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Sozialkreditsystem: China bestraft Unternehmen härter

Offiziell soll das chinesische Sozialkreditsystem Unternehmen fördern, die sich an die Compliance halten. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Zu den Verlieren dieses staatlichen Systems gehören ausländische Unternehmen.

Die Deadline ist sportlich: Schon Ende 2020 soll die nationale Gesamtdatenbank für das Sozialkreditsystem für Unternehmen der Volksrepublik China stehen – also genau genommen jetzt. Das Ziel, das die Zentralregierung seit 2014 mit einem Bündel aus politischen Beschlüssen verfolgt: Alle in China ansässigen Akteure wie Unternehmen oder Nichtregierungsorganisationen sollen dazu „bewegt“ werden, die zahlreichen und sich stets ändernden Gesetze und Regularien einzuhalten.

Der Weg dorthin: Informationen sammeln, um Verhalten zu dokumentieren, öffentlich zu bewerten und letztlich zu sanktionieren. Allerdings gibt es bislang weder ein einheitliches System noch einen nationalen Datentopf. Auf welchem Stand also ist das System derzeit und was bedeutet das für deutsche Unternehmen in China: Niederlage nach Punkten oder Vorteil durch Compliance?

Erstens: kein High-Tech

Immer wieder wurde das Sozialkreditsystem als Chinas „Facebook für Unternehmen“ dargestellt, als eine Art hochentwickeltes KI-Medium also, das positive wie negative Stimmungen erzeugen und so Menschen beeinflussen kann. Das stimmt nicht ganz, zumindest noch nicht. „Die schieben zu großen Teilen Excel-Tabellen hin und her“, berichtet Katja Drinhausen. Die Chinaexpertin des Mercator Institute for China Studies in Berlin arbeitete sich mit ihren Kollegen durch diverse schwarze Listen des chinesischen Sozialkreditsystems. Dort werden Unternehmen geführt, die aus unterschiedlichen Gründen in Ungnade gefallen sind.

 

Was den Wissenschaftlern aufgefallen ist: Es gibt eine schier unübersichtliche Anzahl an Datentöpfen. Nach offiziellen Angaben sind in China allein auf nationaler Ebene die National Development and Reform Commission (NDRC) und die People’s Bank of China (PBOC) sowie über 40 weitere Behörden und Ministerien in die Entwicklung der nationalen Datenbanken eingebunden. Die Beteiligten sammeln „ihre“ Informationen und geben diese in eine digitale Akte ein, in der die verschiedenen Ratings und Informationen zu Verstößen festgehalten werden. Aber auch lokale Regierungen können eigene Regulierungen erlassen und schwarze Listen aufsetzen.

 

Somit handelt es sich beim Sozialkreditsystem um ein fragmentiertes System diverser Daten-Sammler. Zusätzlich zu den nationalen Behörden hat jede einzelne Provinz jeweils eigene „Datensammler“ in Form der zuständigen Behören und Verwaltungseinheiten. Sie speichern ebenfalls Informationen der dort gelisteten Firmen und speisen Daten zur Mahnhistorie sowie möglicher Compliance-Verstößen in das Sozialkreditsystem ein. Ein Problem dieser Doppel-Konstellation: Sie ist aufgrund der Vielzahl an Standards und Akteuren schwer nachvollziehbar und ziemlich fehleranfällig.

Zweitens: Risiko durch Fragmentierung

Durch die hohe Fragmentierung entstehen erhebliche Risiken für Unternehmen. Denn die Vielzahl verschiedener schwarzer Listen, die von unterschiedlichen Behörden manuell geführt werden, bilden Redundanzen. „Lokale Einheiten haben ihre eigenen Einträge, die nicht mit nationalen Einträgen abgeglichen werden“, sagt Drinhausen. Auch auf nationaler Ebene sei der Datenaustausch zwischen Behörden gar nicht so leicht. Derzeit komme es immer wieder vor, dass Unternehmen falsch oder doppelt gelistet seien, wie die Forscherin beobachtet hat.

