Deutscher Mittelstand: Der Wert der Gemeinschaft
Der deutsche Mittelstand kämpft gegen Bürokratie, Einsamkeit und Abwanderung. Können Unternehmen wie Würth und Goldbeck das Erfolgsmodell retten?

Deutschlands Erfolg gründet auf Dezentralität und Miteinander vor Ort. Doch das Modell ist ernsthaft in Gefahr. Viele Mittelständler stemmen sich dagegen.
Von Thorsten Giersch.
Mittelstand: Mehr als Wirtschaft – Ein gelebter Wert
Was ist „der Mittelstand"? Ein Sammelbegriff für Unternehmen einer gewissen Größe? Nein, für so etwas gibt es technische Begriffe wie KMU, die klar definiert sind: maximal 50 Millionen Euro Umsatz und maximal 250 Beschäftigte. Mittelstand hat auch, aber bei weitem nicht nur, mit der Eigentümerstruktur zu tun. Dafür gibt es eher den Begriff Familienunternehmen, wozu allerdings auch Volkswagen, Beiersdorf und andere börsennotierte Weltkonzerne gehören.
Mittelstand ist eine Haltung. Eine Idee, die weit über das rein unternehmerische Denken hinausgeht. Ein Prinzip, das für dieses Land absolut prägend wurde. Das Prinzip Mittelstand entstand nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland am Boden lag wie noch nie in seiner Geschichte. Was in den Jahren nach 1945 passierte, ist als Wirtschaftswunder in die Geschichte eingegangen und gilt bis heute als Paradebeispiel dafür, wie eine Wirtschaft wieder flottgemacht werden kann. Die Erfolgsformel hinter diesem Jahrhundert-Comeback beschreibt der britische Ökonom Paul Collier in seinem Bestseller „Aufstieg der Abgehängten". Sein Spezialgebiet: Herauszufinden, wie es einige Regionen schaffen, sich aus schwierigen Situationen zu befreien und andere nicht. Ein wiederkehrendes Erfolgsrezept lautet Dezentralität – die Kraft der lokalen Gemeinschaft vor Ort.
Collier erklärt in seinem Buch die Geschichte Westdeutschlands unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zum besten Beispiel: Trotz der Zerstörung und der tiefgreifenden sozialen Umbrüche zeigte sich eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Selbstorganisation und zum Wiederaufbau. Ein zentraler Punkt war dabei die Bedeutung lokaler Strukturen. Gemeinden und Städte, die trotz des Krieges intakt geblieben waren, bildeten das Rückgrat für den Wiederaufbau. Auch der Mittelstand, wie wir ihn kennen, wurde so geboren. Diese bestehenden Netzwerke ermöglichten es den Menschen, schnell wieder in ein normales Leben zurückzukehren. Besonders hervorzuheben ist das Engagement der Zivilgesellschaft, von Vereinen, Kirchen und anderen Organisationen. Ein starkes Gemeinschaftsgefühl und eine ausgeprägte Solidarität unter den Menschen halfen dabei, die schwierigen Bedingungen zu meistern. Nur so ließ sich die Bevölkerung versorgen, die Infrastruktur wieder aufbauen, neue Arbeitsplätze schaffen.
Collier betont die Bedeutung dezentraler Entscheidungen. Die Alliierten, besonders die Amerikaner, ermöglichten den Deutschen viel Freiheit, den Wiederaufbau zu gestalten. Diese Freiheit, lokale Lösungen zu finden, trug maßgeblich zum Erfolg bei. Politik, Unternehmer, lokale Bankhäuser und Vereine regelten Dinge pragmatisch. Die Marktwirtschaft und die Hilfe durch den Marshallplan waren nützliche Rahmenbedingungen für einen rasanten Wiederaufbau, aber dessen Grundlage war das Prinzip Mittelstand.
Allerdings gefährden heute viele Faktoren das Prinzip Mittelstand. Die Menschen vereinsamen. In der Gesellschaft als Ganzes fördert das den Aufstieg populistischer Parteien. Und in den Unternehmen hemmt es die Produktivität. Dem Deutschland-Barometer Depression der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention zufolge fühlt sich inzwischen jeder vierte in Deutschland einsam. Immer mehr Menschen ziehen in Städte, die zwar bessere Chancen bieten, aber anonymer und unübersichtlicher sind. Deshalb fühlen sich vor allem Städter oft isoliert. In Deutschland arbeiten rechnerisch zwar immer weniger Menschen im Niedriglohnsektor, aber dennoch wächst die soziale Ungleichheit.
Dann ist da die Digitalisierung, die zwar neue Möglichkeiten bietet, sich mit anderen zu verbinden. Tatsächlich kapseln sich die Menschen dadurch aber noch mehr ab. Sie bestellen sich ihr Essen nach Hause, statt ins Restaurant zu gehen. Sie schauen daheim Netflix, statt mit Freunden das Kino zu besuchen. Zudem hat die Fähigkeit, sich (digital) ständig neu zu erfinden, es gar zu müssen, ihren Preis. Viele fühlen sich überfordert und leer.

