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Zukunftsmärkte > Gastbeitrag

Packt die Partei­bücher ein! Ohne Scheuklappen durch die Dekade der Dilemmata.

Erst die Pandemie. Dann der Ukraine-Krieg. Und immerdar: die Klimakrise. Wir sind alles andere als entspannt in die 2020er-Jahre gestartet. Und mit Sicherheit werden wir nicht ohne Blessuren in der Mitte des Jahrzehnts ankommen.

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Einfache Antworten und eindeutige Lösungsoptionen? Fehlanzeige! Stattdessen lauern an allen Ecken und Enden Widersprüche und Dilemmata. Die Realität, so beweist sich immer wieder, ist größer als jede Ideologie: Team Vorsicht kontra Team Zuversicht. Waffenlieferung versus Embargo – oder beides oder keines von alledem? Solidarität konkurriert mit Selbstfürsorge und die wiederum mit der globalen Sicherheit. Amüsant zu lesen und exemplarisch für die verwirrende Vielfalt der Positionen im Jahr 2022 ist eine Antwort von Fridays-for-Future-Aktivisten auf den Aufruf der Grünen, eine Klima-Demo zu unterstützen: „Wir demonstrieren nicht mit Euch, sondern gegen Euch. Nur so zur Info.“

Dass die Fronten weit weniger eindeutig verlaufen als in der Vergangenheit, wirft erst einmal alles Gelernte – und so manches gehegte und gepflegte Vorurteil – durcheinander.

Haben wir uns neu sortiert, können wir dies aber als riesigen Fortschritt anerkennen: Problemlösungskompetenzen dürfen sich nicht am Parteibuch festmachen. Denkverbote und das Verharren in der Opposition sind nicht nur vorgestrig, sondern absolut ungeeignet in der Dekade der Dilemmata. Wenn eine grüne Außenministerin der Ukraine die Lieferung schwerer Waffen zusagt. Wenn ein Wirtschaftsminister aus derselben Partei Öl- und Gas-Embargos mit dem Hinweis ablehnt, es sei seine Aufgabe, „nicht mit dem Wohlstand dieses Landes zu zocken“. Wenn sein bayerischer Amtskollege, ein waschechter Konservativer, sich ausdrücklich für den Ausbau der Windkraft im „10 H“-Bundesland starkmacht. Dann darf all das nicht als Affront gegen das eigene Milieu missverstanden werden. Sondern als pragmatische, vorwärtsgerichtete Politik, die viel vom unternehmerischen Denken gelernt hat: Wer in Krisen handlungsfähig sein will, muss auch über den eigenen Schatten springen können.

 

Denn: Hinter den schwierigen Entscheidungen dieser bewegten Tage, hinter all den Zumutungen, mit denen wir uns konfrontiert sehen, verbergen sich riesige Kaskadeneffekte.

 

Ideologisches Schwarz-Weiß-Denken verstellt den Blick auf das Wesentliche. Ist, wer den verbrecherischen Krieg von Putin aufs Schärfste verurteilt und alles in seiner Macht Stehende tun will, um das Leid der Menschen zu lindern, ein lupenreiner Christdemokrat? Wer den Sinn von Embargos infrage stellt, ein kühl kalkulierender Ökonom? Ziemlich öko, wer überzeugt ist, dass die Energiewende jetzt so schnell wie möglich umgesetzt werden muss – und es dafür eine starke Wirtschaft braucht? Ist es sozialdemokratisch, mit dem Verlust von Arbeitsplätzen zu argumentieren? Ganz ehrlich: Das ist, auf gut Bayerisch gesprochen, doch herzlich wurscht. Statt auf politische Positionen lohnt es, den Blick auf ein fraktionsübergreifendes Leitbild zu richten, das sich über Jahrzehnte bewährt hat: die soziale Marktwirtschaft beziehungsweise ihre zeitgemäße Erweiterung, die nachhaltige soziale Marktwirtschaft.

Kann das mit dem Bild des Zigarre rauchenden Ludwig Erhard verbundene Wirtschaftsmodell auch in Zeiten des „New Normal“ tragen? Mehr denn je! Der Wirtschaft kommt eine immer größere geopolitische Verantwortung zu. Die globalen Verflechtungen werden komplexer – über die Großmächte USA und China wird noch zu reden sein, sobald der Kreml seine Rolle in der Welt endgültig demontiert hat. Das Dilemma (oder eigentlich: Trilemma) ist in der nachhaltigen sozialen Marktwirtschaft qua Definition eingepreist. Allen drei Polen gerecht zu werden, war nie einfach und wird es auch nie sein. Aber zumindest wissen wir, wenn wir uns gemeinsam und ohne Scheuklappen darauf einlassen, worauf es ankommt.

Professor Klaus Josef Lutz ist seit Juli 2008 Vorstandsvorsitzender des internationalen Mischkonzerns BayWa. Er ist Präsident der IHK München und Oberbayern und sitzt in mehreren Aufsichtsräten. In Vorträgen und Interviews verlangt er immer wieder einen schlanken Staat, der sich auf seine Kernaufgaben besinnt.

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