten?

Sofern es in den Verträgen nicht dezidiert anders geregelt, kann die Dokumentation formlos erfolgen. Am besten ist eine E-Mail, aus der hervorgeht, dass der alte Lieferant nicht liefern kann. Dann wäre es auch noch gut, wenn die E-Mails zeigen, dass man bei anderen Lieferanten nachgefragt hat und diese eine Lieferung ablehnen oder nicht fristgerecht liefern können. 

Und wenn der Ersatzlieferant liefern kann, dafür aber mehr Geld verlangt?

Hier ist die Risikoverteilung so geregelt, dass ein Unternehmen diese höheren Preise bis zu einem gewissen Maß selbst tragen muss. Nur dann, wenn der Preis extrem hoch wäre, beispielsweise 150 Prozent höher als ursprünglich, kann das Unternehmen über eine Vertragsanpassung nachdenken und die höheren Kosten durchreichen. Momentan sind Preissteigerungen von rund 30 Prozent noch moderat, das muss der Lieferant tragen. Aber da gibt es noch keine Rechtsprechung, das muss sich erst noch rauskristallisieren. In jedem Fall sollte auch dokumentiert werden, wenn die Lieferung zu einem deutlich höheren Preis erfolgt. 

Wie beurteilen Sie die aktuellen gesetzlichen Anpassungen: Hilft die Politik bei den Lieferkettenproblemen?

Gerade wenn es um die gesetzliche Regelung von Vertragspflichten geht, habe ich den Eindruck, dass beim Covid-19-Maßnahmenpaket der Mittelstand nicht im Zentrum der Überlegungen stand.

Woran machen Sie fest, dass der Mittelstand vergessen wurde?

Es gibt ein Moratorium, nach dem sämtliche Leistungen, die im Vertrag erfüllt werden müssen, bis zum 30. Juni ausgesetzt werden können. Dazu gehören auch Lieferpflichten der Lieferanten und Zahlungspflicht des Abnehmers. Das Problem: Die Anwendbarkeit wurde eingeschränkt, und zwar so, dass dieses Moratorium jetzt nur für Verbraucher und Kleinstunternehmen gilt. Hätte die Bundesregierung das Moratorium indes auf den Mittelstand ausgedehnt, dann hätten die Unternehmen hinsichtlich der Liquidität sehr viel weniger Probleme. Mit einer Ausweitung des Moratoriums hätten alle Unternehmen bis zum 30. Juni ihre Zahlungen stunden können. 

Klingt einfach, warum hat die Politik das nicht bedacht?

Ich weiß es auch nicht, zumal der erste Gesetzesentwurf diese Einschränkung gar nicht enthalten hat. Erst im späteren Verlauf wurde das Moratorium auf Verbraucher und Kleinstunternehmen beschränkt. Irgendwie sollte das wohl eine Kompromisslösung sein, weil man davon ausging, dass Verbraucher und Kleinstunternehmen am stärksten betroffen und deshalb besonders schutzwürdig sind. Womöglich wurde auf die Schnelle nicht darauf geachtet, dass das Moratorium auch auf anderen Stufen entscheidend ist.

Und nun?

Die Regierung sollte nochmal darüber nachdenken, diese Lücken zu schließen. Und das tut sie, glaube ich, auch, überall wird das Gesetz ja derzeit nachgeschärft. Wenn nun noch dieses Moratorium aufgestockt würde, könnte man die Phase absichern, bis die Unterstützungskredite ausgezahlt werden. Das würde dem Mittelstand im Bereich Lieferbeziehungen und Lieferketten wirklich helfen.

Bislang sind die Unternehmen aber auf sich selbst gestellt. Wie können sie nun gemeinsam durch die Krise kommen, ohne das Risiko aufeinander abzuwälzen?

Das ist ein Ansatz, den ich bislang noch selten erlebt habe. Wenn sich nun ein Lieferant ein Szenario überlegen würde, wie er die Probleme der gesamten Kette einbindet, dann ließen sich so gegenseitig bessere Zugeständnisse machen. Dazu müssten die Firmen die gesamte Lieferkette bei den Überlegungen, wie sie das Thema behandeln wollen, in Betracht ziehen. Momentan fokussieren die meisten ihre Überlegungen darauf, wie sich ein einzelnes Unternehmen in einer speziellen Lieferbeziehung am besten aufstellen kann. 

Was braucht es für einen solchen „Corona-Bund“?

Ein Unternehmer müsste die Führung übernehmen und mit einem konkreten Vorschlag auf die anderen Akteure zugehen. Das kann auch bloß ein Thesenpapier sein, wo das akute Problem erklärt wird und wie der Lösungsvorschlag unter Beteiligung der gesamte Lieferkette aussehen kann. Wenn es dann ein gemeinsames Verständnis gibt, reicht eigentlich eine einfache Telefonkonferenz, um das restliche Vorgehen zu besprechen. 

Wie realistisch ist das: tragfähige Bündnisse im deutschen Mittelstand?

Schwer zu sagen. Noch glauben die Unternehmen ja, sie schaffen das allein, und entwickeln ihre Maßnahmen einzeln für sich. Natürlich könnte auch ein Umdenken stattfinden, je länger die Krise dauert und je einschneidender die Auswirkungen sind. Aber vielleicht ist es dafür noch zu früh. Damit der Mittelstand wirklich zusammenarbeitet, muss der Leidensdruck wohl noch weiter steigen.

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