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Zukunftsmärkte > Papierhersteller

Die Walzen dürfen nicht kalt werden

Der älteste Datenträger der Welt fällt der Energiekrise zum Opfer: Papier. Doch die Branche stemmt sich gegen den Trend.

Der älteste Datenträger der Welt fällt der Energiekrise zum Opfer: PapierBildquelle: judithwagner.com

Papier: Die einen denken bei diesem Wort an einen ausrangierten Datenträger, der seine Blütezeit mit der Erfindung des Buchdrucks feierte und sich seitdem auf dem absteigenden Ast befindet. Die anderen streichen begeistert mit der Fingerkuppe über eine hauchzart angeraute Fläche, stellen fest, dass das Material als Verpackung oft die bessere Alternative zu Kunststoff ist und dass der gesamte Online-Versand-Boom ohne Kartons ein jähes Ende fände. Michael Sablatnig denkt an Lebensmittel, Pflanzennamen, Kaffeesatz – und Energiekosten.

Der Österreicher, papierweißes Haar, papierweißes Hemd, ist seit Jahrzehnten im Geschäft, inzwischen lenkt er die Geschicke bei Reflex, einem rund 100 Mitarbeiter großen Hersteller besonders feiner Papiere. Seit 160 Jahren liefert die Fabrik in Düren feinstes Material für grafische Anwendungen, inzwischen aber auch Profaneres für Verpackungen und Spezielles, in das sich Lebensmittel so einwickeln lassen, dass das Aroma lange erhalten bleibt. Sogar ein Papier, das Röstrückstände aus der Kaffeeproduktion enthält, ist im Angebot. Sablatnig und seine Belegschaft stehen mit einem Bein in einer Nische, versorgen die, die fast eine Art Liebesbeziehung zum Werkstoff Papier entwickelt haben. Mit dem anderen Bein stehen sie in einem boomenden Markt, dort, wo Papier als Massenware zum Verpacken verbraucht wird. 10.000 Tonnen produziert Reflex pro Jahr. In diesem Monat erlebt Sablatnig eine Premiere in seiner langen Laufbahn, auf die er lieber verzichtet hätte: „Unsere Energiekosten übersteigen zum ersten Mal die Personalkosten.“

Für die Betriebe der deutschen Papier- und Zelluloseindustrie wird die Luft dünn. Die Branche kommt mit ihren noch 105 meist mittelständischen Betrieben nach China, den USA und Japan auf Platz vier in der Weltrangliste. Knapp die Hälfte der Produktion von Papier, Pappe und Karton geht in den Export. Noch. Denn vor allem kleineren Herstellern schnüren die Energiekosten die Luft zum Atmen ab. „Ich kenne sieben Betriebe, die ihre Produktion vorübergehend eingestellt haben, denn die Fertigung lohnt nicht mehr“, sagt Gregor Geiger, Geschäftsführer des Fachverbandes der papierherstellenden Unternehmen. Einer davon ist der finnische Konzern Metsä Tissue, der sich in Düren die ehrwürdigen Werkhallen mit Reflex teilt.

 

Fertigung rund um die Uhr

Roter Backstein, vorne ein eigenes Pförtnerhäuschen, ganz hinten ein topmodernes Hochregallager, dazwischen Platz für zehn Mal mehr Menschen, als jetzt hier arbeiten: Die Reflex-Papierfabrik in Düren ist schon mal als Filmkulisse für Dreharbeiten in die engere Auswahl gekommen. Denn eine derart intakte Industriearchitektur aus dem vorletzten Jahrhundert ist inzwischen rar geworden im Westen Deutschlands. In der Mitte des Industriegeländes thront das hübsche Häuschen der Fabrikleitung, das aber auch schon bessere Tage gesehen hat. Sablatnig biegt links davon ab und geht hinüber in die Halle. Dort läuft die Papiermaschine, entwässert, presst, trocknet mithilfe Dutzender rotierender Walzen. Draußen ist es heiß, in der Halle ist es noch heißer. Wie bei Zementwerken und Glasproduzenten läuft auch bei den Papierherstellern die Fertigung ganzjährig und rund um die Uhr. Reflex produziert hier im Drei-Schicht-Betrieb. Am besten wäre es, wenn die Walzen niemals kalt werden. Papier herzustellen, kostet jede Menge Energie und Wasser. Stolz verweist die Branche darauf, dass der Verbrauch seit 1955 um gut zwei Drittel reduziert wurde. Dennoch ist der Aufwand beachtlich: Je Tonne müssen mehr als 2700 Kilowattstunden aufgewendet werden. Das entspricht dem Jahresverbrauch eines Haushalts mit zwei Personen. Gut 26 Terawattstunden hat die Branche im vergangenen Jahr benötigt – damit könnte man fast jeden zehnten deutschen Haushalt ein Jahr lang mit Energie versorgen.

