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Medizin-Zug: Deutschland droht den Anschluss zu verpassen

Die Pandemie hat gezeigt: Deutschland muss aufpassen, international nicht den Anschluss zu verlieren. Die Bundesrepublik ist zwar bei Forschung und Entwicklung zwar gut aufgestellt, schafft es bei den Produkten trotzdem nicht an die Spitze.

Um es bildlich zu sagen: Der Zug fährt noch nicht ab, aber er fährt schon in den Bahnhof ein. Und wenn wir Pech haben, fährt er ohne uns ab. Dass die Bundesrepublik den Anschluss beim Thema Gesundheit verliert, das befürchteten die Experten des Gesundheitsgipfels mit der Frage "Anschluss nicht verpassen: Wie können wir in der Medizin Forschung und Entwicklung als Ursprung der Wertschöpfung in Europa stärken?" Es reicht noch nicht, was Deutschland im Medizin-Sektor innovativ leistet. Die Corona-Krise wirkt da wie ein Katalysator.

"Die Pandemie hat gezeigt, dass wir nicht unabhängig sind", sagte Moderator Christoph Specht. Der Arzt und Medizinjournalist wollte daher von Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery wissen, wie man aus ärztlicher Sicht auf künftige Pandemien besser vorbereitet sein kann. Für den Vorstandsvorsitzenden des Weltärztebunds war Deutschland "hervorragend aufgestellt am Anfang, bis das Hickhack mit den Ministerpräsidenten kam". "Die erste Welle haben wir als Weltmeister bewältigt", sagte Montgomery. Die Länder, die gut aufgestellte und gerechte Gesundheitssysteme haben, seien am besten durch die Krise gekommen – auch wenn es ein Impfproblem gibt. "Wir sind nicht so schlecht davongekommen, wie wir uns manchmal darstellen." Prof. Alexander S. Kekulé, Virologe und Epidemiologe der Uniklinik Halle, widersprach ihm in diesem Punkt: Die asiatischen Länder wie Taiwan hätten eine andere Lösung des Problems präsentiert. "Europa hatte auch Konzepte in der Schublade, hat aber nichts daraus gemacht. Wir haben kein europäisches Konzept."

Defizite deckten die Experten auch im Umgang mit der Wissenschaft generell auf. "Bei der Grundlagenforschung sind wir gut aufgestellt, teilweise auch bei der angewandten Forschung. Das lassen wir uns schon einiges kosten. Das Problem ist aber, was wir mit dieser Forschung machen", kritisierte Katharina Hölzle Professorin für IT-Entrepreneurship am Hasso-Plattner-Institut der Universität Potsdam. Bleibt die Forschung im Elfenbeinturm? Was werden für Patente daraus? Welche Produkte und Dienstleistungen? Der Kern des Problems: Die ausgezeichnete Forschung in Deutschland schlägt sich nicht in der Produktentwicklung nieder. Den Knackpunkt bildet das sogenannte Valley of Death: Hier schafft man es nicht, die hervorragende Forschung auf den Markt zu bringen, wie es Prof. Jochen Maas anhand der zwölf- bis 15-jährigen Pharma-Wertschöpfungskette der erklärte. "Bei einer langen Wertschöpfungskette gibt es immer jemanden, der es besser kann", sagte der Geschäftsführer von Sanofi in Deutschland.

Nicht zuletzt, weil es die Politik versäumt hat, den entsprechenden Rahmen zu setzen. "Kein System der Welt ist nur annähernd so innovativ wie das der Amerikaner", sagte der SPD-Politiker, Mediziner und Universitätsprofessor Prof. Karl Lauterbach. Die amerikanische Politik sei nicht Kunde, sondern Mitproduzent – anders als in Deutschland. Die Politik sei Teil der Forschung, mittels einer gezielten Industriepolitik. "Das ist ein qualitativer Unterschied." In Deutschland ist es schwerer, Anschubfinanzierungen für Start-ups zu erhalten, ergänzte Kekulé.

Doch es ist nicht nur der Geldfaktor, sondern auch die Mentalität, warum die USA oder China Deutschland abhängen. "Das Klima für Wissenschaft und Gründung hat sich eher verschlechtert. Wir sind eine Gesellschaft, die in den letzten 15 Jahren extrem auf Sicherheit gepolt wurde. Wir sind nicht gut darin, etwas Neues auszuprobieren", kritisierte Hölzle. Das Sicherheitsdenken sei immer stärker geworden, je unsicherer die Welt wurde. Es fehlen die Akteure, um etwas umzusetzen. Dass diese Vorsicht nicht bereits in die Gene der Menschen eingepflanzt ist, betonte Kekulé. "Die Politik kann das steuern, indem sie den Menschen die Risiken abnimmt." Doch hier fehlt die mentale Unterstützung, wie Hölzle ergänzte. "Die Spieler im System begegnen sich nicht auf Augenhöhe. Das Vertrauen in die Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft muss vorhanden sein, dass man mit dem Geld nichts Schlechtes macht, sondern es versucht, etwas besser zu machen – auch mit dem Risiko, dass man hinfällt." Diese Skepsis erkannte auch Maas: "Die akademische Forschung in Deutschland hat ein gutes Image, die industrielle Forschung aber ein schlechtes."

Das fehlende euphorische Mindset zeigt sich schon bei der Ausbildung. So bemängelte Mediziner Lauterbach, dass Digitalisierung zu wenig in die wissenschaftliche Ausbildung integriert ist. "Der Nachwuchs lässt etwas nach", stellte er fest. Doch Deutschland müsse den Nachwuchs unterstützen, damit diese Leute nicht abwandern. "Wir brauchen eine Industriepolitik, dann ziehe ich auch Top-Leute heran." Auch Kekulé plädierte dafür, bezüglich der Grundhaltung den jungen Menschen mehr klarmachen, dass es sich lohnt, in Wissenschaft zu investieren.

Immerhin hat die Corona-Krise gezeigt, dass die Wissenschaft gehört wird – dafür muss sie auch nicht mit einer Stimme sprechen. "Den kleinen, leichten Rückenwind, den wir durch die Pandemie bekommen haben, sollten wir ausnutzen. Ich wünsche mir, dass der Schwung bleibt", sagte Kekulé. Der Virologe forderte, mehr Wissenschaft zu den Menschen zu bringen. Und dabei die Denkweise zu ändern: Die Deutschen müssten mit ihrem Gedankengut nicht nur europäischer, sondern internationaler werden. Er appellierte daher an europäische Gemeinschaftsprojekte. "Es gibt eine lange Liste der To-dos nach der Pandemie."

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