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Zukunftsmärkte > Familienunternehmen

Platz für die Tochter

Stahlbaron Jürgen Großmann hat das Feld geräumt für seine Tochter Anne-Marie. Sie tritt an, das Projekt des Vaters zu vervollständigen: Stahl nachhaltig zu produzieren.

Jürgen Großmann –> Großmann © Marko Priske/laif

Rot glühendes Metall, mehr als 1000 Grad heiß. Männer mit Helmen und silbernen Schutzanzügen prüfen mit langen Gerätschaften das alles verschlingende Material. Funken schlagen meterhoch. Bilder aus der Stahlproduktion gehören zur deutschen DNA. Doch längst stellt sich die Frage, ob das Schmelzen und Schmieden hierzulande noch eine Zukunft hat. 2022 gilt als Jahr der großen Wende. „Die Stahlindustrie kann jetzt Geschichte schreiben.“ Ein Zitat wie gegossen von Bernhard Osburg, Vorstandschef von Thyssen-Krupp Steel Europe. Die Branche könne der „Nukleus einer dekarbonisierten europäischen Wirtschaft“ sein. Und eine, die beweisen will, dass es geht, ist Anne-Marie Großmann.
Die Großen der Branche haben erkannt, dass sie ihren Stahl besser schneller als langsamer frei von CO2 produzieren sollten. Ein deutscher Mittelständler allerdings hat diesen Prozess bereits vor 28 Jahren eingeleitet. Damals brauchte man Stahl, um einen Golf III oder Ford Scorpio zu bauen – die Älteren mögen sich erinnern. Der Mittelständler hieß und heißt Georgsmarienhütte (GMH), dessen Macher war Jürgen Großmann, ein Hühne, Urgestein der deutschen Wirtschaft, der sich gern auch mit Zigarre fotografieren ließ.
Gerhard Schröder, damals noch vor allem niedersächsischer Ministerpräsident und nicht Gazprom-Lobbyist, besuchte Großmann 1994, weil ihn dessen Weg begeisterte. Der Stahlbaron wollte Stahl ohne Kohle und Hochofen, stattdessen mit Strom und aus Elektroschrott produzieren. Heute sagen sie bei GMH offen, dass diese in Europa revolutionäre Umstellung nur bedingt mit ökologischen Gründen zu tun hatte. Schuld war vielmehr der Umstand, dass Georgsmarienhütte nicht an einem Fluss liegt und es damit keine Möglichkeit gibt, angesichts steigender Transportkosten Kohle und Eisenerz einigermaßen bezahlbar heranzuschaffen.
Erst ein Jahr vor Schröders Besuch hatte Jürgen Großmann die Georgsmarienhütte für zwei Mark vom Klöckner-Konzern gekauft: eine Mark für die Gebäude und Maschinen, die zweite Mark für den operativen Betrieb. Händeringend suchte er nach Innovationen, die den Betrieb sicherstellen konnten. 1993 kam er begeistert aus Japan zurück. Er hatte dort eine Technologie kennengelernt und setzte sie im Werk Georgsmarienhütte um: Für 85 Millionen Mark ließ er den Hochofen herausreißen und einen modernen Elektroofen installieren. Eine hochriskante Chefentscheidung, die GMH bis heute zum Vorreiter beim grünen Stahl macht.
Großmann zog als Chef weiter zu RWE, der Stahl ließ ihn nicht los. Ihm und seinen drei Kindern gehören immer noch 100 Prozent an der GMH-Dachgesellschaft. Das Familienunternehmen bildet mit seinen rund 6000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den gesamten Kreislauf ab: vom Schrottrecycling bis zur einbaufertigen Komponente. Bis 2039 will GMH CO2-neutral Stahl produzieren, sechs Jahre bevor es das Gesetz verlangt. Die, die das erreichen soll, ist Großmanns Tochter, Anne-Marie: „Mein Traum wäre es, wenn wir es schaffen, die industriellen Arbeitsplätze in der jetzigen Anzahl mindestens zu halten und noch mehr für die globale Klimatransformation beizutragen“, sagte sie kürzlich im Podcast „Pioniere wie wir“ des Beratungshauses Kienbaum.
Es gab eine Zeit, da war keineswegs klar, dass die 34-Jährige beim Stahl einsteigt. Der Vater nahm sie und ihre zwei Geschwister Quirin und Johanna schon früh mit aufs Werksgelände. Die Mädchen absolvierten aufregende Fahrten mit den Feuerwehrautos vor Ort – gefolgt von einem „prägenden Sommerpraktikum“, in dem sie selber im Schichtdienst die Stahlsäge und „den Spirit in der Produktion“ kennengelernt habe, berichtet die Großmann-Erbin.

