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Zukunftsmärkte > Deutschlands Abstieg

Deutschlands Wirtschaft am Abgrund: Geplatzte Träume und verlorene Konkurrenzfähigkeit

Deutschlands Wirtschaft leidet unter Rezession, Arbeitskräftemangel und hohen Energiekosten. Kurzfristige Erholung wird strukturelle Probleme nicht lösen.

Deutschland steckt in einer selbstgemachten Wirtschaftskrise. Die politische Landschaft ist ein Schlachtfeld, die zerstrittene Dreierkoalition lähmt jegliche Hoffnung auf eine entschlossene Reaktion. (Foto: shutterstock)

Mit teutonischem Understatement stellte Robert Habeck fest, dass die wirtschaftliche Lage "nicht zufriedenstellend" sei. Der deutsche Wirtschaftsminister hat sich am 9. Oktober geäußert, kurz nachdem die offiziellen Prognosen für das Jahr von einem Wachstum von 0,3 % auf einen Rückgang von 0,2 % korrigiert worden waren. Dies würde auf einen Produktionsrückgang von 0,3 % im letzten Jahr folgen, was bedeutet, dass Deutschland vor seiner ersten zweijährigen Rezession in mehr als zwei Jahrzehnten steht.

Deutschland als Hemmschuh in der europäsichen Wirtschaft

Die größte europäische Volkswirtschaft hat sich seit dem Einbruch von Covid-19 kaum weiterentwickelt und liegt hinter dem Rest der reichen Welt zurück. Isabel Schnabel von der Europäischen Zentralbank hat festgestellt, dass das Wachstum in der Eurozone ohne Deutschland seit 2021 "bemerkenswert robust" und schneller als das vieler anderer großer Volkswirtschaften war. Aber über die Wirtschaft der Eurozone ohne Deutschland zu sprechen, ist wie über die amerikanische Wirtschaft ohne Kalifornien und Texas zu sprechen. Das Land, einst ein Motor des europäischen Wachstums, ist zu einem Hemmschuh geworden.
 
Es ist schwer vorstellbar, dass es für die exportabhängige und verarbeitungsintensive deutsche Wirtschaft ein schlimmeres Zusammentreffen von Umständen gibt als die, mit denen sie seit 2021 konfrontiert ist. Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine schnellten die Energiepreise in die Höhe, und nun sorgen Chinas industrielle Überkapazitäten im Ausland für Verwüstung. So tröstlich es auch sein mag, die wirtschaftliche Schwäche auf externe Faktoren zu schieben, die Probleme in Deutschland liegen tiefer und sind zum Teil hausgemacht. Hinzu kommt, dass eine zerstrittene Dreierkoalition die politische Reaktion erschwert.

Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und China haben sich verschoben

Die Industrieproduktion hat sich in den letzten Jahren schwer getan. Energieintensive Branchen wie die chemische Industrie, die Metallverarbeitung und die Papierherstellung sind besonders stark betroffen. Auf diese Sektoren entfallen nur 16 % der deutschen Industrieproduktion, sie verbrauchen aber fast 80 % der industriellen Energie. Viele Unternehmen reagierten auf die höheren Energiekosten mit Produktionspausen.

Ein größeres Problem für die meisten Unternehmen sind die sich verändernden Muster der globalen Nachfrage. Wie Pictet Wealth Management festgestellt hat, haben sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und China verschoben. In den 2010er Jahren war das Wachstum der beiden Länder komplementär: Deutschland verkaufte Autos, Chemikalien und Maschinen nach China und kaufte im Gegenzug Konsumgüter und Vorleistungen wie Batterien und elektronische Bauteile. Heute ist China in der Lage, vieles von dem, was es früher importiert hat, selbst zu produzieren, und ist in einigen Fällen zu einem ernsthaften Konkurrenten um Exportmärkte geworden, nicht zuletzt beim Rückgrat der Exportwirtschaft: der Autoindustrie.

Doch der Pessimismus über die deutsche Industrie kann übertrieben sein. Obwohl die Produktion des verarbeitenden Gewerbes seit 2020 zurückgegangen ist, ist die Bruttowertschöpfung bemerkenswert stabil geblieben. Die Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes waren in vielen Fällen in der Lage, sich auf die Herstellung höherwertiger Produkte zu verlagern, auch wenn sie Marktanteile verloren haben. Und im vergangenen Jahr, als die Gesamtwirtschaft schrumpfte, trug der Handel weiterhin zum Wachstum bei, was sich in diesem Jahr wohl wiederholen wird.

