Beitrag teilen

Link in die Zwischenablage kopieren

Link kopieren
Suchfunktion schließen
Zukunftsmärkte >

„Es droht der Stillstand der industriellen Produktion in Europa“

BDI-Präsident Siegfried Russwurm hält einen sofortigen Stopp der Gaslieferungen aus Russland für gefährlich.

Die Fragen stellte Björn Hartmann.

Herr Russwurm, wie schlimm wird es für die Menschen und die Unternehmen in Deutschland 2022?

Der Krieg in der Ukraine dämpft die wirtschaftlichen Erwartungen und die Investitionsbereitschaft der Industrie natürlich erheblich. Das gilt für die großen Konzerne genauso wie für die vielen mittelständischen Familienunternehmen. Für Deutschland sieht der konjunkturelle Ausblick deshalb sehr trübe aus. Selten war die Besonnenheit der Politik deshalb wichtiger – vor allem im Umgang mit der Sanktionierung Russlands für dessen abscheulichen Krieg in der Ukraine.

Welche Folgen hätte ein Gasembargo, wie es diskutiert wird?

Ein Gasembargo würde mitten ins Herz des Industrielands Deutschland treffen – mit unabsehbaren Folgen für Versorgungssicherheit, Wachstum, Beschäftigung und politische Handlungsfähigkeit. Bei einem sofortigen Komplettausfall russischer Gaslieferungen droht der Stillstand der industriellen Produktion in Europa.

Das trifft erst einmal die Wirtschaft.

Die Folgen würden alle Menschen in diesem Land deutlich spüren – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und politisch. Das müssen wir verhindern und gleichzeitig alles dafür tun, schleunigst von russischen Rohstoffen unabhängig zu werden. Die Wirtschaft arbeitet bereits mit Hochdruck daran, wo es möglich ist, russisches Gas zu ersetzen. Der Umstieg ist schwierig und braucht Zeit.

Wie hoch schätzen Sie den wirtschaftlichen Wachstums-/Schrumpfungseffekt?

Wegen der immensen Unsicherheiten und immer neuer Engpässe in der Produktion hat der BDI im jüngsten Quartalsbericht auf eine aktuelle Prognose verzichtet. Anfang des Jahres sind wir von einem BIP-Wachstum von 3,5 Prozent und Export-Plus von vier Prozent in diesem Jahr ausgegangen. Dieses Szenario wird wegen des Russland-Ukraine-Konflikts, der damit zusammenhängenden Energiekrise und weiter anhaltender Lieferengpässe nicht eintreten.

Die Ampel-Koalition will die Wirtschaft mittelfristig nachhaltig umbauen, den Klimawandel bekämpfen. Gigantisches Konjunkturprogramm oder Gefahr für den Standort Deutschland?

Das Osterpaket von Herrn Habeck kommt zur richtigen Zeit. Mit der Novelle bringt die Bundesregierung ein wichtiges Etappenziel für den schnelleren und massiven Ausbau erneuerbarer Energien auf den Weg. Es ist gut, dass der Gesetzgeber die Abhängigkeit von fossilen Energien perspektivisch stark reduzieren will. Gleichzeitig muss die Politik dafür sorgen, dass sich gerade der Mittelstand auf einen wettbewerbsfähigen Standort hinsichtlich Preisen und Versorgungssicherheit für Energie verlassen kann.

Also alles gut?

Die angekündigte Verdopplung des Stromanteils aus erneuerbaren Energien ist zentral, um die energiepolitischen Ziele der Ampel zu erreichen – das bleibt aber eine gewaltige Herausforderung. Die neue Zielsetzung für eine klimaneutrale Stromversorgung bis 2035, die nicht im Koalitionsvertrag steht, gibt Anlass zu Fragen der Versorgungssicherheit. Neben den Erneuerbaren müssten dann Wasserstoff und Biomasse in großen Mengen den Anteil der regelbaren Energien übernehmen. Wichtig ist, dass die Regierung neben dem Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung auch die künftige Versorgung mit grünen Molekülen wie Wasserstoff kraftvoll angeht.

Angesichts der enorm steigenden Energiepreise: Wie bewerten Sie die Arbeit der Bundesregierung?

Die Ampelkoalition muss jetzt die wirtschaftliche Stärke Deutschlands und der Unternehmen – egal welcher Größe, Branche oder Region – bewahren. Nur mit einer starken Wirtschaft an einem starken Standort werden wir auf den Märkten und in der internationalen Politik eine starke Rolle behalten. Die dramatisch gestiegenen Energiepreise setzen den Standort Deutschland massiv unter Druck. Gerade auch zahlreiche mittelständische Unternehmen – von der Automobilbranche bis zu Zuckerindustrie – stecken bereits in existenziellen Schwierigkeiten. Die Politik muss die Stabilität der Unternehmen zielgenau bewahren.

Wird sie dem gerecht?

Mit dem Maßnahmenpaket zur Bewältigung der Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine schafft die Bundesregierung einen ersten Einstieg in einen notwendigen Schutzschirm, der die Stabilität der Unternehmen zielgenau bewahren soll. Die angekündigten Hilfen müssen den Unternehmen nun rasch zur Verfügung stehen, die bereits heute wegen der dramatisch gestiegenen Energiepreise in existenziellen Schwierigkeiten stecken. Die Schaffung eines KfW-Programms, die Bereitstellung von Bürgschaften, der Einsatz von Eigenkapitalinstrumenten, die Liquiditätssicherung an Terminmärkten und insbesondere die Zuschüsse zu extrem gestiegenen Energiekosten sind notwendige und zielführende Schritte, um die Schäden für Unternehmen zu begrenzen. Es ist allerdings wichtig, dass die Hilfen nicht durch sehr restriktive Regelungen für viele Betroffene außer Reichweite geraten.

Zum Beispiel?

Kontraproduktiv wäre es, die Zusagen für dringend notwendige Entlastungen an harte Effizienzvorgaben zu knüpfen. Es ist schwer, diese in der aktuellen Krisensituation einzuhalten, weil die Unternehmen ihre Anlagen zum Teil nicht voll auslasten und effizient fahren können.

Die Energiekosten treffen die Unternehmen im Inland, gleichzeitig hakt es im Welthandel. Wie gut ist die exportorientierte deutsche Wirtschaft darauf vorbereitet?

Die weltweiten Wachstumseinbußen und Sanktionen lassen den deutschen Exportmotor ohnehin schon stottern. Die Unternehmen konnten ihren hohen Auftragsbestand aufgrund anhaltender Lieferengpässe nur zum Teil abbauen. Die Industrie ist weiterhin mit massiven Störungen ihrer globalen Lieferketten konfrontiert. Diese Engpässe bremsen die industrielle Wertschöpfung in den Jahren 2021 und 2022 um jeweils mehr als 50 Milliarden Euro aus. Die Auftragsbücher sind voll, doch die Produktion kommt nicht hinterher. Fehlende Mikrochips, Bauteile und Rohstoffe werden die Produktion noch längere Zeit belasten.

Das bedeutet?

Angesichts der Risiken ist die Wirtschaft umso mehr auf Verlässlichkeit und Berechenbarkeit angewiesen – auch im Mittelstand. In diesen unsicheren Zeiten ist das Gebot der Stunde, den Industrie-, Export- und Innovationstandort zu stärken. Die Industrie muss auch 2022 der Motor bleiben, der Wirtschaft und Wohlstand unseres Landes antreibt.


Siegfried Russwurm ist Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Zuvor arbeitete er rund 25 Jahre bei Siemens, zuletzt als Technologie-Vorstand.

Ähnliche Artikel