 

All diese einzelnen Datensätze werden zwar langsam überführt in die Hauptdatenbank für Unternehmen, das National Enterprise Credit Information Publicity System. Aber bislang handelt es sich noch nicht um ein einheitliches System. Unternehmen sollten deshalb genauer denn je prüfen, wo sie angesiedelt sind, welche Aufsichtsbehörden dort relevant sind und welche schwarzen Listen vor Ort geführt werden, rät die Wissenschaftlerin. Zudem müssten die Firmen schauen, dass die Datensätze der Aufsichtsbehörden und der nationalen Datenbank übereinstimmen. Was Unternehmen während ihrer Suche nach behördlichen Bewertungen nicht erwarten sollten: dass sie irgendwann auf einen einheitlichen Score treffen.

Der Bürokratie-Dschungel

 

„Sozialkreditsystem“ klingt nach Einheit, doch das täuscht. Denn genau genommen gibt es in China nicht die eine Datenbank oder das Sozialkreditsystem, sondern mehrere nebeneinander existierende Säulen aus Rechtsvorschriften, die jeweils für Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Individuen und staatliche Einrichtungen gelten. Für jede dieser einzelnen Regel-Säulen wiederum gibt es eigene Datenbanken und Plattformen sowie zusätzlich zahlreiche lokale Initiativen, über die Informationen gesammelt und gespeichert werden. Woher Unternehmen nun wissen sollen, welche Informationen sie an wen liefern müssen und wann? Diese Berichtspflichten stehen in den Rechtsvorschriften selber. Das kann das ausländische Investitionsgesetz sein oder anderweitige Standards für Unternehmen in den Bereichen Logistik, Chemie oder Lebensmittel. Ähnlich wie in Deutschland ist dort auch festgelegt, wann eine Firma beispielsweise ihren Jahresabschluss bei welcher Behörde einreichen muss. Bis dahin wirkt es also fast wie „normaler“ Compliance-Aufwand, mit dem Unterschied, dass die Politik in China in den vergangenen Jahren verstärkt Wert darauf legt, dass Informationspflichten pünktlich und vollständig erfüllt werden. Das Sozialkreditsystem dient dabei zur Durchsetzung dieser politischen Priorität.

 

Drittens: kein einheitlicher Score

„Das ist kein digitales Dashboard, bei dem man per Mouseklick sein Rating einsehen kann“, erklärt Drinhausen. Es handele sich vielmehr um ein weit verbreitetes Missverständnis, dass ein Unternehmen überhaupt einen bestimmten Punktestand erreichen könnte. „Es gibt keinen einheitlichen Score in Chinas Sozialkreditsystem“, so die Wissenschaftlerin. Das bedeutet: Ein Unternehmen, das in der nationalen Plattform für Unternehmen als „compliant“ geführt wird, kann in der Provinz, in der es ansässig ist, trotzdem gegen Regeln verstoßen und von lokalen Behörden entsprechend erfasst und sanktioniert werden. In jedem Fall sollten Unternehmen einen negativen Eintrag rasch wieder ausbügeln, rät die China-Expertin. Der Prozess zur Kreditwiederherstellung wird formell bei der zuständigen Behörde beantragt. Unternehmen könnten dann eine Strafe zahlen oder andere Schritte zur Wiedergutmachung einleiten, die von der jeweiligen Behörde vorgegeben werden.