Philosophie studiert

Aber ihren Weg ging sie über Jahre unabhängig von GMH: Sie studierte Wirtschaftswissenschaften und Philosophie, war drei Jahre als Unternehmensberaterin bei Bain tätig, entschied sich 2018 dafür, Unternehmerin zu werden. Sie übernahm die Verantwortung bei den GMH-Töchtern Kranbau Köthen und und Windhoff Bahn- und Anlagen­technik. In die GMH-Geschäftsführung rund um CEO Alexander Becker zog Anne-Marie Großmann 2021 ein und verantwortet dort die Führungskräfteentwicklung und die Verwaltung der Liegenschaften aller 21 Holdingstandorte. Vor allem aber ist sie das Gesicht des Umbaus der GMH hin zu einem CO2-neutralen Stahlproduzenten. Kann sie es schaffen?
Die Branche ist für fast 30 Prozent der Emissionen in der gewerblichen Wirtschaft in Deutschland verantwortlich. Dem Klimaschutzgesetz zufolge sind Unternehmen verpflichtet, bis 2045 treib­hausgasneutral zu arbeiten. Mit zwei Milliarden Euro Umsatz ist GMH kein Zwerg in der Branche. Fachleute weisen auf die Komplexität der Pläne hin: „Stahlhersteller müssen teilweise in vollkommen neue Prozesse investieren und Anlagen ersetzen, die oft seit Jahrzehnten in Betrieb sind“, sagt Jens Burchardt, Managing Director und Partner bei der Beratung BCG. Für GMH bedeutete dies zunächst, die richtigen Fragen zu stellen: Werden Käufer 500 bis 1000 Euro mehr für ein Auto bezahlen, wenn es aus grünem statt aus grauem Stahl gefertigt wurde? Wo kommt der grüne Strom überhaupt her?
Es ist eine Wette mit vielen Variablen, die Anne-Marie Großmann da eingeht, vergleichbar mit der gewaltigen Investitionsentscheidung ihres Vaters. Aber sie kann gewinnen: „Grünstahl ist erheblich teurer – und er wird auch heute schon teurer verkauft. Aktuell ist der Markt eher unterversorgt. Hersteller, die früh in grüne Stahlproduktion investiert haben, gehören zu den Gewinnern“, sagt BCG-Berater Burchardt. Die Auto- und Hausgerätehersteller, aber auch die Baubranche, müssen nach EU-Vorgaben den CO2-Fußabdruck ihrer Produkte verringern. Grüner Stahl ist dafür unverzichtbar. Darüber hinaus wird die CO2-Bilanz der Produkte zunehmend auch für Endkunden relevant, sofern sie am Ende der Kette die höheren Kosten zahlen.
Doch auch wenn Berater ihr den Rücken stärken, die Stahlkocherin erlebt Rückschläge. Sommer 2021: Die Flutkatastrophe hält Deutschland in Atem, vor allem den Westen. Das GMH-Werk in Hagen fällt den Fluten zum Opfer und wird zerstört. Mitarbeiter müssen über 24 Stunden auf einem Container ausharren, bis sie mit Schlauchbooten gerettet werden. Anne-Marie Großmann sieht das als Ansporn. Vielleicht ist es einer ihrer wichtigsten Charakterzüge, Krisen als Katalysator für Fortschritt zu begreifen. „Der Vorfall hat uns allen gezeigt, wie wichtig es ist, nachhaltig zu sein – im Hinblick auf das Klima, aber auch den Umgang miteinander“, sagt sie.
Großmann hofft, dass sie als operativ tätiger, sichtbarer Teil der Familie besonders dazu beiträgt, die Belegschaft zu motivieren und den Menschen die Sicherheit zu geben, dass ihre Arbeitsplätze trotz all der Veränderungen nicht in Gefahr sind. Zudem soll GMH ein klangvoller Name sein, jedenfalls klangvoll genug, um neue Leute anzulocken, vor allem die so dringend benötigten Fachkräfte. Denn ohne die ist angesichts der technologischen Herausforderungen der Wandel vielleicht in der Theorie möglich, in der Praxis würde aber Stillstand herrschen.
Im Hinblick auf die Technologie ist Stahlherstellung wie Grillen: Auf der einen Seite des Gartens steht ein Kohlegrill mit glühenden Briketts und reichlich Rauchentwicklung – das Pendant zum klassischen Hochofen. Auf der anderen Seite ein mit Strom betriebener Elektrogrill. Stammt der aus erneuerbaren Energien, darf sich der Grilleur CO2-Neutralität auf die Fahne schreiben. In der Stahlbranche nennt sich die strombetriebene Alternative zum Kohlehochofen Elektrolichtbogenofen oder kurz Elektrostahlofen. Statt zwei Tonnen erzeugt dieses Verfahren lediglich 0,4 Tonnen CO2, um eine Tonne Stahl herzustellen. Wenn der verwendete Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien stammte, würde die Quote auf 0,1 Tonnen sinken. Der Rest soll bei GMH ab 2030 vor allem mit grünem Wasserstoff und neuer Technologie auf null gebracht werden.
Ein weiterer Vorteil: Bei Elektrostahl wird Schrott eingeschmolzen, nicht Eisenerz. Kaum ein Stoff ist besser recycelbar als Stahl, denn es geht dabei keine Qualität verloren. Deswegen ist GMH zum Gejagten geworden. Die Großen der Branche wollen auch mitmischen im Geschäft mit dem grünen Stahl und investieren kräftig. Das ist auch nötig: „Die Umstellung der Produktionsverfahren auf die Elektrolichtbogenofenroute zur Stahlerzeugung ist mit komplexen und umfangreichen Investitionen verbunden“, sagt Gerd-Michael Hüsken vom Beratungshaus Accenture. Und wenn die neuen Anlagen fertig sind, braucht es sehr viel grünen Strom.

