Schiesser: Vom Feinripp-Spott zum Kultlabel der Modewelt - happy birthday!

10.10.2025 Markt und Mittelstand

Der Anfang einer großen Marke riecht nicht nach Industrie, sondern nach Bohnerwachs und Tanzschuhen. 1875 schiebt Jacques Schiesser, ein Schweizer Unternehmer mit Sinn für Textilrevolution, seine Nähmaschinen in einen gemieteten Tanzsaal am Bodensee. Dort, wo tags zuvor Paare Walzer übten, tackern nun Nadeln im Takt. Trikotagen entstehen – das Fundament einer Marke, die sich später in Schlafzimmern, auf Laufstegen und in Wäscheschränken rund um den Globus wiederfindet.

Schiesser denkt von Beginn an größer als Radolfzell: Schon im 19. Jahrhundert gehen die Stoffe über See nach Indien, China, Japan, in den Vorderen Orient. Globalisierung avant la lettre.

150 Jahre später steht das Unternehmen noch immer am Bodensee – nur dass aus dem Tanzsaal längst eine moderne Firmenzentrale geworden ist. 400 Menschen arbeiten hier, 85 Prozent von ihnen Frauen. In einer Branche, in der Frauen die Kundinnen und die Näherinnen stellen, aber viel zu selten die Chefsessel besetzen, ist das mehr als eine Fußnote.

Schiesser ist zu einem Synonym geworden für das Intimste, was Kleidung sein kann: das Textil direkt auf der Haut. Feinripp, Doppelripp – ausgerechnet diese Klassiker, lange verspottet, sind heute Kultobjekte und ironiefrei auf internationalen Laufstegen zuhause. Sie faszinieren gerade, weil sie sich nicht anbiedern.

Tradition trifft Zeitgeist: Das Unternehmen kultiviert die Aura des Beständigen, aber lebt von Modernität, Innovationskraft und einer Spur Nonchalance. Vielleicht ist genau das das Geheimnis: Schiesser bleibt sich seit 1875 treu – und erfindet sich dabei immer wieder neu.

Vom Feinripp zur Multichannel-Strategie

Wer bei Schiesser noch an das berühmte Feinripp-Unterhemd denkt, sitzt gedanklich in der Mottenkiste der Modegeschichte. Denn die Marke hat längst ihre Haut gewechselt – aus dem beschaulichen Bodensee-Städtchen hinaus in die internationale Welt des Fashion-Business. Heute stehen mehr als hundert eigene Stores in der DACH-Region, flankiert von einem kräftigen Onlinegeschäft und einem fein austarierten Fachhandel.

Diese Multichannel-Strategie ist kein bloßes Buzzword, sondern ein kalkulierter Spagat: modern auftreten, ohne die eigene Identität zu verscherbeln. Es ist das Kunststück, zugleich Avantgarde und Archetyp zu sein – und damit in einem Markt zu bestehen, der oft schneller verschwindet, als er sich inszeniert.

Jubiläumskollektion: Tradition trifft Innovation

150 Jahre und kein bisschen müde: Schiesser feiert sein Jubiläum nicht mit Nostalgie, sondern mit einer dreifachen Mode-Erzählung, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen lässt:

Im ersten Akt wird das Fundament neu vermessen: Die legendäre Doppelrippe, einst Inbegriff von Understatement, zeigt sich in Cropped-Tops, Oversize-Shirts und raffinierten Silhouetten. Ein subtil neu gezeichnetes Armbrust-Logo wird dabei zum Symbol für die Balance aus Tradition und Revolte.

Der zweite Teil heißt Mix+Relax – ein Programm für alle, die Eleganz in der Lässigkeit suchen. Klare Schnitte, unaufdringlich edle Stoffe. Und schließlich die Zukunft: Hier zeigt das Label seine Innovationslust. Mit Cotton Flex wird nahtlose Verarbeitung neu definiert, Belüftungszonen tauchen auf, wo man sie nicht erwartet. Unique Cotton mit 720° Stretch™-Technologie spielt fast schon mit physikalischen Gesetzen, flexible Cups inklusive. Als augenzwinkerndes Finale präsentiert Schiesser ein Familien-Schlafanzug-Set im maritimen Streifenlook – so ironisch klassisch, dass es schon wieder Avantgarde ist.

Was der Mittelstand lernen kann

Der Fall SCHIESSER demonstriert, wie ein mittelständisches Unternehmen durch konsequente Qualitätsorientierung und strategische Weiterentwicklung über Generationen bestehen kann. Für Geschäftsführer mittelständischer Textilunternehmen ergeben sich folgende Erkenntnisse: Langfristiger Erfolg basiert auf der Balance zwischen Tradition und Innovation. Die Markenidentität muss bewahrt werden, während Produkte und Vertriebswege kontinuierlich modernisiert werden.

• Globalisierung frühzeitig denken – Schiesser exportierte schon im 19. Jahrhundert nach Asien und den Orient. Wer heute international agieren will, sollte mutig und proaktiv handeln, nicht erst reagieren.

• Produkt-Ikonen pflegen – Feinripp und Doppelripp zeigen: Klassiker können zu Kultobjekten werden, wenn man sie zeitgemäß inszeniert.

• Geschichte als Kapital nutzen – Eine lange Tradition ist kein Ballast, sondern ein Marketing-Vorteil, wenn sie emotional und modern erzählt wird.

• Kundenzentrierung ernst nehmen – Frauen sind Hauptkundinnen und Beschäftigte zugleich – das schafft Glaubwürdigkeit, wenn es auch in Führung und Markenansprache reflektiert wird.

• Vertrieb breit aufstellen – Multichannel ist Pflicht: Fachhandel, eigene Stores und digitales Geschäft ergänzen sich und machen unabhängig von einzelnen Kanälen.

• Design als Sprache der Marke verstehen – Das modernisierte Logo zeigt: Schon kleine visuelle Anpassungen können eine Marke subtil in die Gegenwart holen.

• Innovation sichtbar machen – Technologien wie „720° Stretch™“ sind nicht nur Produktfeatures, sondern auch Storytelling-Elemente mit Signalwirkung.

• Ironie als Differenzierungsmerkmal nutzen – Das Familien-Schlafanzug-Set zeigt, dass Humor und Selbstironie Marken nahbarer machen können.

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