Viertens: Behörden-Allianzen verstärken Sanktionen

Das Sozialkreditsystem selbst schafft keine verbindlichen Regeln. Die Regeln werden von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften gemacht, das System selbst wiederum ist das Durchsetzungsinstrument. „Es trackt gewissermaßen die Compliance der Akteure, und verstärkt durch die Drohung des Reputationsschadens den Druck zur Einhaltung geltender Gesetze“, erklärt Drinhausen. Allerdings können die verhängten Strafen mitunter erheblich sein. „Eine Kernfunktion des Systems ist, dass bestehende Verwaltungsstrafen durch behördenübergreifende Sanktionen verstärkt werden“, sagt Drinhausen. Da sich chinesische Behörden zu „Straf-Allianzen“ zusammenschließen, potenzieren sie die Rechtsfolgen möglicher Vergehen. Das sei politisch so gewollt. Das Sozialsystem betreibe daher kein kontinuierliches Tracking aller Aktivitäten, sondern werde auf aktuelle rechtspolitische Prioritäten hin betrieben. Das Kalkül der Regierung: „Die Politik kann ihre Schlaglichter auf bestimmte Themen setzen, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt durchsetzen wollen“ sagt Drinhausen. Zum Beispiel wurden in diesem Jahr in einigen Regionen Unternehmen auf schwarze Listen gesetzt, die Covid-19 Fälle in der Belegschaft verheimlicht haben.

Fünftens: Keine Gleichbehandlung von Unternehmen

Eine solche Verlängerung des chinesischen Verwaltungsapparates hat nicht notwendigerweise das Ziel, die betroffenen Akteure gleich zu behandeln. Wenn beispielsweise neue Regeln erlassen würden, nach denen strengere Anforderungen für ausländische Unternehmen gelten, würde das Sozialkreditsystem deren Durchsetzung unterstützen. „Gerichte und Behörden treffen Entscheidungen über schwarze Listen, das System sanktioniert nur“, sagt Drinhausen. Die Wissenschaftlerin verweist auf aktuelle Einschätzungen der Handelskammern. „Sie prangern verstärkt an, dass chinesische Unternehmen bevorzugt werden, dass Zugänge zum Markt nicht gut sind“, sagt sie. Wenn ein chinesisches Unternehmen nun weniger compliant sei als ein ausländisches, gäbe es weiterhin genügend Möglichkeiten, bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen den chinesischen Akteur zu bevorzugen. Natürlich habe die Zentralregierung laut Drinhausen Interesse daran, dass auch die eigenen Player nach den Regeln spielten. Es habe in der Bevölkerung vermehrt Unzufriedenheit über die laxe Moral chinesischer Unternehmen gegeben. Daher hätten europäische Unternehmen bessere Startvoraussetzungen. „Doch politisch motivierte Entscheidungen werden durch das System nicht ausgehebelt“, sagt Drinhausen. Es gewinnt also auch weiterhin nicht automatisch das gesetzestreue Unternehmen, sondern das politisch Gewollte.

Sechstens: kleinere Unternehmen benachteiligt

Auch wenn noch vieles unklar ist: Mit der Überzeugung Chinas, dass effektive Rechtsdurchsetzung auf möglichst vielen Informationen beruht, steigen die Berichtspflichten für Unternehmen. Viele ausländische Unternehmen, die Wissenschaftlerin Drinhausen auf den schwarzen Listen gefunden hat, sind dort nur deshalb gelandet, weil sie der Regierung nicht die aktuellsten Informationen übermittelt hatten. Und dieser „Verzug“ kann schnell passieren in einem System, das ständig und fast willkürlich die Rahmenbedingungen ändert. „Im Moment schießen Regularien wie Pilze aus dem Boden“, sagt Drinhausen. Alle paar Wochen würden neue Regeln bekanntgegeben. „Selbst für chinesische Policy-Maker muss der Dokumentendschungel verwirrend sein“, vermutet sie. Die zentrale Botschaft der chinesischen Regierung ist dennoch, dass die Zeiten vorbei sind, in denen Gesetzestreue in China eher locker gehandhabt wurde. Unternehmen bräuchten eine eigene Compliance-Abteilung und zusätzliche Ressourcen, um neue Berichtspflichten und das Sozialkreditsystem zu handeln. Gerade für kleinere Mittelständler könnte die explodierende Komplexität also verhängnisvoll sein.  

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