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Management > Nachhaltigkeit im Unternehmen

Von der Bohne zum Bericht

Nachhaltigkeit ist für den deutschen Mittelstand eine Jahrhundertaufgabe. Völlig neue Strategien sind nötig – und die richtigen Leute. Ein Leitfaden.

Gut gelaunt: Eine Mitarbeiterin der nicaraguanischen Kakaoverarbeitung von Ritter Sport kontrolliert die Bohnen. Bildquelle: Alfred Ritter

Das orangefarbene T-Shirt ist ein stückweit sein Markenzeichen geworden. Moritz Ritter trägt es in Videos oder wenn er auf der Bühne steht, so wie im September auf dem „Enkelfähig Summit“ auf dem Haniel-Campus in Duisburg. Eingeladen wurde er, weil Ritter Sport als Vorbild nachhaltigen Wirtschaftens gilt – und das ist bei Schokolade sehr komplex: Energie spielt genauso eine Rolle wie Verpackungsthemen und Rohstoffe, von Nüssen über Milch bis zum Kakao. Und der wächst bekanntlich in der Äquatorregion, wo es vielen Menschen in sozialer Hinsicht schlecht geht.

Umweltthemen sind für Ritter Sport seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ein zentrales Thema geworden. Der Fallout hatte den Haselnussanbau in der Türkei getroffen. Das war „der Anlass, sich für Energie zu interessieren“, sagt Ritter. Die Energieerzeugung wurde zum zweiten Standbein. Das neue Windrad liefert Energie für 180 Millionen Tafeln Schokolade.

So etwas „macht uns krisensicher und das Familienunternehmen unabhängiger“, sagt Ritter. Bis 2030 will Ritter Sport auch beim sogenannten Scope 3 klimaneutral sein und das eben nicht nur durch Kompensation, sondern durch maximal mögliche Reduktion. Scope 3 erfasst auch Emissionen, die durch Herstellung und Transport von Vorprodukten entstehen oder der Nutzung des eigenen Produkts. „Man muss kein Öko sein, um das zu machen. Es reicht, ein hundsnormaler Kapitalist zu sein“, sagt Ritter. 

Komplexer Kakao

Klimaneutralität ist angesichts der vielen Rohstoffe, die für die Schokoladenproduktion nötig sind, herausfordernd. Milch ausschließlich von Kühen, die nicht rülpsen und dabei Methan freisetzen, dürfte es so bald nicht geben. Weidemilch statt Pulver für die komplette Produktion sei auch noch nicht möglich, sagt Ritter. „Da haben wir noch keine richtige Lösung.“

Noch komplexer ist es beim Kakao – und das in ökologischer und sozialer Hinsicht. In der Regel beziehen Schokoladenhersteller den Rohstoff an der Börse und haben mit dem Anbau der Bohnen praktisch nichts zu tun. Anders Ritter Sport. Das Unternehmen gründete Partnerschaften in den Erzeugerländern und unterstützt beim Anbau inklusive Schulungen. In Nicaragua hat das Unternehmen vor zehn Jahren 2500 Hektar gekauft und zur Plantage gemacht, die Hälfte der Fläche aber als Naturwald für Tiere belassen – unter anderem das Faultier, Ritters Maskottchen. Das Ziel ist nachhaltiger Anbau inklusive westlicher Sozialstandards. Man muss dabei wissen, dass Kinderarbeit bei den Kakaobauern weit verbreitet ist, weil die Familien von der wenig einträglichen Arbeit sonst nicht leben könnten.

Ritter Sport ist mit seinem sozial-ökologischen Ansatz eher Ausnahme als Regel. Ein Familienunternehmen, das sein Handeln in der Breite auf Nachhaltigkeit ausgelegt hat und das mutig kommuniziert – einschließlich der Dinge, die noch nicht gelöst sind. Beim Großteil der Betriebe ist die Kluft riesig zwischen ESG-Folklore und Handlungen, zwischen ersten Maßnahmen und umfangreicher Nachhaltigkeitsberichterstattung. Viele schlittern unvorbereitet in die neue Welt, in der Kunden, Finanzindustrie und bald auch der Gesetzgeber ein ESG-Reporting verlangen. Mittelständler müssen mit vier großen Problemfeldern fertig werden.

