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Zukunftsmärkte > Produktion

Handwerk unter Druck: Wie kluge Betriebe der Konjunkturflaute trotzen

| Steffen Ermisch

Trotz Konjunkturflaute zeigen viele Handwerksbetriebe Stärke – mit Digitalisierung, Nachwuchsstrategien und klarem Wertekompass.

Jeannette Spanier-Stark auf der Baustelle
Wider die Flaute: Gerüstbaumeisterin Jeanette Spanier-Stark hofft auf einen Schub durch die neue Bundesregierung. (Foto: Vivi Huras)

Nach Jahren des Aufschwungs spürt das Handwerk die schwache Konjunktur. Doch einige Betriebe gewinnen sogar, weil sie strategische Fragen früh angepackt haben. 

Von Steffen Ermisch

Schon als Kind kletterte Jeanette Spanier-Stark auf Baugerüsten herum. Die Freude an hohen Metallaufbauten ist bis heute geblieben. In zweiter Generation führt die 41-Jährige den Gerüstbaubetrieb Spanier & Bichler in Longuich bei Trier. Das 25-köpfige Team rüstet nicht nur Einfamilienhäuser ein, sondern auch Brücken, Strommasten und sogar ganze Kraftwerke. „Manchmal gehe ich noch mit raus auf die Baustellen, weil es so faszinierend ist“, sagt die Gerüstbaumeisterin. Doch dazu gesellt sich in letzter Zeit auch Frust, gesteht sie. „Wenn mein Vater mich heute fragen würde, ob ich den Betrieb übernehmen will, würde ich wahrscheinlich ‚Nein‘ sagen.“ 

Wie andere Gerüstbauer auch hat der Betrieb die jüngste Bauflaute voll zu spüren bekommen. Höhere Materialkosten und steigende Zinsen führten dazu, dass kaum neue Wohnungen entstanden. Die Konkurrenz um wenige Aufträge war so groß, dass die Preise im Gerüstbau in den Keller gingen. „Ohne Spezialprojekte, die uns lange beschäftigen, hätten wir nicht alle Mitarbeiter halten können“, sagt Spanier-Stark. Sie hofft, dass es nach dem Regierungswechsel in Berlin wieder aufwärts geht. Der Bedarf sei schließlich riesig: „Es fehlt doch überall an Wohnraum, unzählige Brücken sind marode.“ 

Sorgen um die wirtschaftliche Entwicklung, aber ein fester Glaube an das eigene Potenzial: Diese Stimmungslage ist auf Baustellen und in Werkstätten quer durch die Republik gerade bestimmend, wie der jüngste Konjunkturbericht des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) zeigt. Demnach bewerten im Gesamthandwerk nur 39 Prozent der Betriebe ihre aktuelle Geschäftslage als gut. Fast jeder Vierte beklagte im ersten Quartal einen sinkenden Umsatz. Erstmals seit 2023 hellten sich die Erwartungen aber auf: 23 Prozent gehen davon aus, dass sich ihre Geschäftslage verbessert, 61 Prozent erwarten zumindest keine Verschlechterung. Die neue Bundesregierung müsse diesen verhaltenen Optimismus nutzen, fordert der Verband, und Tempo beim Bürokratieabbau, den versprochenen Turboabschreibungen, flexibleren Arbeitszeitregelungen und niedrigeren Energiekosten machen.  

Zu den Verbandsstimmen gesellen sich laute Rufe aus einzelnen Betrieben. So hat Dachdeckermeister Henning Hanebutt, Seniorchef einer Firmengruppe aus dem niedersächsischen Neustadt am Rübenberge mit 15 Niederlassungen und 650 Mitarbeitern, vor der Bundestagswahl einen Brandbrief an die Politik verfasst. Die überbordende Bürokratie empfindet er als erdrückend. „Wenn man ein Dach plant, muss man mittlerweile einen zwei Meter hohen Stapel an Vorschriften berücksichtigen“, bemängelt er. In seinem Schreiben fordert er Entlastungen und erinnert daran, dass das Handwerk „systemrelevant“ sei. 