Gas ist der wichtigste Brennstoff. Ohne Gas könnte die Branche nach eigenen Angaben nur noch zwölf Prozent der gewohnten Menge produzieren. Platz Nummer vier auf der Weltrangliste – das wäre dann vielleicht nur noch ein nostalgisches Gefühl wie das Schreiben mit dem Füllfederhalter.

„Der vollkommen aus den Fugen geratene Energiemarkt führt zu einer regelrechten Kostenexplosion“, klagt Thorsten Bahl, Marketingchef des Herstellers Fripa, der im bayerischen Miltenberg 450 Mitarbeiter beschäftigt. Täglich werden hier unter anderem vier Millionen Röllchen Hygienepapier produziert. Dafür verbrauche das Unternehmen „mehrere Hundert Millionen Kilowattstunden Gas pro Jahr“, erklärt Bahl. Und ergänzt: „So sind wir bereits vor Jahren der Empfehlung der Politik gefolgt und haben auf eine sehr umweltfreundliche Gasturbine gesetzt. Diese Entscheidung belastet uns nun sehr.“

Vor allem die Gasumlage von 2,4 Cent netto je Kilowattstunde verärgert die Unternehmen: „Das ist eine nationale Steuer, die unsere Wettbewerber anderswo nicht haben“, schimpft Verbandsführer Geiger. Für die ohnehin gebeutelte Branche bedeute die Zusatzabgabe in den kommenden 18 Monaten eine Mehrbelastung von einer Milliarde Euro. Das entspreche der gesamten Marge, die die Hersteller im vergangenen Jahr erwirtschaftet hätten.


Das gewisse Etwas

Reflex-Chef Sablatnig kennt sie alle, diese Zahlen. Seine Devise könnte lauten: Bangemachen gilt nicht. Wie zum Trotz führt er seine Besucher an eine verschlossene Gittertür, fingert nach dem Schlüssel, und tritt in das, was die Schatzkammer der Dürener Fabrik sein könnte: Hier liegen die Walzen, in denen die Wasserzeichen eingeprägt sind, die dem Papier das gewisse Etwas verleihen, das sich der Kunde wünscht – Römerturm zum Beispiel oder Gohrsmühle. Marken, die Papierliebhabern die Wangen erröten lassen, kommen von hier. In einem anderen Regal lagern seltene Walzen: eine mit arabischen Koranversen, eine mit feudalem Wappen.

Die Dürener schützten ihre Nische: Der Notar wechselt nicht mal eben so sein Dokumentenpapier, nur weil es teurer geworden ist. Der Zeichner schätzt die zig verschiedenen Tönungen von Weiß in Verbindung mit genau dem richtigen Widerstand, den das Papier gegenüber einem Bleistift liefert, der darüber hinwegkratzt. Künstler brauchen den richtigen Malgrund für Acryl, Aquarell oder Kohlestift. „Unser Vorteil: Mit unserem breiten Maschinenpark und der moderaten Größe des Unternehmens, können wir flexibel auf kleine und große Kundenwünsche sowie Marktbedürfnisse reagieren“, sagt Sablatnig, In Düren liefern sie das Besondere, und die Kunden zahlen dafür.

Das ist alles andere als selbstverständlich. Die großen Druck- und Medienhäuser befürchten, die Schmerzgrenze beim Preis erreicht zu haben, der den Kunden noch zuzumuten ist. „Wir sind mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem wir aufpassen müssen, dass das Printgeschäft angesichts der dramatischen Verteuerungen überhaupt noch rentabel ist“, warnt Präsident Wolfgang Poppen vom Bundesverband Druck und Medien. Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchverlage hätten kaum Möglichkeiten, die gestiegenen Papierkosten weiterzugeben. Wichtige Kunden kehren den Verlagen inzwischen den Rücken. So verzichtet die Baumarktkette Obi künftig auf den Druck von Werbeprospekten. Auch der Einzelhandelskonzern Rewe will keine Handzettel mehr drucken lassen. „Für die deutsche Presselandschaft ist das mittlerweile eine ernst zu nehmende Bedrohung“, warnt Poppen.

Das Beispiel macht deutlich, was für ein Dominoeffekt von den Papierfabriken ausgeht. Die Branche produziert aber auch die Grundmaterialien für jede zweite Verpackung, die in Deutschland verwendet wird. „Ohne Papier, Karton und Pappe kommt nicht eine Schraube von A nach B, wird kein Chip in eine Steuerung eingesetzt, erreicht kein Paket sein Ziel“, beschreibt ein Verbandsmanager die Folgen, sollten die Mitgliedsunternehmen ihre Fertigung im großen Stil herunterfahren. Der Verlust wäre dramatisch, mit nichts vergleichbar. Außer vielleicht mit der Lücke, die ein Künstler hinterlässt, der ohne das Papier aus Düren seine Kunst an den Nagel hängt. 

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