Die besten Mittelständler 2025 - das Ranking
Jährlich veröffentlichen wir ein exklusives Ranking der herausragendsten mittelständischen Unternehmen Deutschlands.
Die Bewertung für die TOP Mittelständler basiert auf einem umfassenden Scoringsystem mit 39 Kriterien. Dabei geht die Analyse weit über reine Umsatzzahlen hinaus: Maßgebliche Einflussfaktoren sind zum Beispiel:
- Umsatz
- Innovationskraft
- Forschungsaktivitäten
- Investitionen
- Digitale Sichtbarkeit
- Patentstärke
- Strategische Kooperationen
- Zertifizierungen
Ergänzt wird dieses Verfahren durch essenzielle nachhaltigkeitsbezogene Kennzahlen, die den zukunftsweisenden Anspruch der Unternehmen unterstreichen.
Unser wissenschaftlicher Partner für das Ranking ist "Die Deutsche Wirtschaft "
zur Liste der 100 besten Mittelständischen Unternehmen in 2025
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Einsam im Homeoffice
Auch die Arbeit ändert sich. Mehr Teilzeitjobs und Automatisierung verringern die sozialen Kontakte am Arbeitsplatz. Zu diesen langfristigen Trends kam dann auch noch die Corona-Pandemie dazu, in der Treffen auf das Nötigste beschränkt waren. Viele Vereine sind bis heute nicht wieder auf dem Niveau wie vor 2020. In Gemeindehäusern laufen weniger Veranstaltungen. Obwohl die Deutschen weniger arbeiten als je zuvor, steigt die Ehrenamtsbeteiligung nicht.
Früher war der Arbeitsplatz ein Ort, an dem man sich selbst finden konnte. Heute ist er oft ein Ort, an dem man sich selbst verliert. Der Arbeit fehlt die traditionelle Rolle als Identitätsgeber und wird zunehmend als Mittel zum Zweck gesehen. Wer sagt, dass Job eben Job sei und der Beruf die Beziehung zwischen Menschen nicht stärken kann, verkennt Forschungsergebnisse. Dabei gibt es keine einfachen Antworten. Mehr Präsenz führt keineswegs zu mehr Gemeinschaftssinn – zumindest nicht automatisch. Auch Teamarbeit kann einsam machen, wenn zu wenig Nähe entsteht. Forscher raten vor allem dazu, die Hürden für soziale Kontakte niedrig zu halten.
Was Wissenschaftler jüngst in großen Studien herausgefunden haben, weiß man im baden-württembergischen Künzelsau schon lange. Und an all den vielen anderen Orten, wo der Mittelstand zu Hause ist. Was man gegen Einsamkeit und für mehr Gemeinschaftsgefühl tun kann, zeigen viele Unternehmen in der Liste der 100 besten Mittelständler, die Markt und Mittelstand jährlich in Zusammenarbeit mit dem Verlag Die Deutsche Wirtschaft errechnet. Zum Beispiel Würth aus Künzelsau. Wer sich im Pressebereich des Unternehmens im Internet umschaut, könnte denken, es sei der eines Heimatvereins, wenn nicht zwischen folgenden Nachrichten die Jahresbilanz des Unternehmens stünde:
- „Spatenstich für Studierendenwohnheim der Reinhold-Würth-Hochschule.“ Das neue Wohnheim soll den Studierenden Zugang zu bezahlbarem Wohnraum ermöglichen.
- „Stiftung Würth spendet 25.000 Euro an die Caritas Heilbronn-Hohenlohe.“ Gedacht für deren ehrenamtliche Integrationsarbeit für geflüchtete Menschen.
- „Die Würth Philharmoniker bringen neues Album heraus.“ Für all die, die nicht an den Konzerten im Carmen-Würth-Forum in Künzelsau dabei sein können.
- „Das Programm für das Würth Open Air 2025 steht fest.“ Bryan Adams kommt nach Künzelsau.
Nun gut, das alles muss man sich leisten können. Und zugegeben: Die Region an seinem Gewinn teilhaben zu lassen, fällt Unternehmen, die nicht an der Börse notiert sind, leichter als dem Aktienrecht unterstehende Konzerne. Letztere erstellen dann auch gleich – wenn sie schon Gutes tun – einen CSR-Hinweis auf der Homepage und lassen jede Maßnahme in den ESG-Bericht einfließen. Doch längst ist die Welt des Mittelstands nicht mehr so heil. Das jüngste LAE-Panel, eine Befragung unter 1170 Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Verwaltung, belegt, dass eine Mehrheit skeptisch in die Zukunft blickt. Auf die Frage „Wird es Ihrer Meinung nach mittelständischen Betrieben am Ende dieses Jahres besser gehen als Ende 2024?“, antworte ein Drittel, „unverändert“, aber mit 45 Prozent fast doppelt so viele „schlechter“ als „besser“ (23 Prozent).