Tatsächlich arbeiten in dem Wirtschaftszweig 5,6 Millionen Menschen in einer Million Betrieben. Mit 130 Ausbildungsberufen – von A wie Änderungsschneider bis Z wie Zweiradmechatroniker – steht das Handwerk für eine enorme Vielfalt. Und bietet Dienstleistungen an, auf die vom Privatverbraucher bis zum Großkonzern alle angewiesen sind. Wie Hanebutt fühlen sich viele Unternehmer von der Politik übersehen. Während für Autobauer Krisengipfel im Kanzleramt veranstaltet werden, werden dem Handwerk Steine in den Weg gelegt, so die Wahrnehmung. „Kein Mensch denkt daran, dass man lokale Betriebe kaputt macht, wenn bei öffentlichen Aufträgen europaweit ausgeschrieben und nur auf den Preis geguckt wird“, sagt Gerüstbauerin Spanier-Stark. 

Jimdo Selbstständige:

Klagen auf hohem Niveau

Zum Gesamtbild gehört aber auch: Das Handwerk klagt auf einem vergleichsweise hohen Niveau. Jahrelang ging es konjunkturell aufwärts. 2022 legten die Gesamtumsätze sogar um neun Prozent zu. Manche Betriebe konnten sich kaum retten vor Anfragen. Wer vor zwei Jahren in Nordrhein-Westfalen einen Dachdecker beauftragte, musste im Schnitt 18 Wochen warten. Heute sind es immer noch 15. Und quer durch alle Bundesländer und Gewerke gibt es Firmenlenker, die ihre Betriebe ohne drastische Einschnitte durch die Wirtschaftsflaute navigieren – oder deren Geschäfte sogar an Fahrt gewinnen. 

Vertreter dieser Gruppe findet man in Schönebeck bei Magdeburg. Jens Krause und Erik Schmidt, ein Elektriker- und ein Heizungsbaumeister, gründeten hier die Firma Energy Systems. „Zwischen unseren Gewerken gibt es viele Schnittpunkte, aber an den Absprachen hakt es oft“, sagt Krause. „Deswegen wollten wir beides aus einer Hand anbieten.“ die beiden legten mit Wärmepumpen und Photovoltaikanlagen los, heute installieren sie mit 60 Mitarbeitern auch andere Heizungen, Bäder und Smarthome-Lösungen. 

Das breite Angebot zahlt sich aus. „Als der Neubau von Einfamilienhäusern eingebrochen ist, haben wir mehr Sanierungen und Heizungstausch gemacht“, sagt Krause. Und obwohl er selbst Wärmepumpen-Fan ist, installiert Energy Systems auch Gasheizungen, wenn die Kunden wollen. Vor Investitionen scheuen die Unternehmer trotz guter Auftragslage aber zurück. „Wir warten jetzt erst einmal ab, was in der Politik und Industrie passiert.“ Sorgen macht Krause, dass viele Menschen in der Region in der kriselnden Automobilbranche arbeiten. Verlieren die ihren Job, können sie weder Sanierung noch Neubau stemmen. 

In derselben Branche wie Energy Systems, aber mit einem engen Fokus, arbeitet sich Heimwatt voran. Das Unternehmen aus Salzhausen südlich von Hamburg setzt voll auf Eigenheimbesitzer, die mit PV-Anlage, Wärmepumpe und Speicher möglichst energieautark werden wollen. Der Ansatz ähnelt großen Start-ups wie Enpal, Thermondo oder 1komma5Grad – hier wie da sind die Gründer keine Handwerker. Wachsen wolle man aber in bester Mittelstandsmanier ohne große Finanzierungsrunden und mit einem Vertrieb im ländlichen Raum, sagt Co-Geschäftsführer Joost Hansen. 

Seit der Gründung 2020 hat das Unternehmen Boom und Krise erlebt. Erst gab es infolge des Ukraine-Kriegs einen starken Nachfrageschub, dann verunsicherte das Heizungsgesetz der Ampelregierung. Hinzu kamen stark fallende Preise für PV-Module, die den Wert der Lagerware schmälerten. „Im Boom haben manche Betriebe so geplant, als könne es nur nach oben gehen und sich völlig übernommen“, sagt Hansen, der vorher bei der Beratung McKinsey gearbeitet hat. Anfang des Jahres erst hat Heimwatt die Marke des insolventen Konkurrenten Wegatech aus Köln übernommen. 