Höhere Realeinkommen der privaten Haushalte, die mit dem Rückgang der Inflation einhergehen, haben nur langsam zu einer höheren Nachfrage geführt, sollten sich aber schließlich in den Verbraucherausgaben niederschlagen. Die schlimmste Energieknappheit der Industrie liegt ebenfalls hinter uns. Die meisten Beobachter erwarten für das nächste Jahr eine Belebung des Wachstums. Die Regierung rechnet mit einem Wachstum von 1,1 % im Jahr 2025 und 1,6 % im Jahr 2026, wobei sie davon ausgeht, dass sich der private Verbrauch wieder erholen wird. Mit einiger Skepsis nehmen die Minister an, dass dies zum Teil aufgrund ihrer eigenen wachstumsfördernden Politik geschehen wird.
 

 

Rückblick

Zu Beginn des Jahrhunderts hatte Deutschland mit der Wiedervereinigung zu kämpfen. Das Preisniveau war höher als in anderen Ländern des gemeinsamen Währungsraums. Anfang der 2000er Jahre dämpften die Hartz-Reformen, zu denen auch die Liberalisierung des Arbeitsmarktes gehörte, die Kosten, indem sie die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer schwächten. Gleichzeitig trieb das schuldengetriebene Wachstum in Südeuropa das Preisniveau im gesamten Euroraum in die Höhe. Mit der Zeit erodierte dieser Wettbewerbsvorteil jedoch.

 

 

Das deutsche BIP lag Ende 2021 nur 1 % über dem Niveau von vor vier Jahren, verglichen mit 5 % Wachstum in der übrigen Eurozone

Ein überfälliger Aufschwung würde jedoch nicht bedeuten, dass die länger andauernden strukturellen Probleme überwunden sind. In Wirklichkeit geht die wirtschaftliche Schwäche Deutschlands den jüngsten geopolitischen und wirtschaftlichen Schocks voraus. Wie Frau Schnabel diesen Monat feststellte, lag das deutsche BIP Ende 2021 nur 1 % über dem Niveau von vor vier Jahren, verglichen mit 5 % Wachstum in der übrigen Eurozone und mehr als 10 % in Amerika. Der deutsche Erfolg in den 2010er Jahren spiegelt den Wettbewerbsvorteil des Landes gegenüber dem Rest Europas wider.

Nach der Schuldenkrise Anfang der 2010er Jahre leiteten die europäischen Volkswirtschaften der Peripherie ihre eigenen Strukturreformen ein. Ab 2015 begannen die deutschen Lohnkosten nach einem Jahrzehnt der Mäßigung schneller zu wachsen. Bis 2019 hatte sich der Preisabstand zwischen Deutschland und dem übrigen Euroraum verringert. Die Auswirkungen der Energieverknappung, bei der Deutschland besonders von russischem Gas abhängig ist, haben das Preisniveau des Landes in die Höhe getrieben. Zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten hat Deutschland keinen Kostenvorteil gegenüber den anderen Ländern der Eurozone.

Die deutsche Wirtschaft zeigte Anzeichen von Anspannung, lange bevor die Pandemie zuschlug

Während Deutschland mit diesem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit zu kämpfen hat, muss es sich auch mit dem demografischen Wandel auseinandersetzen. In den letzten Jahren wurde die Überalterung der Bevölkerung durch hohe Zuwanderung ausgeglichen. Doch jetzt kommen weniger Migranten, so dass den Unternehmen Arbeitskräfte fehlen. Insgesamt erwartet der IWF , dass die deutsche Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in den kommenden fünf Jahren um 0,5 % pro Jahr schrumpfen wird, der stärkste Rückgang in einer großen Volkswirtschaft.
 
IWF -Beamte sagen, dass sich das deutsche Wirtschaftswachstum auf 0,7 % pro Jahr einpendeln wird, die Hälfte des Niveaus vor der Pandemie, wenn sich die Produktivität nicht verbessert. Eine Erhöhung der Staatsausgaben könnte das Wachstum ankurbeln, aber die Minister sind durch selbst auferlegte Haushaltsregeln eingeschränkt. Die jährlichen öffentlichen Nettoinvestitionen sind von 1 % des BIP in den frühen 1990er Jahren auf Null gesunken. Obwohl die Kritik an der "Schuldenbremse", die das strukturelle Defizit des Bundes auf 0,35% des BIP pro Jahr begrenzt, häufiger geworden ist, erwarten nur wenige Beobachter eine Änderung vor der Bundestagswahl im nächsten Jahr.
 
Die Rezession in Deutschland ist sowohl für die Deutschen selbst als auch für die Eurozone im Allgemeinen schmerzhaft. Eine wirtschaftliche Erholung im nächsten Jahr, die durch eine geringere Inflation und niedrigere Energiekosten hervorgerufen wird, wird die strukturellen Probleme nicht lindern. Die deutsche Wirtschaft zeigte Anzeichen von Anspannung, lange bevor die Pandemie zuschlug, Russland in die Ukraine einmarschierte und China begann, Geld in die angeschlagene Industrie zu stecken. Sie wird noch einige Zeit lang Anzeichen von Anspannung zeigen.

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Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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