Während es die Regierung sich zusammenrauft, aber beim Theme Impfpflicht nicht zueinander findet, über sich die Betriebe in praktischen Lösungen. Angesichts einer wirren Gesetzeslage bleibt ihnen nichts anderes übrig.
Sauerland. Unweit von Dortmund. Kludi baut hier in Menden Brausen, Duschköpfe, Wasserhähne. 1000 Mitarbeiter haben sie weltweit, 300 grüßen sich jeden Morgen am Standort Menden. Hier ist Mittelstand. Und im Mittelstand, wo produziert wird, wo täglich Kundengespräche anstehen, wo der Handschlag noch Qualität hat, ist angeblich der Teufel los, weil keiner weiß, wie er’s mit dem Impfen halten soll. Danach fragen, notieren und sortieren verbietet der Datenschutz. Aber ohne zu fragen, weiß bei Kludi niemand, ob er dem Nebenmann in der Montage näherkommen darf, ob die Außendienstlerin Kunden besuchen soll, oder ob die Fortbildung stattfindet wie geplant. Herrscht also Chaos? "Nein", sagt Julian Henco, Chef von Kludi, 56 Jahre alt und einer, der weiß, was es bedeutet vom Sauerland aus, den Weltmarkt zu versorgen. Er hat schon andere Schlachten geschlagen als die um die Impfpflicht. "Wir werben aktiv fürs Impfen", sagt er, aber eine Pflicht lehnt er rigoros ab. Das passe nicht zu einer Kultur der Eigenverantwortung. "Mittelständler regeln das unter sich", fügt er hinzu.
Die Politik ist da weniger entspannt. Bei den möglichen künftigen Regierungspartnern SPD, Grüne und FDP erhitzt die Debatte über eine Impfpflicht die Gemüter. Nachdem Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt verkündet hatte, man habe sich geeinigt und kurz darauf wieder zurückruderte, warb SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz dafür, das Thema weiter zu diskutieren. "Ich finde es richtig, dass wir jetzt eine Diskussion darüber begonnen haben, ob man das machen soll", sagte der Kanzler in spe – womit er die Debatte allerdings kein Stück weiterbrachte. Immerhin fügte er hinzu: Eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen sei nur in einem Konsens möglich. "Wenn der erreicht ist, fände ich das gut." Eine solche Entscheidung könne auch kurzfristig anstehen. Bislang allerdings ist dieser Konsens nicht in Sicht: Der FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann lehnt eine Impfpflicht ab – auch wenn sie nur bestimmte Berufsgruppen betreffen sollte. Das mache infektiologisch wenig Sinn, sagte er, "denn hier sind die Menschen ja alle gleich und können sich auch gegenseitig anstecken und schwer erkranken."
Scholz' Drang nach Einigkeit erfüllen auch die Arbeitnehmer-Vertreter nicht. So lehnt die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft eine Impfpflicht für Lehrerinnen und Lehrer ab. "Der Weg aus der Pandemie führt nur über eine hohe Impfquote in der gesamten Bevölkerung und der Pandemie angemessenen Verhaltensweisen, um sich und andere zu schützen", sagt Gewerkschafts-Chefin Maike Finnern. Dagegen fordert die Vorsitzende des rheinland-pfälzischen Hausärzteverbands, Barbara Römer, klar die Impfpflicht für medizinisches Personal. "Die Menschen denken, sie sind im medizinischen Bereich geschützt, und dann springen da Ungeimpfte rum", lässt sie sich zitieren. Römer weiß aber auch: Selbst im Gesundheitswesen ist umstritten, ob die Arbeitgeber die Belegschaft in Kliniken und Pflegeheimen zum Impfen schicken dürfen. Das Infektionsschutzgesetz sieht in Paragraf 23 zwar vor, dass die Leiter von Krankenhäusern, Rettungsdiensten, Heimen und Arztpraxen alle notwendigen Maßnahmen ergreifen müssen, um eine Weiterverbreitung von Krankheitserregern zu vermeiden. Damit können sie neben der Einhaltung der Hygiene- und Abstandsmaßnahmen vom Personal ein gesteigertes Interesse an einer Impfung erwarten. Doch darf hier der Arbeitgeber fragen? Und dürfen die Beschäftigten wie in den anderen Betrieben lügen? Da gehen die juristischen Meinungen auseinander.