Heimwatt gibt an, profitabel zu sein – auch, weil Flexibilität großgeschrieben wird. In Hochphasen geben die Niedersachsen lieber Aufträge an Partnerbetriebe weiter, statt den eigenen Mitarbeiterstamm auszubauen. Ende 2024 sei die Nachfrage nach Wärmepumpen wieder nach oben geschnellt, berichtet der Geschäftsführer. Viele Hausbesitzer befürchteten, dass eine neue Regierung Förderungen streicht. Die Verlockung, in dieser Phase personell aufzustocken, sei groß gewesen. „Aber wir erwarten, dass der Sommer wieder lau wird.“ An die Politik hat Hansen einen bescheidenen Wunsch. „Schön wären verlässliche Rahmenbedingungen für zwei bis drei Jahre.“ 

Springt die Konjunktur an, dürfte eine andere Großbaustelle im Handwerk wieder in den Fokus rücken. Es fehlt an qualifiziertem Personal. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) gab es selbst 2024, als die ZDH-Statistik einen leichten Stellenabbau zeigte, noch eine Lücke von 108.000 Fachkräften. Die Ursachen reichen weit zurück. „Das ganze Schulsystem zielte lange darauf ab, möglichst viele junge Leute ins Abitur und Studium zu bringen“, sagt Kathrin Post-Isenberg, Steinmetzmeisterin aus Bonn, die Betriebe beim Recruiting berät. Eine Handwerksausbildung sei oft als Notlösung wahrgenommen worden. 

Mit Plakaten, TV-Spots und Onlinewerbung versucht der ZDH das Image des Handwerks aufzupolieren. Bei Instagram, Tiktok & Co. machen Handwerks-Influencer Lust auf ihren Beruf. Der Wirtschaftszweig habe gute Argumente auf seiner Seite, sagt Post-Isenberg: „Studien zeigen, dass Handwerker oft glücklicher in ihrem Job sind. Menschen sehnen sich nach sinnvollen Tätigkeiten, bei denen man nicht am Bildschirm sitzt.“ Und in einer Zeit, in der künstliche Intelligenz viele Büroarbeiten übernehmen kann, wirkt ein handwerklicher Job plötzlich auch deutlich zukunftssicherer. 

Mit Vorurteilen aufräumen

Wie einzelne Unternehmen vor Ort wirksam Nachwuchskräfte gewinnen können, macht Hanebutt vor. Der Dachdeckerbetrieb legt Wert auf eine moderne Ausbildungswerkstatt, beschäftigt eine eigene Sozialpädagogin und macht mit Azubis einen Ausflug ins Zillertal. Neben Skifahren steht dort Persönlichkeitsentwicklung auf dem Programm. Vor allem sucht das Unternehmen früh den Kontakt zu potenziellen Nachwuchskräften. Man stelle sich an Schulen vor, biete kostenlose Hausaufgabenhilfe, Praktikumsplätze und Ferienjobs, berichtet Seniorchef Henning Hanebutt. 

Seit zwei Jahren gibt es zudem Ein-Tages-Praktika für Lehrer. Dann werden in der Werkstatt Kaffeeuntersetzer aus Schiefer, Portemonnaies aus Dachbahnen oder Stiftehalter aus Holz zusammengebaut. „Wir wollen unser Handwerk erlebbar machen und mit Vorurteilen aufräumen“, sagt der 53-Jährige. Für die Firmengruppe geht die Strategie auf: Auf 75 Ausbildungsplätze kommen inzwischen rund 300 Bewerbungen. 

Ganz so großen Aufwand können typische Handwerksbetriebe mit fünf bis zehn Mitarbeitern nicht betreiben. Mehr Eigeninitiative müssten aber auch diese zeigen, sagt Kathrin Post-Isenberg. „Man bekommt keine Bewerbungen, nur weil in der Stellenausschreibung ein Obstkorb oder ein Jobrad versprochen wird.“ Das Kernproblem: Oft sei nicht klar, wofür ein Betrieb stehe. „Die meisten Handwerker sind Feuer und Flamme für ihren Beruf und können leidenschaftlich darüber reden, was ihnen wichtig ist“, sagt die Beraterin. „Trotzdem schreibt das kaum jemand auf seine Homepage.“ 

In ihren Workshops schickt Post-Isenberg Firmenchefinnen und -chefs auf Entdeckungsreise. Anhand von 30 Karten arbeiten sie heraus, was ihnen wichtig ist. Zur Auswahl stehen zum Beispiel „Ehrlichkeit“, „Qualität“, „Respekt“, „Gerechtigkeit“ und „Empathie“. Heraus komme jedes Mal ein einzigartiger Wertekompass, der klar kommuniziert werden müsse. Beim Recruiting wirksam seien zudem konkrete Einblicke in den Arbeitsalltag, sagt die Expertin. Facebook, Instagram und Tiktok bieten sich dafür an. Oft posten dort Azubis oder Gesellen ohnehin schon. „Wenn man das inhaltlich und technisch unterstützt, hat man ideale Botschafter fürs Unternehmen“, sagt Post-Isenberg. 

