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Zukunftsmärkte > Verlässlichkeit für Pharma made in Germany

Pharma: Wir wollen keine Sonderbehandlung – nur einen funktionierenden Standort Deutschland

Pharmaverbandschef Kai Joachimsen über fehlende Planungssicherheit, den Status der Gesundheitsbranche in Deutschland und die Chancen für Mittelständler.

Dr. med. Kai Joachimsen leitet den Bundesverband der pharmazeutischen Industrie seit Anfang 2019. Zuvor hat der 59-jährige Mediziner unter anderem den britischen Ärztefortbildungsspezialisten Omniamed geführt und bei den Pharmakonzern GSK und MSD gearbeitet. (Foto: BPI/Kruppa)

Das Gespräch führte Thorsten Giersch. 

Wenn das Gesundheitssystem einer Ihrer Patienten wäre, was würden Sie diagnostizieren? 

  • Kai Joachimsen: Wir stehen unmittelbar vor der Frage, ob das Gesundheitssystem auf die Intensivstation verlegt werden muss. Unserem Gesundheitssystem geht es nicht so gut, wie es ihm gehen sollte. Die Strukturen sind zu komplex. Es ist zwar für alles gesorgt, aber es ist beispielsweise zunehmend schwierig, Arzttermine zu bekommen. Zudem werden Leistungen wie zum Beispiel Röntgen- oder Laboruntersuchungen doppelt und dreifach gemacht, weil etwa die Behandlungsdaten nicht miteinander vernetzt sind. Das alles ist ineffizient und kostet viel Geld. Während der medizinische Bedarf in der Bevölkerung ohnehin steigt. 

Was sind die wesentlichen Gründe für die Lage? 

  • Kai Joachimsen: Wir haben ein großes demografisches Thema in diesem Land. Wir werden immer älter und arbeiten immer weniger. Das muss finanziert werden. Wir haben eine strikte Trennung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung. Das macht aber aus Sicht der Behandlung wenig Sinn. Die elektronische Patientenakte ist jetzt da, aber auch mit einem Fehlstart und das nach rund 20 Jahren Vorbereitungszeit. Digital gehören wir zu den Schlusslichtern weltweit. Und für all das geben wir viel, viel mehr Geld aus als alle anderen Länder dieser Welt, mit Ausnahme der USA. Das kann man rechtfertigen, solange die Ergebnisse besser sind. Das ist aber nicht mehr so. 

Wie viel Wucht haben die deutschen Pharmafirmen? 

  • Kai Joachimsen: Interessanterweise sind die Unternehmen, die sich heute weltweit in den Top 20 befinden, oft vor mehr als 100 Jahren in Deutschland gegründet worden. Aber sie verließen das Land irgendwann. Es gibt noch einige Firmen, die hierzulande forschen und produzieren – viele davon kleine und mittlere Unternehmen. Doch unter den größeren Unternehmen wird es dann schon dünner. Hier muss es mehr Anreize geben, das Potenzial des Pharmastandortes Deutschland ist jedenfalls groß. Das hat auch die Politik erkannt. 

Wie sieht die Branche aus? 

  • Kai Joachimsen: Unsere Branche ist tatsächlich sehr mittelständisch geprägt. Wir haben 640 Unternehmen, die sich im Weitesten mit der Herstellung, Erforschung und dem Vertrieb von Arzneimitteln befassen. Und etwa 90 Prozent davon sind Mittelständler. 

Was tun diese Betriebe genau? 

  • Kai Joachimsen: Es gibt Unternehmen, die in der Biotechnologie tätig sind, wo inzwischen das Gros der neuen Medikamente entwickelt wird. Dann gibt es Hersteller, die sich auf Arzneimittel der Selbstmedikation konzentrieren. Pharma ist kein monolithischer Block. Neben forschenden Herstellern gibt es auch Generikahersteller, die sich im Wesentlichen mit der Produktion von günstigen, inzwischen patentfreien Arzneimitteln befassen. Das ist aber in Deutschland finanziell kaum noch zu stemmen. Zudem gibt es Hersteller pflanzlicher Arzneimittel, Hersteller im Bereich Homöopathie und Anthroposophie, Hersteller von Tierarzneimitteln und veterinärmedizintechnischen Produkten sowie Pharma-Dienstleister und beratende Unternehmen. 

Gibt es etwas, was diese mittelständischen Betriebe in der Pharmaindustrie gemeinsam haben? 

  • Kai Joachimsen: Das Ziel, dass sie Produkte entwickeln für die Gesundheitsversorgung von heute und morgen. Also sicherzustellen, dass wir medikamentöse Antworten auf Erkrankungen finden. Und da es so komplex ist und so forschungsintensiv, gibt es in aller Regel eine Spezialisierung auf den einen oder den anderen Bereich. Im Mittelstand finden wir familiengeführte Unternehmen, die langfristige Ziele verfolgen. Sie sind nicht zuletzt in ihren jeweiligen Regionen ein signifikanter Player und bestens vernetzt, arbeiten zum Teil aber auch international und haben globales Gewicht. Nicht zuletzt sind sie attraktive Arbeitgeber, die den Wirtschaftsstandort Deutschland mit voranbringen und den Wohlstand in unserem Land fördern. 

Ist die Pharmaindustrie ein Hoffnungsträger für Wachstum hierzulande? 