Will die sich bildende Regierungskoalition wirklich den Knoten durchschlagen, müsste sie sich aufraffen und das Datenschutzrecht ändern. Es verhindert, dass Unternehmen erfassen können, wer in den eigenen Reihen bereits geimpft ist und wer nicht. Und es verhindert auch, dass der Chef den einzelnen Beschäftigten fragen darf, geschweige dazu verdonnern, zum Spritzen zu gehen. Das kann Unternehmen in Planungsschwierigkeiten bringen, wenn beispielsweise Monteure zu Kunden oder in Länder gehen sollen, die eine Impfpflicht vorschreiben. Wer sich nicht impfen lassen will, kann auf die vom Grundgesetz geschützte "körperliche Unversehrtheit" verweisen. Die Geimpften könnten das allerdings auch. Was also, wenn die Geimpften darauf bestehen, nicht mit einem Verweigerer zusammenzuarbeiten, weil sie beispielsweise zu Hause kleine Kinder haben, die man gar nicht immunisieren kann?
Reibereien im Betrieb können die Folge sein. "Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das passiert", befürchtet Roman Zitzelsberger, Chef der mächtigen IG-Metall Bezirksverwaltung in Stuttgart, in einem Gespräch mit der Zeitschrift "Markt und Mittelstand" angesichts des derzeit "unauflösbaren Konflikts". Arbeitsrecht und Corona seien in weiten Teilen nicht kompatibel, schimpft Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Deutschen Maschinen- und Anlagenbauer. Dort ist man angesichts der unklaren Lage spürbar ungehalten: "Es herrscht eine große Ungewissheit, wie mit Impfmuffeln umzugehen ist. Die Unternehmen sitzen zwischen den Stühlen", klagt Brodtmann. Auf der einen Seite gebe es keine gesetzliche Impfpflicht, auf der anderen Seite sei es datenschutzrechtlich heikel, den Impfstatus zu erfragen. Hinzu komme: "Unternehmen müssten auch aus Fürsorgegesichtspunkten Infektionsrisiken geringhalten. 'Impfmuffeln' nur gut zuzureden, hilft wenig. Die Verunsicherung ist groß. Der Gesetzgeber ist dringend gefordert, hier etwas zu tun", lautet die Haltung des VDMA-Hauptgeschäftsführers.
Prinzipiell darf der Staat die Menschen zu vernünftigem Verhalten verpflichten oder gar zwingen. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erst vor wenigen Monaten bestätigt. Die Regierungen vieler europäischer Länder handeln entsprechend. Frankreich setzte eine Impfpflicht für Mitarbeiter des Gesundheitswesens und der Pflege durch. In Italien bekommen Lehrer und Dozenten kein Geld, wenn sie nicht geimpft erscheinen. In Griechenland und Großbritannien gelten ähnliche Regeln. Die Politik in Berlin sträubt sich aber noch gegen klare Ansagen. Wobei auch hierzulande eine Impfpflicht nicht neu wäre. Zum Schutz vor den hoch ansteckenden Masern ist seit dem 1. März 2020 eine Impfung für Kinder in Kitas und Schulen Pflicht. Und auch am Arbeitsplatz gibt es keine Ausnahme. Betreuerinnen und Betreuer fallen ebenfalls unter diese Regelung. Über Verfassungsbeschwerden gegen diese Vorgabe will das Bundesverfassungsgericht noch in diesem Jahr urteilen. Eilanträge wurden bereits abgewiesen. Impfungen gegen Masern würden nicht nur das Individuum gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern, so die Begründung.
Solange die Politik aber das heiße Eisen Impfplicht meidet, sind die Betriebe auf sich gestellt. Für Kludi-Chef Henco ist das in Ordnung. Kludi hat Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern intern im Sommer ein Impfangebot gemacht, es gibt die 3G-Regel und in Meetings habe sich 2G durchgesetzt. Und intern habe er die "Drei-V-Regel" aufgestellt: Vorsicht, vorausdenken, vormachen. "Wir müssen vorleben, wie es geht", sagt er. Und er weiß: "100 Prozent sind nie erreichbar. Das gilt auch für die Impfquote."