Kampf um grünen Strom

Wer sich dieser Tage die Verteilungskämpfe um Gas anschaut, bekommt einen kleinen Eindruck davon, was in den kommenden Jahren in Deutschland und der Welt beim grünen Strom passieren wird: Es gibt zu wenig davon, weil der Ausbau der erneuerbaren Energien zu langsam vorangeht und der Bedarf steigt – von derzeit gut 500 Terrawattstunden (TWh) pro Jahr auf 700 im Jahr 2030 und rund 1000 TWh in 2045. Wärmepumpen, E-Autos und weitere Technologien gieren nach dem grünen Strom.

GMH benötigt pro Jahr ziemlich genau eine Terawattstunde. Die benachbarte Stadt Osnabrück liegt bei 0,85 TWh. Oder anders gerechnet: GMH bräuchte ungefähr 80 Windkrafträder mit Rotorblättern von 90 Meter Länge und niemals Flaute, um seinen Stromhunger zu stillen zu können. Den Stahl für die Windriesen könne man ja beisteuern, sagen sie hier im Scherz. Aber so einfach ist das nicht – Stichwort „Verspargelung der Landschaft“. Anne-Marie Großmann drückt es so aus: „Was uns sehr helfen würde, ist Planbarkeit, was die Verfügbarkeit von grünem Strom betrifft. Aber den wollen alle. Also müssen die Kapazitäten enorm hochgefahren werden.“ Die rot-gelb-grüne Bundesregierung will das, die Vorgänger hatten es an solchen Aussagen auch nie mangeln lassen. Es passierte dennoch zu wenig.
Es kommt noch ein zweites Problem hinzu, das für GMH wegen seiner Elektrostruktur relativ überschaubar ist, für das Gros der Branche aber ein fundamentales neues Problem darstellt: Erdgas ist als Brückentechnologie unverzichtbar, durch den Ukraine-Krieg aber sehr teuer geworden. „Die neue Energiepreisrealität ist für viele Stahlhersteller in der Tat eine Herausforderung. Es ist aus heutiger Sicht schwer vorstellbar, dass Gas seine Rolle als Brückenkraftstoff im bisher angedachten Umfang erfüllen kann“, sagt Berater Burchardt. Jedoch fehle es der Stahlindustrie an Alternativen. Einen Plan B hat kaum jemand: „Ohne Erdgas als Übergangsenergiequelle wird es kaum gehen. Grüner Wasserstoff ist mittelfristig in der notwendigen Menge und zu akzeptablen Kosten nicht ausreichend verfügbar“, sagt Accenture-Experte Hüsken. Angesichts des Bedarfs an grünem Strom, Erdgas und Wasserstoff wundert es nicht, dass der Politik bei der Wende hin zum grünen Stahl eine wichtige Rolle zukommt.
Wenn spätere Generationen auf das Deutschland der 2020er-Jahre zurückblicken, werden sie vermutlich sagen: Es war die Ära der falschen Reihenfolge. Die Regierenden verordneten den Menschen Elektroautos, vergaßen aber, die Ladeinfrastruktur zu schaffen. Sie erfanden kurzfristig das Neun-Euro-Ticket, hatten aber zu wenig Züge. Sie wollten bei Erfindungen an der Spitze bleiben, hatten aber ein Bildungssystem aus der Kaiserzeit. Und sie wollten eine CO2-freie Industrie, hatten aber zu wenig grünen Strom.
Politiker und Manager verwenden beim Improvisieren und Hinterherrennen in der Regel das Wort „Rahmenbedingungen“. Sobald der Begriff fällt, sprudelt es aus Anne-Marie Großmann nur so heraus: „Ich stehe für Dekarbonisierung ohne Deindustrialisierung. Wir haben immense Herausforderungen vor der Brust.“ Dann müsse man aber auch zulassen, dass Unternehmen, die aus der Historie und den Prozessen heraus bislang sehr viel Energie und damit auch CO2 verbraucht haben, die Chance erhalten, diese Transformation zu bewerkstelligen. „Das heißt auch, dass wir die eine oder andere Unterstützung von der Politik bekommen, um im internationalen Wettbewerb erfolgreich zu sein. Da sind viele Fragen noch ungeklärt.“
Die Politik, egal ob im Bund oder auf kommunaler Ebene, ist das eine. Viele in der Industrie fühlen sich aber auch von den Menschen in Deutschland nicht verstanden. Etwa von Bürgerbewegungen, die gegen den Ausbau von Windkraftanlagen oder Stromtrassen sind und den Umbau der Industrie verlangsamen. Bei Anne-Marie Großmann klingt das so: „Ich würde es mir wünschen, dass in der breiten Bevölkerung mehr Verständnis dafür da ist, dass eine grüne Transformation nur mit einer starken Industrie geht.“ Diesen Widerspruch aufzulösen – das ist die wahre Mission der Frau aus Stahl.

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