  • Kai Joachimsen: Definitiv. Denn es gibt im Leben wohl nichts Wichtigeres als Gesundheit. Die natürliche Nachfrage ist da. Die Mehrzahl der Erkrankungen können wir heutzutage auch noch nicht richtig gut behandeln. Viele schon sehr gut, aber sehr viele noch nicht. Da steckt sehr großes Potenzial. In vielen Bereichen ist der medizinische Bedarf noch ungedeckt – ein Beispiel sind etwa seltene Erkrankungen. Von den bislang etwa 8000 bekannten ist erst ein Bruchteil behandelbar. 

Was spricht für den Standort Deutschland? 

  • Kai Joachimsen: Die Erforschung, Entwicklung, Herstellung von Arzneimitteln erfordert sehr viel Expertise. Es braucht Pharma- und Ingenieurswissenschaft, dazu jede Menge hoch qualifizierte Fachkräfte. Deutschland ist traditionell sehr gut geeignet, Forschung und Wissenschaft nach vorn zu bringen. Gerade auch in der Arzneimittelforschung war Deutschland immer führend. Und das hat positive Effekte auf die Gesamtwirtschaft. Das sieht man in der volkswirtschaftlichen Bilanz: Jeder Euro, der in der Gesundheitsindustrie investiert wird, resultiert zusätzlich in ungefähr 0,86 Euro weiterer Wertschöpfung durch zum Beispiel Zulieferindustrien. 

Welche Rolle spielt dabei die technologische Entwicklung, etwa durch künstliche Intelligenz? 

  • Kai Joachimsen: Das ist für uns ein positiver Gamechanger, vor allem auch für kleine Unternehmen, für die Studien finanziell im Verhältnis noch aufwendiger sind. Wer ein neues Medikament von null an entwickeln will, muss sich darauf einstellen, dass das im Durchschnitt bis zu zwölf Jahre und mitunter mehrere Milliarden Euro kosten kann. Der Aufwand für die Forschung ist enorm hoch. Ist irgendwann eine Substanz gefunden, muss sie nicht mehr im Labor verprobt werden, sondern Betriebe lassen die KI und womöglich bald auch Quantencomputer rechnen. Jetzt mit KI ist es wieder denkbar, dass Mittelständler mit weniger Aufwand und vor allem viel schneller und zielgenauer arzneimitteltechnische Antworten finden. 

Die Grundlagenforschung kommt oft aus Deutschland, verlässt dann aber das Land. Warum? 

  • Kai Joachimsen: Weil die Rahmenbedingungen noch nicht stimmen. Wenn Sie in Deutschland eine klinische Studie bundesweit durchführen wollen, dann können Sie bis zu 54 verschiedene Datenschutzbeauftragte haben, die Sie überzeugen müssen. Das geht nicht. In Spanien gibt es eine zentrale Plattform, auf der Unternehmen ihre klinischen Prüfungen anmelden. Eine Ethikkommission schaut sich alles zentral an. Die Unternehmen erhalten binnen vier Wochen eine Antwort. Deutschland war bis vor vier Jahren die zweitstärkste Nation, was die klinische Forschung betrifft. Wir sind gerade auf Rang sieben abgerutscht – unter anderem hat uns ­Spanien überholt. 

Die Ampel hatte bereits angeschoben, dass klinische Studien in Deutschland einfacher möglich sind. 

  • Kai Joachimsen: Wir sind sehr dankbar, dass das Grundproblem ineffizienter Prüf- und Genehmigungsverfahren erkannt wurde. Das ist aber nur ein erster wichtiger Schritt, es gibt noch viele andere Dinge. Neue Medikamente brauchen wie gesagt etwa zwölf Jahre, bis sie wirklich in den Markt kommen. Und treffen dann hierzulande auf ein Marktumfeld, in dem es schwierig ist, einen Preis festzulegen und den von den Krankenkassen erstattet zu bekommen. Unternehmen haben derzeit keine Planungssicherheit darüber, ob sie für das Medikament, an dem sie heute arbeiten, einen ansatzweise auskömmlichen Erstattungspreis bekommen. 

Mit der Folge, dass ich keinen Fiebersaft für mein Kind bekomme. 

  • Kai Joachimsen: Exakt. Wir haben aktuell immer noch Lieferengpässe für etwa 500 Arzneimittel in Deutschland. Medikamente, die zur Grundversorgung der Bevölkerung benötigt werden, unterliegen meist mehr als theoretisch bis zu 30 verschiedenen Preisregulierungsmechanismen. Seit August 2009 ist für fast die allermeisten Medikamente der Preis sogar eingefroren. Wenn man die Kosten der hiesigen Produzenten dagegenhält, wird es zum Verlustgeschäft. 85 Prozent aller Medikamente, die uns im Alltag begleiten, haben diese Preisregulierungsmechanismen. 

Was wünschen Sie sich von der neuen Regierung? 

  • Kai Joachimsen: Planungssicherheit. Man kann mit fast allem arbeiten, nur nicht mit Szenarien, die nicht planbar sind. Unsere pharmazeutische Industrie will keine Subventionen. Bessere Abschreibungsmöglichkeiten wären jedoch sehr hilfreich. Wir wollen kein Geld von der Regierung. Wir wollen kein Geld vom Staat. Wir wollen aber in der Lage sein, unternehmerisch zu handeln und die Patientinnen und Patienten optimal mit Arzneimitteln versorgen zu können. Und daran scheitert gerade vieles. << 

Der Pharmavertreter 

Dr. med. Kai Joachimsen leitet den Bundesverband der pharmazeutischen Industrie seit Anfang 2019. Zuvor hat der 59-jährige Mediziner unter anderem den britischen Ärztefortbildungsspezialisten Omniamed geführt und bei den Pharmakonzern GSK und MSD gearbeitet. 

 

 

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