Herausforderung 1: Die Selbstwahrnehmung

Unternehmen bekommen die Folgen des Klimawandels immer häufiger selbst zu spüren. Nach einer Befragung des Instituts für Mittelstandsforschung belasten Extremwetter, Hitze oder Hoch- und Niedrigwasser in jedem zweiten Betrieb die Geschäftstätigkeit. Das führt aber in der Regel nicht dazu, dass die Breite der Unternehmen nachhaltiger handelt. Die Prioritäten liegen auf aktuellen betrieblichen Herausforderungen. Häufig fehlt den Firmen auch Geld.

Das bestätigt eine Studie der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC, wonach 76 Prozent der Unternehmen zugeben, vom bürokratischen und organisatorischen Aufwand der Berichtspflichten überfordert zu sein. Rund vier von fünf Betrieben sieht die Gefahr, dass die Transformation zum nachhaltigen Unternehmen so viele Ressourcen bündelt, dass sie an anderen Stellen fehlen. Mehr als ein Viertel der befragten Firmen gibt zu, sich noch nicht eingehend mit der Berichtspflicht CSRD befasst zu haben. Nur sechs Prozent sehen ihre Analyse als abgeschlossen an.

Die Zahlen belegen den enormen Handlungsdruck. Sie zeigen aber auch, dass viele Betriebe ESG nicht ernsthaft vorangetrieben haben, als noch Zeit war. „Nachhaltig zu wirtschaften, liegt vielen Mittelständlern im Blut. Aber Familienunternehmen tun sich per se schwer mit Transparenz und Berichtspflicht. Außerdem gibt es bei ihnen diese „Wir-machen-das-doch-ohnehin-schon-Mentalität“, sagt Nadine Kammerlander, Leiterin des Instituts für Familienunternehmen an der WHU Otto Beisheim School of Management.

Jetzt, wo die Berichtspflicht näher rückt und Transparenz gefordert wird, setzt das große Zittern ein. Es herrsche eine weitverbreitete Unsicherheit, sagt Kammerlander. Die Unternehmen fragten sich, welche Technologien die richtigen sind. Viele Betriebe wissen zudem nicht, woher sie die richtigen Leute für die gewaltige Transformation bekommen sollen. Und die Firmen verlieren sich oft in Einzelmaßnahmen, statt Nachhaltigkeit ganzheitlich und strategisch anzugehen.

Herausforderung 2: Die Strategie-Konflikte

Ratschläge über den konkreten Umstieg auf ESG füllen hundertfach Bücher. Zunächst gilt es zu analysieren, wo am meisten erreicht werden kann – bei Umweltthemen (Environment – E) oder im sozialen Miteinander (S) oder bei Fragen der Unternehmensführung (Governance – G) – und was gemessen werden soll. Beispiel: Wassereinsatz pro Tonne produzierten Produkts. Ein Indikator wäre, wie viel des verwendeten Wassers wiederaufbereitet wurde. Ein anderer, wie hoch die Ausgaben für Einsparungen und Wiederaufbereitung im Verhältnis zum Nutzen waren. Es gibt weitere. Sind die Zwischenziele gesetzt inklusive Reporting-System, sind Regeln für die Entscheidung nötig. Wer sagt in welcher Situation, was gemacht wird? Und was nicht? Die gängigen Prozesse werden dann kaum noch funktionieren.

Neben den gängigen Kriterien Preis, Qualität und Funktionalität müssen nun Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt werden wie CO2-Abdruck, Kinderarbeit, Brandschutz beim Hersteller vor Ort. Dafür müssen Mitarbeiter weitergebildet werden, das Unternehmen braucht jemanden, der den Wechsel steuert. Denn der Geist der Transparenz passt beileibe nicht zu jeder Firmenkultur.

Linda Marquardt, Head of Strategy in Central & Eastern Europe bei der Beratung Interbrand, sieht drei große Themenbereiche. Das Narrativ: Was ist die Ambition der Marke? Wie kann ein Unternehmen dort hinkommen? Wie ist sichergestellt, dass die Firma während der Transformation das normale Geschäft bedient? Die Handlungen: Wie lässt sich erreichen, dass die Kunden den ESG-Initiativen vertrauen? Wie können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingebunden werden? Welche neuen Märkte können durch nachhaltige Lösungen erschlossen werden? Die Führung: Welche Partner können helfen, die ESG-Ziele zu erreichen? Kann man neue Kompetenzen dazugewinnen?

