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Zukunftsmärkte > Das Land wird der selbst auferlegten fiskalischen Zwangsjacke überdrüssig

Deutschlands Schuldenbremse und die Kunst der Haushaltsfantasie

Wie ein sich windender Harry Houdini hat sich die deutsche Regierung wieder einmal aus einer Zwangsjacke befreit, die sie sich selbst angelegt hat.

Quelle: Picture Alliance

Nachdem sie am 5. Juli eine selbst gesetzte Frist für den Abschluss eines Haushaltsentwurfs für das Jahr 2025 verstreichen ließ, haben die Unterhändler der Koalition die Nacht durchgemacht, um eine zweite zu vermeiden. Das Ergebnis, so ein verschlafener Olaf Scholz, der deutsche Bundeskanzler, sei ein "Kunstwerk".

Das ist vielleicht etwas übertrieben. Aber im Vorfeld der Gespräche waren Schätzungen über eine Haushaltslücke von über 40 Mrd. € (etwa 1 % des BIP) für das Jahr im Umlauf. Die Schließung dieser Lücke hätte die Regierung fast in den Ruin getrieben. Aber am Ende wurde Geld für verschiedene Lieblingsprojekte und sogar einige Steuererleichterungen gefunden. Wenn der Haushalt nicht so streng ist, wie manche befürchtet hatten, so liegt das zum Teil daran, dass Finanzminister Christian Lindner seinen Ruf als Deutschlands finanzpolitischer Falke mit einer ruhigen Flexibilität bei den Verhandlungen widerlegt hat.

Aus dieser Erfahrung lassen sich zwei Lehren ziehen. Die erste ist, dass die unpopuläre Drei-Parteien-Koalition in Deutschland so zerrissen ist, dass Routineverhandlungen zu dramatischen Momenten werden. Der Prozess war von Anfang an politisiert, und die Herren Scholz, Lindner und Habek haben unzählige Stunden damit verbracht, die Zahlen zu addieren. Die Sozialdemokraten von Scholz, die von einem schlechten Ergebnis bei den Europawahlen gezeichnet sind, stritten öffentlich mit den Freien Demokraten von Lindner über die Schuldenbremse, die die Kreditaufnahme begrenzt. Nach der Sommerpause und den schwierigen Landtagswahlen im Osten Deutschlands im September wird sich das Parlament an die Verabschiedung des Haushalts machen. Das wird der nächste Anlass für Streit sein.

Die zweite Lektion ist, dass die Schuldenbremse selbst, eine 15 Jahre alte Verfassungsbestimmung, die das jährliche strukturelle Defizit auf 0,35% des BIP begrenzt, den Haushaltsprozess in immer absurdere Höhen treibt. Angesichts der schleppenden Konjunktur in Deutschland, die die Einnahmen stagnieren lässt, zwingen die komplexen Bestimmungen die Politiker zu endlosen buchhalterischen Schnaufereien: Subventionen werden beispielsweise als Kredite getarnt oder Zinszahlungen umgeschuldet. Herr Lindner sagt, die Schuldenbremse vermeide die Belastung künftiger Generationen. Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank, rechnet jedoch damit, dass Deutschland ein Defizit von 1,5 bis 2 % erreichen könnte, ohne seine nicht sehr hohe Schuldenlast merklich zu erhöhen.

Sich selbst die Hände zu binden, erscheint wenig hilfreich, wenn Deutschland mit einem kommunalen Investitionsstau von fast 190 Milliarden Euro, großen Herausforderungen bei der Dekarbonisierung der Schwerindustrie und Fragen zur langfristigen Finanzierung der Verteidigung konfrontiert ist. "Die Schuldenbremse zwingt die Politiker nicht dazu, Prioritäten zu setzen, sondern ermutigt sie vielmehr dazu, die ökonomische Fantasie spielen zu lassen und Deutschlands tatsächliche Herausforderungen zu ignorieren", sagt Philippa Sigl-Glöckner vom Dezernat Zukunft, einem finanzpolitischen Think-Tank. Alle, vom IWF bis zur deutschen Industrie, wollen die Schuldenbremse jetzt reformieren. Die für eine Änderung notwendige Zweidrittelmehrheit ist vor der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2025 wohl nicht mehr zu erreichen. Sollten die konservativen Christdemokraten jedoch, wie die Umfragen vermuten lassen, in die Regierung zurückkehren, so ist zu erwarten, dass sie eine Reformdiskussion eröffnen werden, die ihnen und ihren Ministerpräsidenten in den Bundesländern, wo die Bremse noch stärker drückt, den Übergang zu einer vernünftigen Haushaltsführung erleichtert. Im Gegensatz zu Houdini ist Deutschland der Zwangsjacken überdrüssig.

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Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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