Mit dem Fachkräftemangel ist auch die Digitalisierung auf der Agenda nach oben gerutscht. Selbst Kleinstbetriebe verabschieden sich von der berühmten Zettelwirtschaft. Denn wer Arbeitsschritte automatisiert, kann mit demselben Team mehr erreichen. Tools gibt es zuhauf, Start-ups wie Plancraft, Hero Software oder Meisterwerk konkurrieren um die Betriebe. Zu den typischen Funktionen gehören digitale Einsatz- und Urlaubsplanung, Zeiterfassung, Angebote und Rechnungen sowie Baustellendokumentationen. 

Einen Schritt weiter gehen will Heimwatt. Man wolle der erste „KI-First-Handwerksbetrieb in Deutschland werden“, kündigte der Energiespezialist an. „Wir gucken uns bei jedem Prozess an, was automatisiert werden könnte“, sagt Co-Geschäftsführer Hansen. Die Planung von PV-Anlagen etwa habe man dank künstlicher Intelligenz auf wenige Minuten reduziert. Vertriebler sollen bei Wissenslücken nicht mehr die Zentrale anrufen müssen, sondern einen Chatbot befragen, der mit der firmeneigenen Wissensdatenbank verknüpft ist.  

Auch in den Handwerksbetrieben selbst entstehen digitale Lösungen. So hat Gerüstbauerin Spanier-Stark 2017 eine Software rund um Sicherheitsprüfungen entwickelt. In der App hinterlegen Mitarbeiter Gerüstpläne, Standsicherheitsnachweise, Montageanweisungen. Nutzer des Gerüsts können digital dokumentieren, dass sie es in angesehen haben und Mängel melden. Das spart Spanier & Bichler Papierkram und könnte sich zu einem neuen Standbein entwickeln. Die Scaffeye getaufte Software wird auch an andere Betriebe verkauft. Zur reinen Softwareunternehmerin will Spanier-Stark aber nicht werden. „Mein Herz hängt dann doch zu sehr am Handwerk.“ 

Das Handwerk in der Krise – und im Aufbruch: Zahlen, Trends, Lösungen

Aktuelle Herausforderungen

  • Baukrise trifft Handwerksbetriebe hart: Hohe Materialpreise, steigende Zinsen und Auftragsrückgänge drücken auf die Margen – besonders im Bau- und Ausbaugewerbe.

  • Bürokratie bremst Innovation: Betriebe beklagen langwierige Genehmigungsverfahren und überbordende Vorschriften. Der Ruf nach Deregulierung wird lauter.

  • Fachkräftemangel verschärft sich: Laut Institut der deutschen Wirtschaft fehlen über 100.000 qualifizierte Fachkräfte – trotz wirtschaftlicher Flaute.

Zahlen und Fakten

  • 5,6 Millionen Menschen arbeiten im Handwerk.

  • 1 Million Betriebe, davon viele familiengeführt.

  • 130 Ausbildungsberufe – vom Steinmetz bis zur Zweiradmechatronikerin.

  • Nur 39 % der Betriebe bewerten laut ZDH ihre Geschäftslage derzeit als gut.

  • 23 % hoffen auf Besserung im kommenden Quartal.

Erfolgsrezepte aus der Praxis

  • Strategische Spezialisierung: Gerüstbauer setzen auf Großprojekte, Gebäudetechniker auf Sanierung statt Neubau.

  • Flexibles Wachstum: Heimwatt und Energy Systems kooperieren mit Partnerfirmen und fahren ihre Teams bewusst nicht auf Maximalgröße hoch.

  • Digitalisierung mit KI: Betriebe wie Heimwatt und Spanier & Bichler setzen auf Automatisierung und digitale Tools – vom KI-gestützten Vertrieb bis zur App zur Gerüstsicherheit.

  • Attraktives Azubi-Marketing: Erfolgreiche Betriebe setzen auf Social Media, Schulkooperationen und persönliche Ansprache statt Standardbenefits.

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