Beitrag teilen

Link in die Zwischenablage kopieren

Link kopieren
Suchfunktion schließen
Zukunftsmärkte > Fachkräftemangel in der Pflege

Pleitewelle in der Pflege: Ursachen und Chancen

Der Bedarf für Pflege steigt. Doch Kosten und Personal sind ein Problem für die Branche. Internationale Konzerne lauern auf Schnäppchen.

Völlig geschafft: Beschäftigte in der Pflege arbeiten an der Belastungsgrenze. Es fehlt Personal. Dabei wird die Branche wichtiger.Bildquelle: © Supamotionstock.com/Shutterstock.com

Fehlendes Personal und steigende Kosten sind eine brisante Mischung. Und sie setzt einer Branche zu, die gute Zukunftsaussichten hat: Pflegeheime. Die Folgen sind verheerend. Nach einer Erhebung des Arbeitgeberverbandes Pflege meldeten 2023 jeden Tag im Schnitt mehr als zwei Einrichtungen Insolvenz an. Dadurch sind mehr als 20.000 stationäre Pflegeplätze zumindest in Gefahr geraten. „Das Heimsterben geht weiter, egal ob familiengeführtes Pflegeheim, kirchliche Sozialstation oder leistungsstarkes Pflegeunternehmen“, sagt Verbandspräsident Thomas Greiner. „Der pflegerischen Versorgung droht in diesem Jahr der Kollaps. Leidtragende sind die Pflegebedürftigen.“ Nach einer Schätzung der Unternehmensberatung Roland Berger haben Ende 2023 mehr als ein Drittel der Anbieter rote Zahlen geschrieben. Allein im ersten Quartal 2024 war für weitere 33 Pflegeheime, 80 Pflegedienste und 37 Tagespflegen endgültig Schluss.

Auf den ersten Blick verwundert das Massensterben unter den Pflegebetrieben. Denn der Bedarf wächst durch die demografische Entwicklung konstant. Dem Statistischen Bundesamt zufolge steigt er bis 2055 im Vergleich zum vergangenen Jahr um 37 Prozent. Aktuell gelten rund fünf Millionen Bundesbürger als pflegebedürftig. Etwa ein Sechstel ist stationär in einem der mehr als 11.000 Heime untergebracht. Um die anderen kümmern sich mehr als 15.000 ambulante Dienste und 6000 Tageseinrichtungen. Viele dieser Anbieter sind kleine und mittelständische Familienbetriebe. Insgesamt sind im Gesundheitssektor mehr als drei Millionen Menschen beschäftigt – rund 1,2 Millionen in der Kranken- und 700.000 in der Altenpflege. Hinzu kommen rund 700.000 medizinische Fachangestellte und eine halbe Million Ärzte.

Steigender Bedarf durch die alternde Gesellschaft bedeutet mehr Kosten rund um die Pflege. Dieser Trend ist längst bekannt. Darum wurde bereits 1995 die Pflegeversicherung als neuer eigenständiger Zweig der Sozialversicherung in Deutschland eingeführt. Damit besteht eine umfassende Versicherungspflicht. Das bedeutet, dass jeder der 74 Millionen Versicherten gesetzlicher Kassen Recht auf die soziale Pflege hat. Wer auf private Anbieter zurückgreift, muss in eine entsprechende Zusatzvorsorge einzahlen.

Steigende Einnahmen der Pflegeversicherung reichen nicht aus

In den vergangenen 20 Jahren sind die Einnahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung von knapp 17 auf 58 Milliarden Euro pro Jahr gestiegen. Die neun Millionen Menschen mit einer privaten Zusatzversicherung zahlten 2023 rund fünf Milliarden Euro ein. Dennoch werden mit dem Geld der Pflegeversicherungen nicht alle Kosten gedeckt. Dem Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste zufolge machen sich mehr als zwei Drittel der Mitgliedsbetriebe angesichts der finanziellen Situation Sorgen um ihre Existenz. Der Verband spricht für Firmen, die rund 40 Prozent des Angebots abdecken. Der Grat zwischen Erfolg und Defizit ist schmal: Sind weniger als 98 Prozent der Plätze belegt, rutscht eine Einrichtung in die roten Zahlen, wie der Verband der Alten- und Behindertenhilfe berichtet. Und das kann schnell gehen.

Der Grund ist die vorgeschriebene Untergrenze: Die Heime dürfen nur so viele Bewohner aufnehmen, wie sie den Anforderungen entsprechend mit Pflegekräften versorgen können. Fehlt das Personal, müssen Zimmer leer bleiben. Pflegeheime geraten so schnell in Schwierigkeiten, wie das Beispiel der Caritas Breisgau-Hochschwarzwald zeigt. Im März 2022 wurde im beschaulichen Glottertal eine Einrichtung für 45 Bewohner eröffnet. Die konnten aber nicht ausreichend versorgt werden, weil nicht genug Pflegekräfte bereit waren, für das angebotene Gehalt zu arbeiten. Die Caritas musste das Heim wieder schließen und die Bewohner auf andere Standorte verteilen.

