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Zukunftsmärkte > Verkehrsüberwachung

Ein blitzgescheites Geschäftsmodell

Vitronic ist einer der Weltmarktführer für Verkehrsüberwachung. Und baut jetzt schon vor für den Fall, dass Blitzer überflüssig werden.

150.000 Euro kann ein Blitzer schon kosten, Aerosollöschanlage und Video-Alarm- System inklusive.© Vitronic

Es gibt einen Ort in Deutschland, an dem lieben sie Blitzer – oder besser gesagt: Geschwindigkeitsüberwachungsanlagen, wie es offiziell heißt. Liebevoll werden die Geräte hier in Wiesbaden am Stammsitz von Vitronic in Handarbeit zusammengeschraubt. Die 1300 Mitarbeiter wissen um die Krisenfestigkeit ihrer Produkte. Egal, ob die intern FM1 genannten fest installierten „Starenkästen“, oder die mobilen Einheiten namens „Enforcement Trailer“: Behörden ordern die Produkte auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Und das auch wegen der Wutausbrüche der „Opfer“. Wenn es etwas über Menschen aussagt, wie sie reagieren, wenn sie im Auto geblitzt wurden – dann wäre Vitronic ein Psychologe mit globalen Vergleichsmöglichkeiten. Denn immer wieder werden die Geräte zerstört oder schwer beschädigt, was das Geschäft von Vitronic fördert.

Harmonische Übergabe

Überall in der Welt stehen die Geräte des 1984 gegründeten Familienunternehmens an den Straßen. Vitronic gehört zu den drei größten Herstellern, wobei der Markt ohnehin sehr klein ist: Es gibt gerade mal eine Handvoll Wettbewerber. In Deutschland stammt mehr als jeder dritte Blitzer aus Wiesbaden. Daniel Scholz-Stein leitet das Unternehmen seit Frühjahr 2020 – wie Finanzchef Matthias Pörner und Technologiechef Heiko Frohn übrigens Brillenträger, was irgendwie zum Firmennamen passt, der sich aus „visual“ und „electronic“ zusammensetzt.

Vor knapp 40 Jahren gründete Norbert Stein den Betrieb, an dem er heute 51 Prozent der Anteile hält, seine Tochter Jana 49 Prozent. Die Zusammenarbeit mit dem 70 Jahre alten Patriarchen laufe harmonisch, sagt CEO Scholz-Stein.„Norbert Stein hat das operative Geschäft Stück für Stück losgelassen. Heute begleitet er die Geschäftsführung wohlwollend, aber auch kritisch.“ Der Generationenwechsel wurde fünf Jahre vorbereitet. „Als Eigentümer formuliert er seine Anforderungen, hält sich aus dem Operativen dann aber heraus.“

Das Geschäft läuft: Der Umsatz steigt in diesem Jahr auf rund 190 Millionen Euro, der Auftragsbestand liegt bei 250 Millionen Euro. Kein Wunder, schließlich refinanziert sich das Produkt schnell selbst: Zwar kostet so ein Blitzer inklusive Software bis zu 150.000 Euro, aber das Geld spielt das Gerät für die Behörden in überschaubarer Zeit wieder ein. Und in den Ausschreibungen in aller Welt ist Vitronic nicht nur bei der Qualität, sondern auch beim Preis absolut konkurrenzfähig – das zum Thema Made in Germany. Die Kapazitäten sind für ein Jahr ausgelastet.

Sorgen bereiten vor allem zwei Punkte: „Der Chipmangel ist eine Aufgabe, die es zu meistern gilt. Wir haben den Einkauf gestärkt, alternative Quellen gefunden und zum Teil die Produkte umgestaltet. Das fiel uns vergleichsweise leicht, weil wir die Entwicklung ja im Haus haben“, sagt Scholz-Stein. Und dann ist da das Thema Personal. Vitronic müsse intensiv um Fachkräfte werben, angesichts der großen Konkurrenz im Großraum Frankfurt. Der familiäre Charakter inklusive Duzen und eine Kultur der offenen Tür hilft wohl genauso wie das Geschäftsmodell, auch wenn es nicht zuletzt bei den benachbarten Pharmakonzernen mehr zu verdienen gibt. „Wir sind aufgrund unserer Breite und der Struktur unserer Produkte weitgehend resistent gegen Krisen und diese Sicherheit ist für viele Mitarbeiter mit Gehalt nicht aufzuwiegen“, sagt der Firmenchef.

Die Verkehrsüberwachung ist mit 70 Prozent Umsatzanteil das mit Abstand wichtigste der sechs Standbeine. Neben der Soft- und Hardware für Blitzer verdient Vitronic in mehr als 80 Ländern Geld mit Mautsensoren. Doch der Kern des Unternehmens, die Bildverarbeitung, wird noch für weitere Zwecke eingesetzt: Eins der fünf anderen Geschäftsfelder sind beispielsweise 3D-Körper­scanner. Hauptabnehmer ist die Modebranche, aber auch Fitnessstudios.

In der industriellen Fertigung schätzen vor allem Autobauer die Messsysteme von Vitronic in ihrer Produktion, um Einzelteile frühzeitig bis ins Detail zu kontrollieren. Zudem vermessen die Systeme in der Photovoltaik-Herstellung Oberflächen. Die Geräte für den Pharmabereich prüfen zum Beispiel, dass Infusionsbeutel fehlerfrei und mit geringem Ausschuss produziert werden. Bei den Industrieprozessen wie in der Logistik spielt die Fähigkeit eine Rolle, dass die Geräte möglichst präzise bei höchster Geschwindigkeit messen können – etwa bei Brief- und Paketversendern. Vitronic fokussiert sich auf die Bereiche, wo hohes Tempo eine entscheidende Rolle spielt. Scholz-Stein sagt: „Im Gegensatz dazu überlassen wir das Koffersortieren im Flughafen anderen.“

Neben dem Preis-Leistungs-Verhältnis sieht Vitronic einen Vorteil gegenüber der asiatischen Konkurrenz darin, dass man sich intensiv in das Prozesswissen der Kunden hineinarbeitet. „Es gibt gemeinsame Forschungsaktivitäten, gerade auch in neuen Bereichen wie der Batteriefertigung“, sagt Scholz-Stein.

Gewalttätige Franzosen

Ein weiteres Wachstumsfeld sind Technologien, die eine Smart City braucht. Ironischerweise bereitet sich Vitronic damit auch auf die ferne Zukunft vor, wo es nur noch selbstfahrende Autos geben könnte und entsprechend Geschwindigkeitsüberwachung nicht mehr nötig wäre. Das Unternehmen arbeitet an Sensoren, die rund um die Straßen verteilt sind und den selbstfahrenden Fahrzeugen helfen, alle erdenklichen Vorkommnisse rechtzeitig zu erfassen.

Bleibt noch die Frage zu klären, in welchem Land die Blitzgeräte am häufigsten von erbosten Autofahrern demoliert werden: Die Franzosen sind hier weit vorne in der Statistik, aber auch im arabischen Raum müssen die Geräte reichlich Gewalt aushalten. Vitronic schützt die Produkte inzwischen mit einer Aerosollöschanlage und Video-Alarm-Systemen. Der Blitzer blitzt sozusagen zwei Mal – erst das Rasen und dann das Ausrasten. Die Deutschen zerstören ihre Blitzer übrigens vergleichsweise selten. Ob es am Naturell liegt oder weil man hierzulande den Geschwindigkeitsrausch auf Autobahnen ohne Tempolimit ausleben kann, können selbst die Sensoren von Vitronic nicht messen. 

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