Sahra Wagenknechts Populismus: Zwischen Provokation und politischem Einfluss
Sahra Wagenknecht polarisiert mit ihrer links-konservativen Politik und ihren unorthodoxen Ansichten zur Ukraine, Migration und sozialen Gerechtigkeit.
Wenige deutsche Politiker spalten die Meinungen wie Sahra Wagenknecht. Für ihre Gegner ist sie eine Putin-liebende Demagogin, für ihre Fans ist sie einfach nur "Sahra". Frau Wagenknecht hat einem Land, das eine ruhige und konsensorientierte Politik bevorzugt, einen hochoktanigen Populismus verpasst. Stets mit ihrem Markenzeichen, der hochgeschlossenen Jacke, ausgestattet, beherrscht Frau Wagenknecht den Äther mit ihren klugen, aber pointierten Polemiken über die Ukraine, die Einwanderung und andere heikle Themen. Ihr politisches Konzept ist unorthodox, doch der Erfolg ihrer Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), einer Partei, die sie erst im Januar gegründet hat, beweist ihr Talent für politisches Unternehmertum. Und sie hat ein unheimliches Talent dafür entwickelt, andere Politiker dazu zu zwingen, nach ihrer Pfeife zu tanzen.
In einem Interview in ihrem Abgeordnetenbüro in Berlin erläutert Frau Wagenknecht ihre politische Philosophie und ihre Ziele. "Ohne ein prominentes Gesicht weiß niemand, wofür junge Parteien stehen", sagt sie und erklärt, warum sie eine Partei mit ihrem Image und unter ihrem Namen gegründet hat (die BSW wird irgendwann umbenannt werden, sagt sie). "Es ist einfach ein Programm, das dem entspricht, was viele Menschen wollen. Auf der einen Seite die soziale Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite eine konservative Politik, die sich auf kulturelle Traditionen und die Reduzierung von Migration stützt und die Frage von Krieg und Frieden aufgreift.
Wagenknechts Wiederholung putinesker Redensarten bringt ihr häufige Auftritte in der Kreml-Propaganda ein
Das, was Frau Wagenknecht ihre "links-konservative" Politik nennt, verbindet ein traditionelles linkes Menü - höhere Steuern für Reiche, großzügigere Renten und Mindestlöhne, Skepsis gegenüber dem Großkapital - mit einer nationalistischen Sorge um die kulturelle Identität und einer gesunden Dosis "Woke-Bashing".
Die promovierte Mikroökonomin ist eine starke Befürworterin des deutschen Industriemodells und seines Rückgrats, des Mittelstands, dem sie es verdankt, dass die einfachen Deutschen anständige Löhne und Karrieren haben. Sie sagt, dass die deutsche Regierung, die sie als die "dümmste in Europa" bezeichnet hat, die Unternehmen durch Sanktionen gegen russisches Gas behindert hat, und sie beklagt die "Dummheit" von z.B. Klimaaktivisten, die den Verbrennungsmotor abschaffen wollen, die Quelle von so viel vergangenem Wohlstand in Deutschland. Und sie äußert sich zu den "großen Problemen" der irregulären Migration, die ihrer Meinung nach "Deutschland überfordert".
Im Mittelpunkt ihres Angebots steht die Ukraine, oder was sie "Frieden" nennt. Lange Zeit durchdrungen vom NATO- und Amerika-Bashing der deutschen harten Linken, wo sie ihre politische Lehrzeit verbrachte, hat Frau Wagenknecht im Krieg ein Thema gefunden, das sie deutlich vom deutschen Pro-Ukraine-Mainstream abhebt.
Sie verurteilt den Einmarsch von Wladimir Putin, sagt aber, dass er aus der legitimen Sorge Russlands über die NATO -Expansion entstanden ist. Im Juni boykottierten BSW-Abgeordnete gemeinsam mit der rechtsextremen Alternative für Deutschland eine Bundestagsrede von Volodomyr Zelensky, dessen "kompromisslose Haltung" sie teilweise für die anhaltenden Kämpfe verantwortlich macht.
Für diese Ansichten gibt es einen Markt, insbesondere im Osten Deutschlands. Frau Wagenknecht sagt, sie akzeptiere, dass die Ukraine im Falle der von ihr geforderten Friedensregelung Sicherheitsgarantien brauche. Sie würde es aber bevorzugen, wenn diese von Ländern wie China und der Türkei kämen. Der Ukraine muss auf jeden Fall die NATO-Mitgliedschaft verweigert werden, da russische Bedenken gegenüber dem Bündnis den Krieg überhaupt erst ausgelöst haben.
Was Deutschland betrifft, "wäre es klüger gewesen, wenn wir an der alten Politik festgehalten hätten", "zwischen Russland, Osteuropa und den USA zu vermitteln", statt der Ukraine Waffen und Panzer zu schicken. Sie hat Olaf Scholz, den Bundeskanzler, als "Vasall" Amerikas abgetan, was ihre Weltanschauung auf den Punkt bringt und erklärt, warum das deutsche Establishment sie so giftig findet. (Frau Wagenknechts Wiederholung putinesker Redensarten bringt ihr auch häufige Auftritte in der Kreml-Propaganda ein).
