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Warum sich deutsche Gründer von der Krise nicht aufhalten lassen

Die Pandemie hat vielen Unternehmern einen Strich durch die Rechnung gemacht. Gleichzeitig wagen einige den Schritt in die Selbständigkeit. Sind die alle irre oder klüger als der Rest der Welt?

Ob die schwäbische Hausfrau das begrüßen würde? Inmitten der Pandemie – Ende offen – nehmen Leute viel Geld in die Hand um Firmen aufzubauen. Einer bringt sogar den Investoren Peter Thiel dazu, ihm über dessen US-Fonds Valar im trüben Lockdown-November 2020 rund 21 Millionen Euro anzuvertrauen. Das schaffte Ante Spittler. Nicht, dass die Geschäftsidee von ihm und seinen Mit-Gründern völlig neu wäre: Ihre Firma Moss bietet Unternehmen mit bis zu 500 Mitarbeitern Firmenkreditkarten an. Darüber können deren Mitarbeiter Rechnungen begleichen, ohne zuvor bei der Sekretärin um die Abteilungs-Kreditkarte anhalten zu müssen und ohne dass das Controlling der Firma großen Abrechnungsaufwand hätte. "Wir sind ein New Work Enabler", verspricht der Marketing-Profi Spittler.

Thiel, zu dem der Kontakt über befreundete Investoren zustande kam, verspricht sich von Spittler eine Erfolgsstory. Im Januar wurde das Fintech Moss – 60 Mitarbeiter und unterwegs in einem hoch reguliertem Markt – mit bis zu 100 Millionen Euro bewertet. Klingt nach Happy End, aber auch Spittler, durchaus mit Chuzpe gesegnet, hat Nerven gelassen. Trotzt erprobter Resilienz als Ex-McKinsey-Berater und Gründer bei Move24 (ruht in Frieden). "Ich schwankte zwischen einer Grundparanoia um meine Zukunft und unfassbarer Motivation. Aber mir hilft, dass ich unsere Gründung eher als Lebenswerk denn als kurzes Projekt sehe", strahlt er. Man ahnt, für Investoren könnte er eine ideale Mischung aus Think Big, Work Hard und First-Class Network sein. Clever wie eine schwäbische Hausfrau noch dazu.

Deutschland gründet. Nicht nur aus der Not geboren, weil Corona den Arbeitgeber zerlegt hat und Selbstständigkeit eine Alternative ist. Auch das trauten sich viele. Andere stolperten mit ihren Plänen in die Pandemie hinein oder gründeten erst recht. Nach dem heftigen Gründungseinbruch im 3. Quartal 2020 steigt die Kurve kontinuierlich. Es ist viel Geld im Markt. Zumindest für Gründer im Bereich Bildung, Finanzen sowie Medizin und Gesundheitswesen. Im Tourismus, Medien- und Kreativbranche überwiegt das Gegenteil. Kapital brauchen die einen wie die anderen.

Wenn’s um Geld geht, Sparkasse? Eher nicht. 2020 finanzierten sich Gründer vor allem aus staatlichen Fördermitteln (52 Prozent), über Business Angels (41 Prozent) und Venture Capital (42 Prozent). Exakt das Gegenteil zum Vorjahr. 2019 hängten die eigenen Ersparnisse mit (78 Prozent) andere Finanzierungsquellen ab. Geld vom Staat zogen 44 Prozent, Business Angels nutzten 32 Prozent. Venture Capital war kaum begehrt (19 Prozent). Ganz anders 2021. Gerade vermeldete das German Venture Capital Barometer der KfW, dass sich das Geschäftsklima dieser Investoren deutlich verbessert hat. Die Indikatoren für Qualität und Stärke des Dealflows lägen im grünen Bereich, die Zufriedenheit mit den Einstiegsbewertungen sei deutlich höher als 2020. In diesen Szenarien fragen sich Börsianer: Sind die neuen Gründer Hoffnungs- oder Substanzwerte?

Der Erfahrene

Professor Arndt Rolfs braucht niemandem mehr etwas zu beweisen. Auch nicht sich selbst. Der Neurologe gründet in Serie, unter anderem den global agierenden Diagnostik-Spezialisten Centogene. Im Oktober 2020, als sich der harte Corona-Winter abzeichnete, stieg er dort aus. "Man soll gehen, wenn es am schönsten ist." Gerade gründet er mit Partnern Arcensus. "Eine globale, digitale Healthcare-Plattform, über die Patienten mit unklaren Krankheiten schneller als beim Arzt und weitgehend unabhängig von Laborwerten automatisiert die richtige Diagnose bekommen", sagt der 61-Jährige. Künstliche Intelligenz, Algorithmen und immer bessere Dateninterpretationen sollen es möglich machen. "Gerade in Deutschland erreichen wissenschaftliche Erkenntnisse in der Medizin das Studium meist erst 20 Jahren später", zürnt Rolfs.

Arcensus befähigt Patienten, weil Ärzte noch immer zu wenig über genetische Erkrankungen wissen. Selbst mit 90 Prozent richtiger Diagnose wäre die Plattform weitaus besser als die meisten Ärzte. Der renommierte Wissenschaftler denkt groß und global. Corona ist ihm eine medizinische Herausforderung, aber kein Hindernis. "Die Resonanz unserer Investoren ist überaus positiv. Wir klären jetzt die Bewertung", sagt er entspannt.

