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Einkauf, Marketing und Marken > Von der Kantine zur Ikone: Eine Wurst als Spiegel deutscher Industrie- und Esskultur

Zwischen Stahl und Senf – Die VW-Currywurst als kulturelles Artefakt industrieller Identität

Von der Produktionshalle in die Tiefkühltruhe: Wie ein Kantinenklassiker zur Projektionsfläche kollektiver Erinnerung und Unternehmensethik wird.

Markus Greiner, Leiter der Volkswagen Gastronomie, betrachtet die Currywurst nicht nur als Verpflegung, sondern als Ausdruck gelebter Unternehmenskultur. (Foto: Volkswagen AG)

Wolfsburg, ein früher Morgen. Der Geruch von Metall, Maschinenöl – und Rauch aus Buchenholz liegt in der Luft. Wer in der Fertigung bei Volkswagen ankommt, trifft nicht nur auf Fließbänder und technische Präzision, sondern auch auf ein Relikt aus einer anderen Zeit: die VW-Currywurst. Was auf den ersten Blick wie ein bloßer Kantinensnack erscheint, ist in Wahrheit ein kulturelles Artefakt, ein Symbol für Identität, Wandel und die Frage: Was bleibt, wenn der Fortschritt alles andere verschlingt?

Mehr als Wurst: Ein Originalteil mit Seele

Seit 1973 trägt die Bockwurst eine Teilenummer – 199 398 500 A – und wird damit offiziell als Volkswagen-Bauteil geführt. Sie steht damit in einer Reihe mit Zündkerzen, Schalldämpfern und Türverkleidungen. Doch im Unterschied zu diesen Bauteilen ist die Wurst kein Bestandteil eines Produkts – sie ist das Produkt. Und zwar eines, das sich über Jahrzehnte in das kollektive Gedächtnis einer Belegschaft, ja einer ganzen Branche eingebrannt hat. 

Diese Wurst hat etwas, das heutige Fahrzeuge zunehmend verlieren: Identität durch Wiedererkennbarkeit. Sie verändert sich nicht im Drei-Jahres-Takt. Sie muss keinen Facelift über sich ergehen lassen. Ihre Wertigkeit wird nicht durch Leasingraten, sondern durch Geschmack und Ritual bestimmt.

Mit über 8,5 Millionen verkauften Einheiten im Jahr 2024 übertrifft sie sogar die Fahrzeugproduktion der Kernmarke – ein symbolischer Vorgang, der mehr erzählt als jede Bilanzpressekonferenz.

Industriekultur trifft Arbeiterstolz

Die VW-Currywurst war nie für Gourmets gedacht. Sie war eine Wurst für den Werker, für die Frühstückspause nach der Frühschicht, für das gemeinsame Essen unter Kollegen – ein soziales Bindeglied in der anonymen Weite der Fabrikhallen. Sie wurde nicht entwickelt, um Lifestyle-Magazine zu füllen, sondern um satt zu machen.

So ist die VW-Currywurst also kein Food-Trend. Sie ist keine Antwort auf TikTok-Formate oder urbanes Streetfood-Marketing. Sie stammt aus einer Zeit, in der Kantinenessen kein „Gastro-Konzept“, sondern soziale Versorgung war. Sie war Teil eines Fürsorgegedankens, der heute oft als paternalistisch abgetan wird, in Wahrheit aber Ausdruck eines industriellen Humanismus war: Der Betrieb kümmert sich. Auch um das Mittagessen. Die Wurst war – und ist – ein Katalysator für Gespräch, ein Ritualort in der Produktionsroutine, eine kleine Rebellion gegen das Funktionale.

Die Einführung einer vegetarischen Version im Jahr 2010 – damals beinahe revolutionär – zeigt: Auch Tradition kann lernen. Auch ein Werk mit Stahlherz kann ein grünes Blatt schlagen. Die vegetarische Wurst, ebenfalls mit Teilenummer, beweist, dass Wandel nicht immer Bruch bedeuten muss.

Die Mikrowelle als Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Markt

 

Jetzt, im Jahr 2025, geht die VW-Currywurst den nächsten Schritt: Sie verlässt den Schutzraum der Kantine und tritt in den Einzelhandel. Als Fertiggericht für die Mikrowelle, erhältlich bei Edeka und Netto. Was bedeutet das? Ist es ein Triumph – oder ein Ausverkauf?

Man könnte sagen: Endlich kann jeder ein Stück Volkswagen-Kultur schmecken. Man könnte auch fragen: Wird eine Legende nicht entzaubert, wenn sie in Plastikschale und Barcode verpackt wird? So oder so: Die VW-Currywurst betritt eine neue Bühne, verliert aber auch ein Stück ihrer Aura. Was einst exklusives Zeichen von Zugehörigkeit war, wird zur Handelsware.

Fazit: Die letzte ehrliche Ikone

Die VW-Currywurst ist kein Gimmick, keine Laune eines traditionsverliebten Konzerns. Sie ist ein kulturelles Dokument. Und gerade in einer Zeit, in der Marken und Produkte immer austauschbarer erscheinen, liegt in ihrer Schlichtheit ein leiser Trotz: Wir sind noch da. Wir machen noch Dinge, die bleiben.

Denn in einer Ära, in der Marken sich neu erfinden, CEOs alle zwei Jahre wechseln und Produkte nur noch digitale Signaturen sind, steht die VW-Currywurst für etwas Seltenes: für Kontinuität. Sie ist nicht perfekt, sie ist nicht modern – und genau das macht sie so bedeutsam. Sie erzählt eine Geschichte, die sich nicht in PowerPoint-Folien erklären lässt. Sie schmeckt nach Rauch, nach Arbeit, nach Mittagspause mit Kollegen.

Vielleicht ist die VW-Currywurst deshalb mehr als eine Wurst. Vielleicht ist sie – wie jedes gute Kulturprodukt – eine Erzählung. Von Arbeit, Gemeinschaft, Erinnerung. Und von der Möglichkeit, dass Identität auch in Zeiten der Transformation Bestand haben kann – notfalls mit ein bisschen Ketchup.

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