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Zukunftsmärkte > Extremismusanstieg bekämpfen

Rechtsextreme Bedrohung in Europa: Strategien für den Umgang mit dem Aufstieg extremer Parteien

Extreme Parteien gewinnen zunehmend an Einfluss in Deutschland und Europa. Was steckt dahinter und wie können gemäßigte Regierungen darauf reagieren?

(Foto: picture alliance, Wolfgang Maria Weber)

Es wäre beruhigend, die Bedeutung der Abstimmungen in zwei deutschen Bundesländern am 1. September herunterzuspielen, als die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) in Sachsen knapp verlor und in Thüringen einen Vorsprung von neun Punkten gegenüber ihrem nächsten Konkurrenten erzielte. Ja, dieser Sieg ist der erste, den die harte Rechte bei einer Landtagswahl in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg errungen hat. Und ja, ihr Anführer in Thüringen ist ein übler Kerl, der zweimal strafrechtlich verurteilt wurde, weil er eine von den Nazi-Braunhemden verbreitete und nach deutschem Recht verbotene Parole verwendet hat. Aber in Thüringen leben weniger als 3 % der Deutschen. Es ist in etwa so repräsentativ wie Wyoming in Amerika, wo Donald Trump 2016 rund 68 % der Stimmen erhielt, oder Clacton in Großbritannien, wo im Juli der Vorsitzende von Reform UK, Nigel Farage, gewählt wurde.
 
Doch was in Thüringen passiert, bleibt nicht dort. Umfragen zeigen, dass die Unterstützung für die AfD bundesweit bei 16-17% liegt, das migrationsfeindliche Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) kommt auf 8%, eine weitere radikale antikapitalistische Partei auf 3%. Fast ein Drittel der Deutschen favorisiert extreme Parteien.

Deutschland ist nicht allein. In Frankreich halten Marine Le Pens rechtsradikale Nationale Rallye und ihre Verbündeten 25 % der Parlamentssitze, weitere 13 % entfallen auf die linksradikale Partei des La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon. Oder schauen Sie nach Italien, wo die rechtsextremen Parteien Fratelli d‘Italia unter der Führung von Giorgia Meloni und die Lega unter der Führung von Matteo Salvini bei den Wahlen 2022 zusammen 35 % der Stimmen erhielten. In Österreich wird in diesem Monat die rechtsextreme FPÖ gewählt, die mit rund 27 % in Führung liegt. Ungarn wird von einem Ultranationalisten regiert, der an antisemitische und homophobe Verschwörungstheorien glaubt.
 
Die zunehmende Unterstützung für Extremisten ist an sich schon besorgniserregend. Aber sie hat einen schädlichen Dominoeffekt. Um gemäßigte Regierungen zu bilden, die Extremisten ausschließen, sind die geschrumpften etablierten Parteien gezwungen, immer schwerfälligere Koalitionen zu bilden, die sich oft als schlecht regierbar erweisen. In einem Teufelskreis führt die Enttäuschung dazu, dass die Anti-Establishment-Parteien noch mehr Unterstützung erhalten. Die deutsche Bundesregierung, eine unglückliche Drei-Parteien-Koalition, ist ein typisches Beispiel dafür, und auf die Bundestagswahlen im nächsten Jahr könnten weitere quälende Koalitionsverhandlungen folgen. Die Bildung von Landesregierungen in Thüringen und Sachsen könnte Monate dauern. Die gleiche Dynamik erklärt, warum es zwei Monate dauerte, bis Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach den vorgezogenen Parlamentswahlen einen Premierminister ernannte, und es ist zweifelhaft, dass seine neue Regierung lange überleben wird.

 

Wie geht man also mit den Extremen um? Die Antwort hängt davon ab, wie unangenehm sie sind. In einigen Fällen ist das Problem überwindbar, Beispiel Italien. Die Partei von Frau Meloni hat ihre Wurzeln im Neofaschismus, aber sie war intelligent genug, ihre Politik so weit zu mäßigen, dass nur wenige glaubhaft behaupten könnten, ihre Regierung sei in einem liberalen Staat inakzeptabel. Die Verlockung der Macht ist ein starker Anreiz, sich weiterzuentwickeln.

In Frankreich versucht Frau Le Pen, sich in Richtung der verantwortlichen Mitte zu bewegen. Bislang wird keine andere Partei formell mit dem Rassemblement National zusammenarbeiten, aber in Zukunft, vielleicht unter einem anderen Vorsitzenden, könnte sich das ändern. Schon jetzt sind die Geschäftsleute in Frankreich mehr über die ruinöse Politik von Herrn Mélenchon besorgt als über Frau Le Pen.

Ein anderes Modell ist Schweden, wo die einwanderungsfeindlichen Schwedendemokraten eine Mitte-Rechts-Minderheitsregierung unterstützen und ihr Verhalten im Gegenzug für ihren Einfluss gemildert haben. In den Niederlanden wurde der rechte Brandstifter Geert Wilders in einer Vier-Parteien-Koalition unter der Führung eines Technokraten eingebunden, er musste seine aufrührerischsten Vorschläge, wie das Verbot des Korans, fallen lassen. Extremisten in Verantwortung zu binden, ist jedoch keine Garantie dafür, dass sie gezähmt werden können. Bei der Freiheitlichen Partei Österreichs hat das nicht funktioniert, obwohl sie zwei Jahre lang im Amt war.

Deutschland ist die härteste Nuss, die es zu knacken gilt. Deals mit der linken BSW können als notwendig erachtet werden, auch wenn sie riskant sind. Aber die AfD hat noch einen weiten Weg vor sich, bevor die Brandmauer, die sie aus dem Amt hält, durchbrochen werden sollte. Nicht nur Einzelpersonen wie der thüringische Parteivorsitzende sind das Problem, sondern auch Landesverbände der AfD werden vom Bundesnachrichtendienst als "erwiesenermaßen" extremistisch eingestuft, ebenso wie die Jugendorganisation der Partei. Die AfD wie Ausgestoßene zu behandeln, stärkt ihre Anziehungskraft bei den Unzufriedenen; aber die Alternative ist schlimmer.

Der beste Weg, sich mit den Extremisten auseinanderzusetzen, besteht darin, sich mit den Missständen zu befassen, die ihre Popularität steigern. Die Bedenken eines Drittels oder mehr der Wählerschaft zu ignorieren, ist nicht nur antidemokratisch, sondern auch antipragmatisch.

Die Abwälzung der Kosten der Energiewende auf die Verbraucher ruft Wut hervor: Die Bundesregierung muss einen größeren Teil der Rechnung übernehmen. Die Lösung lokaler Probleme, wie z. B. des Lehrermangels, kann die allgemeine Unzufriedenheit der Wähler lindern. Das hartnäckigste Problem ist jedoch die Einwanderung. Die Liberalen scheuen sich, hart durchzugreifen. Doch die Wahrnehmung, dass die Migration außer Kontrolle geraten ist, treibt die extreme Rechte mehr als alles andere an. Die Verstärkung der europäischen Außengrenzen, die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber und die Integration derjenigen, die bleiben, sind allesamt schwierig. Aber solange die Regierungen nicht den Anschein größerer Anstrengung erwecken, wird der Aufstieg der Rechten weitergehen und die Mitte wird sich weiter auflösen.

 

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Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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