Der Hippie

Alex von Harsdorf entwickelt im kleinen Team mit Freunden und aus seinem Home-Office heraus das Programm ‚Livebuy‘. Damit können Händler und Markenhersteller Livestream-Events umsetzen, in denen ihre Kunden direkt shoppen und ordern können. Das "QVC fürs Smartphone" ist erfolgreich: Die Parfümerie-Kette Douglas nutzt die Dienste seit September 2020. Heute, Frühjahr 2021, erscheint das Geschäftsmodell als Volltreffer in Coronazeiten. "Im vergangenen März war das für uns absolut nicht absehbar. Corona zerlegte alle Pläne, von uns und unseren Kunden", seufzt von Harsdorf, um dann doch zu strahlen (er studierte an der Popakademie Baden-Württemberg): "Aber gleichzeitig hat uns drei Gründern der Lock down veranschaulicht, wie sehr die Menschen eine Verbindung zu anderen suchen – auch beim Shoppen. Uns war klar: Genau jetzt müssen wir das machen!".

Seitdem geht’s mit 12 Mitarbeitern – verstreut in ganz Europa, es gibt kein Office - bergauf. Auch weil sich die Gründer sehr früh Business Angels und Family Offices zur Finanzierung suchten. Von Harsdorf kniet sich rein: "Meine Mission ist es, eine globale Lösung aufzubauen, von der ich meinen noch nicht geborenen Kindern später erzählen kann: Daran war ich beteiligt".

Die Nischen-Strategin

Julia Wilde kann Stahl. Sie war über Jahre bei thyssenkrupp. Und sie kann Hanf. "Ich kannte die CBD Branche schon vor der Gründung meines Kosmetik- und Wellnessunternehmens J’TANICALS", sagt die 30-Jährige – etwas jünger als das Durchschnittsalter deutscher Gründer (36,1 Jahre). "Die Inhaltsstoffe in Hanf werden unterschätzt. Das CBD in der Pflanze wirkt auf der Haut talgregulierend, antioxidativ und pflegend." Perfekt bei unreiner Haut, hervorgerufen durch das Tragen kratziger Masken. "2020 hofften wir, dass Corona die Nachfrage nach unseren Skin Care-Produkten noch steigern wird."

Das klingt heute mehr nach ‚Den Stier bei den Hörnern packen‘, als es sich damals wohl angefühlt hat. "Natürlich waren wir unsicher und haben die klassische Gründer-Achterbahn mitgenommen", erinnert sich die Düsseldorferin. "Aber wir wussten, dass sich viele größere Konzerne an das Thema CBD in Kosmetik noch nicht herantrauen." Heute hat das kleine Unternehmen fünf Mitarbeiterinnen mit großen Plänen. Oder wie es im Gründer-Englisch auf der J’TANICALS Homepage heißt: "Building Europe‘s leading CBD skin care and wellness brand". Angel Investoren hat sie damit schon 2020 überzeugt. "Sie haben mir bei der Finanzierung oder mit ihr Expertise zum Beispiel im Bereich PR und Fotografie sehr geholfen. So konnte ich bei der Produktentwicklung viel aus eigener Tasche bezahlen."

Die Wiederholungstäterin

Nadine Jagoschinski weiß, dass die Mehrheit der Gründungen scheitern. Mal gründete sie und es ging gut, mal nicht. "In der Pandemie profitiere ich enorm von diesen Erfahrungen", sagt die Chefin des Unternehmens Salesrakete. Der Name ist Pro gramm. Die Stuttgarterin Jagoschinski und ihr Münchner Geschäftspartner wollen für Kunden deren Verkaufskanäle on- und offline verbinden. Im Juli 2020 machten sie ernst. "Wann soll die Nachfrage nach digitaler Vertriebsunterstützung größer sein als in einer Pandemie?". Wie recht sie dauerhaft haben würde, ahnte sie im Sommer 2020 nicht, als niemand etwas von hochansteckenden britischen Mutanten wusste. Beide Partner brachten ihre Geschäftskontakte ein, ein echtes Asset. "Der langjährige Aufbau vertrauenswürdiger Beziehungen ist unser Erfolgsfaktor", freut sich Jagoschinski. Plus ein Partnernetzwerk, über das die Vertriebs-Experten andere Gewerke je nach Bedarf akquirieren. Das schafft Freiräume – auch finanziell.

Was raten diese Fünf denen, die jetzt ihr Herz und Geld in die Hand nehmen wollen um zu gründen? Alex von Harsdorf, Livebuy: "Ein gutes Team besteht aus sehr komplementären Leuten, die die Expertise der anderen wertschätzen. Der Satz ‚Jede Krise ist eine Chance‘ stimmt! Weil jetzt alle handeln müssen und alte Strukturen auf brechen, sind es alles potentielle Kunden." Arndt Rolfs, Arcensus: "Gründer brauchen Langmut und Ausdauer, denn in Deutschland stehen sie vor einem hohen bürokratischen Aufwand." Nadine Jagoschinski, Salesrakete: "Kritik aktiv suchen: Es ist enorm wichtig, seine Idee immer wieder am Markt zu challengen statt in Produktverliebtheit zu sterben." Ante Spittler, Moss: "Gründer müssen mit einer Grundunsicherheit leben können." Julia Wilde, J’TANICALS: "Freunde, Familie und Angel Investoren können wichtige Unterstützer sein. Vorab in der Branche ein Netzwerk aufbauen, das auch Investitionsinteresse wecken kann. Das klappt gut auch über LinkedIn."

Optimismus scheint Start Ups im Blut zu liegen: Sie könnten für die Zukunft recht haben, zeigt der Blick zurück. Eine McKinsey-Studie untersuchte, wie sich Unternehmen im S&P 500 entwickelt haben, die während der Finanzkrise 2008/2009 weiterhin oder verstärkt auf Innovationen setzten. Da lacht das Investorenherz: Die Marktkapitalisierung der Wagemutigen schnitt nicht nur in der Krise um zehn Prozent besser ab. Nach fünf Jahren übertrafen sie den Markt um 30 Prozent.

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