Investitionen im Ausland
Das beinhaltet auch die Frage, wie stark Familienunternehmen ihre Produktion ins Ausland verlagern. Hinter vorgehaltener Hand sagen Banker, dass sie an den Mittelstand zwar noch Kredite vergeben, diese aber kaum noch für Investitionen in Deutschland gedacht sind. Umfragen und Studien belegen diesen empirischen Befund. Der EY-Studie „Wirtschaftsstandort Deutschland" zufolge plant jedes dritte Industrieunternehmen, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. 63 Prozent rechnen mit einem Stellenabbau in Deutschland. 45 Prozent der Unternehmen planen, neue Standorte außerhalb Deutschlands zu errichten, aber nur 13 Prozent hierzulande. Mit der Expansion ins Ausland wandern häufig auch Arbeitsplätze ab. „Angesichts düsterer Konjunkturaussichten auf dem Heimatmarkt orientieren sich viele Unternehmen ins Ausland, um dort von besseren Rahmenbedingungen zu profitieren", sagt Jan Brorhilker, Managing-Partner des Geschäftsbereichs Assurance von EY in Deutschland.
Die Gründe sind bekannt: 70 Prozent der befragten Führungskräfte bezeichnen bürokratische Vorgaben als eine der wichtigsten Hindernisse für eine wirtschaftliche Erholung. Dazu kommt die Wachstumsbremse Fachkräftemangel, außerdem politische Fehlentscheidungen und eine ineffiziente Verwaltung. Vieles, was in Berlin beispielsweise in Sachen Dekarbonisierung und Wärmewende entschieden werde, sei gut gemeint, sagt Brorhilker. „Weil aber längst nicht alle Verwaltungen an einem Strang ziehen und weil in den Ländern, Kreisen und Gemeinden oft qualifizierte Fachkräfte fehlen, herrscht vor Ort Unklarheit und Unkenntnis, sodass sich Genehmigungsverfahren oft unendlich lang hinziehen." Wer in Deutschland neu investieren wolle, müsse viel Zeit und Geduld mitbringen. Im Ausland gehe es schneller. Eine neue Willkommenskultur für Industrieunternehmen sei nötig.
Auch die meisten der 100 besten Mittelständler wachsen vor allem im Ausland. Beim Blick auf die Veränderungen von 2025 zu den Vorjahren fallen mehrere Dinge auf. Vor allem erkennt man hier eine enorme Vielfalt im Hinblick auf die Branchen – ganz anders als im Deutschen Aktienindex Dax zum Beispiel oder insgesamt in der deutschen Wirtschaft. Deren Fokus auf die Autoindustrie war jahrzehntelang eine Cashcow, gilt heute aber als Klumpenrisiko. Ganz anders die Top 100: Hier reihen sich Unternehmen aus praktisch allen Branchen aneinander, Schwerpunkte im Sinne von Cluster-Risiken sind nicht zu erkennen.
Eine zweite Auffälligkeit ist vor allem in diesem Jahr, dass sich einige Unternehmen stark entwickeln, obwohl es ihren jeweiligen Branchen nicht gut geht: Goldbeck zum Beispiel. Der Bielefelder Baukonzern stieg binnen zwei Jahren von Rang 41 auf Platz 20 – und das trotz all der Negativberichte aus der Immobilienbranche. Aus dieser stammt auch das Unternehmen Leonhard Weiss, das es in diesem Jahr erstmals in die Top 100 schafft. Auch Schuhhändler Deichmann, Europas Nummer 1, zeigt sich ungeachtet des hohen Drucks auf den Einzelhandel in den deutschen Innenstädten sehr erfolgreich und klettert im Ranking. Inzwischen stehen die Essener auf Rang 16.
In der Liste der 100 besten Mittelständler ist das Familienunternehmen vom ohnehin schon guten Platz 21 auf Platz 16 gestiegen, 2023 lag das Unternehmen noch auf Platz 28. Und der Konzern will wachsen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. 370 Millionen Euro will Deichmann in Ausbau und Modernisierung seiner Geschäfte sowie in die weitere Digitalisierung stecken.
Dass viele der größten deutschen Familienunternehmen nicht in Großstädten ansässig sind, ist so bekannt wie bemerkenswert. Manch Ort ist vielen Menschen nur wegen des Weltmarktführers dort bekannt, Künzelsau zum Beispiel. Oder kennen Sie Blomberg, Spelle, Rehau? Aber es gibt auch Verschiebungen, und manche Aspekte der Verteilung der Standorte von Deutschlands 100 wichtigsten Mittelständlern verdienen auch aus aktuellen Gründen ein besonderes Augenmerk. Auf der Deutschlandkarte zeigt sich, dass die Zentralen der besten Mittelständler nicht gleichmäßig verteilt sind. In einigen Gegenden scheint der eine Betrieb den anderen geradezu angezogen zu haben. Was vor allem auffällt: Deutschland ist auf der Karte der 100 Besten noch immer geteilt in den Westen und den Osten.