Das Heim riss ein derart tiefes Loch in die Kasse, dass die kirchliche Organisation immer mehr in Schieflage geriet. Als die Staatsanwaltschaft auch noch Ermittlungen wegen Abrechnungsbetrugs aufnahm und die Zentrale in Freiburg durchsuchte, blieb dem Caritas-Ableger nur noch die Insolvenz. Bei dem Wohlfahrtsverband arbeiten rund 800 hauptamtliche und mehr als 400 ehrenamtliche Mitarbeiter. Bis heute hat sich kein neuer Betreiber für das Heim im Hochschwarzwald gefunden.

Hoher Krankenstand

Der Fachkräftemangel führt in vielen Einrichtungen zu Überstunden und entsprechender zusätzlicher Belastung. Die Folge: Nach dem Pflegereport 2024 der Krankenkasse DAK fallen Beschäftigte in der Altenpflege im Schnitt 55 Tage im Jahr krankheitsbedingt aus. In anderen Berufen sind es 33 Tage. Noch in den 2020er-Jahren werde es nicht mehr ausreichend Absolventinnen und Absolventen von Pflegeschulen geben, um die Babyboomer zu ersetzen, die aus dem Beruf ausschieden. Das System stehe vor einem Kipppunkt, warnt Kassenchef Andreas Storm. Forscher des RWI in Leipzig der RWI-Forscher in Leipzig haben ermittelt, dass im stationären Bereich bis 2040 rund 380.000 und im ambulanten Dienst bis zu 180.000 zusätzliche Kräfte nötig sind.

„Noch nie war die Pflege so gesellschaftlich und wirtschaftlich relevant wie heute“, sagt Norbert Grote, Hauptgeschäftsführer des Pflegeverbands BPA. Er fordert deshalb von der Bundesregierung ein Pflegepersonalsicherungsgesetz. So soll die Beschäftigung von erfahrenen Fachkräften aus dem Ausland erleichtert werden. Die Ausbildung zum Pflegeassistenten dürfe nicht länger als ein Jahr dauern. Für Leiharbeiter fordert der BPA einen Kostendeckel. Zudem sei die generalistische Pflegeausbildung zu überprüfen. Auch Melanie Messer, stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats Gesundheit und Pflege, spricht sich dafür aus, die pflegerischen Aufgaben zu modernisieren. So sollte Pflegepersonal bei entsprechender Qualifikation auch selbst heilkundlich tätig werden, also beispielsweise Medikamente verschreiben dürfen. Dies könnte Ärztinnen und Ärzte entlasten und gleichzeitig den Pflegeberuf aufwerten.

Da tröstet die Beschäftigten wenig, dass sie im Schnitt gut verdienen. Der monatliche Bruttoverdienst von Krankenpflegern liegt bei 4100 Euro und der von Altenpflegern bei 3800 Euro. Viele haben 2022 einen deutlichen Gehaltssprung erfahren, als mit der verpflichtenden Tarifbindung die Vergütungen zwischen zehn und 30 Prozent anzogen. Dabei hatten die Gehälter nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums bereits zwischen 2017 und 2021 im Schnitt um ein Fünftel zugelegt. Der Gesetzgeber verstärkt den Druck, indem öffentliche Versorgungsverträge an eine Tariftreue gekoppelt sind. Der sicher überfällige Gehaltsschub hat allerdings die Kosten bei manchem Anbieter zwischen 30 und 50 Prozent nach oben getrieben. Doch die Träger können nur einmal im Jahr mit den Pflegekassen verhandeln und ihre Kosten anpassen. Auch das hat die Pleitewelle begünstigt, denn wer nicht genug Reserven hatte, bekam schnell Probleme.

Im vergangenen Jahr hat der Gesetzgeber versucht, mit einer Erhöhung der Pflegeversicherung gegenzusteuern. Doch das reicht aus Sicht der Experten nicht. „Die Finanzierung der Pflegeversicherung ist nicht einmal bis Ende 2024 gesichert. Es müssen dringend alle Anstrengungen unternommen werden, die soziale Pflegeversicherung in ihrem Bestand zu sichern und zukunftsfest zu machen“, urteilen beispielsweise die Autoren des DAK-Reports. So laufen der Branche die Kosten weiter davon. „Die Kassen erkennen Preissteigerungen für die Heime und Dienste nicht an, obwohl die Inflation für jeden spürbar ist. Sozialämter verschieben die Begleichung offener Rechnungen bei Pflegeeinrichtungen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Und die Politik schaut ungerührt zu, wie eine Pflegeeinrichtung nach der anderen den Bach runtergeht und damit die Versorgungssicherheit“, klagt Pflegeverbandschef Greiner.

Die Pleiten nutzen die Großen der Branche, um sich günstig Marktanteile zu sichern. So wurden nach Beobachtung des Onlinedienstes Pflegemarkt.com im vergangenen Jahr fast jede zweite insolvente Firma bereits von Wettbewerbern übernommen. Wie in anderen Bereichen des Gesundheitswesens haben Finanzinvestoren und internationale Anbieter den Wachstumsmarkt für sich entdeckt. Unter den zehn größten Unternehmen befinden sich drei Konzerne aus Frankreich sowie mit Nordic Capital und Waterland Equity ein Finanzinvestor aus Schweden und aus den Niederlanden. Die Top zehn kontrollieren gut 14 Prozent des Gesamtangebots. Allerdings ist Größe keine Garantie für Stabilität. Mit Convivo, Dorea, Hansa und Curata mussten allein im vergangenen Jahr gleich mehrere große Betreiber zum Insolvenzgericht.

Ähnliche Artikel