Sie wuchs im kommunistischen Ostdeutschland auf und blieb auch nach dem Fall der Mauer eine überzeugte SED-Anhängerin. Ihr politischer Weg führte sie zur Partei "Die Linke", die zum Teil von den ostdeutschen Kommunisten abstammt. Als Co-Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Partei in den 2010er Jahren wurde sie eine feste Größe in der Talkshow-Szene und eine bekannte Autorin. Doch ihre Spannungen mit der Linken in Fragen der Einwanderung und des Lebensstils - sie war der Meinung, die Partei sei von Tofu mampfenden Großstädtern erobert worden - und die wachsende Stärke ihrer persönlichen Marke machten einen Bruch unvermeidlich. Mit neun linken MPs im Gepäck erklärte Frau Wagenknecht ihre Absicht, "die deutsche Politik zu verändern, nicht für Jahre, sondern für Jahrzehnte".
Ist sie überhaupt bereit, die Kompromisse des Regierens einzugehen?
Es könnte das beeindruckendste politische Debüt in der deutschen Geschichte sein. Die BSW hat bei ihrem ersten Test, den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni, über 6 % der Stimmen erhalten. Dann folgten die Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, drei Bundesländern im Osten Deutschlands, in denen ihre Politik immer am beliebtesten war. Die zweistelligen Ergebnisse der BSW in allen drei Bundesländern zwangen die Christdemokraten (CDU) und die Sozialdemokraten, eine Koalition mit ihr zu erwägen, angesichts der Notwendigkeit, eine "Brandmauer" um die AfD aufrechtzuerhalten, die auch im Osten besser abschneidet. Vor einem Jahr gab es die BSW noch nicht. Jetzt bereitet sie sich darauf vor, in drei der 16 Bundesländer ihr Amt anzutreten.
Oder doch nicht? Der Erfolg ihrer Partei zwingt Frau Wagenknecht eine ungewohnte Frage auf: Ist sie bereit, die Kompromisse des Regierens einzugehen? Es gibt Gründe, dies zu bezweifeln. Denn während Frau Wagenknecht in der Ukraine zu Kompromissen rät, spielt sie in Ostdeutschland mit harten Bandagen. Sie hat die Koalitionsgespräche in Thüringen unterbrochen, weil ein Positionspapier der drei potenziellen Partner die jüngste deutsche Vereinbarung über die Stationierung amerikanischer Langstreckenraketen ab 2026 nicht formell ablehnt - obwohl die Länder in der Außenpolitik so gut wie kein Mitspracherecht haben. Und sie hat den Ton verschärft, indem sie darauf bestand, dass CDU -Politiker, mit denen ihre Kollegen in den östlichen Bundesländern verhandeln, sich von Friedrich Merz, ihrem Bundesvorsitzenden, distanzieren, der will, dass Deutschland mehr Waffen an die Ukraine liefert.
Für viele Beobachter sind die unverschämten Forderungen in symbolischen Fragen ein Vorspiel, um die Gespräche ganz platzen zu lassen oder andere zum Ausstieg zu zwingen: Einige in der sächsischen CDU bekommen bereits kalte Füße wegen der Frau, die sie als "Neobolschewistin" abtun.
"In den Koalitionsverhandlungen geht es vor allem um bessere Lebensbedingungen", sagt Wagenknecht und verweist auf das "desolate" Bildungssystem in Deutschland. "Dabei ist die Frage nach Krieg und Frieden elementar, denn wenn der Krieg nach Deutschland kommt, hat es keinen Sinn, über Bildung nachzudenken." Diese Haltung beunruhigt die BSW-Kollegen von Frau Wagenknecht bei den Koalitionsverhandlungen, die gut zu laufen schienen, bis sich die Zentrale einschaltete. Aber "wir werden nicht in Regierungen eintreten, in denen wir unsere Wähler enttäuschen würden", sagt Frau Wagenknecht. "Das würde zu einem schnellen Ende des Erfolgs unserer Partei führen."
Sarah Wagner, eine BSW-Beobachterin an der Queen's University Belfast, glaubt, dass Frau Wagenknecht nicht will, dass Kompromisse in Bezug auf die Landesregierungen ihre Kampagne für die Bundestagswahl im nächsten Jahr gefährden, die ihre eigentliche Priorität ist.
"Die Basis dieser Partei ist die Opposition, und das wird nicht funktionieren, wenn sie an der Regierung sind", sagt sie. Ein Insider sagt, die Partei würde sich freuen, wenn sie bei dieser Wahl ihren derzeitigen Stimmenanteil von etwa 9 % halten könnte. Das würde ausreichen, um die BSW zu einem Spielverderber zu machen, der die Koalitionsbildung noch komplizierter macht, als sie ohnehin schon ist, aber nicht genug, um die Partei von Frau Wagenknecht aus ihrer oppositionellen Komfortzone herauszubringen. Vielleicht ist das für sie in Ordnung.
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