Solche Fragen führen zu einer wichtigen Erkenntnis. Wo Corporate Social Responsibility (CSR) nur Teile des Unternehmens betraf, ist Nachhaltigkeit überall wichtig: in Einkauf und Produktion, bei allen Zentralfunktionen wie Fuhrpark, Recht, Steuer, Controlling, Finanzierung und Personal. Wer es richtig machen will, muss ESG-Ziele bei allen Entscheidungen berücksichtigen – ähnlich wie auch finanzielle Aspekte. Und ESG und Finanzen stehen auch im Konflikt.

Herausforderung 3: Die Personalknappheit

Um das Unternehmen wandeln zu können, sind Menschen nötig, die das können. Neue, spezialisierte Fachkräfte, die sich auskennen und sehr integrativ handeln. Solche Personen sind sehr gefragt. Ein Weg ist, diese Chief Sustainability Manager (CSO) von anderen Unternehmen abzuwerben. Ein anderer, die wenigen Studentinnen und Studenten direkt von der Uni zu sich zu locken. Doch neben dem obersten ESG-Kümmerer entstehen weitere neue Rollen und Job-Beschreibungen. Einen Abfall-Manager für die Kreislaufwirtschaft gab es vor zehn Jahren nur bei den wenigsten Firmen. Weil es für all die Unternehmen, die suchen, bei weitem nicht genug Personal mit Know-how gibt, sehen Beratungsfirmen ein lukratives Geschäftsfeld. Angesichts dieser Lage bekommt interne Weiterbildung eine hohe Bedeutung.

So dringlich die Lage, so uninteressiert die Verantwortlichen. Eine Studie von Effectory, Spezialist für Mitarbeiterbefragungen, und dem Marktforschungsinstitut Civey unter 1900 Führungskräften und 2500 Beschäftigten in Deutschland deckt hier einen großen Missstand auf: Personalverantwortliche vernachlässigen Sozial- und Nachhaltigkeitsfragen. In der Personalführung haben soziale und ökologische Aspekte noch wenig Relevanz. So gibt weniger als ein Viertel der Führungskräfte an, dass ihre Mitarbeitenden bereits zum Thema ESG geschult wurden.

„Die Studie zeigt, dass Personalentscheider die Bedeutung von ESG-Kriterien als Werttreiber innerhalb der Unternehmenskultur unterschätzen“, sagt Volker Grümmer, Geschäftsführer von Effectory Deutschland. Dass eine gute ESG-Performance Talente anzieht, ist nur bedingt bewiesen. Aber Firmen mit hohen Nachhaltigkeitsstandards halten ihre Leute besser. Den Wunsch nach einem nachhaltig handelnden Arbeitgeber gibt es einer Studie des Jobvermittlers Stepstone gleichermaßen bei jüngeren wie älteren Beschäftigten.

Herausforderung 4: Die Kommunikation

Familienunternehmen sind beliebte Arbeitgeber, beliebter noch als Konzerne, Start-ups. Nichtregierungs-Organisationen (NGO) und öffentliche Hand. So hat es die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC ermittelt, die gut 1000 Beschäftigte befragte. Erstmals überholten die Mittelständler den Staat. Und bei den meisten Kategorien, die mit Nachhaltigkeit zu tun haben, führt der Mittelstand. So stieg die Quote derer, die Familienunternehmen im Hinblick auf die Wertschätzung ihrer Mitarbeitenden vorn sehen von 42 auf 48 Prozent. Der Vorsprung ist enorm bei diesem Kernelement der Kategorie S in der ESG-Logik. In der Kategorie „Ist die Arbeit dort sinnstiftend?“ liegt der Mittelstand sogar vor NGO. Noch klarer ist die Führungsposition beim Wert „Übernahme von sozialer Verantwortung“. In der Kategorie „Kultur und Werte“ erreichen die Betriebe fast so viel Prozentpunkte wie alle vier anderen Arbeitgebergruppen zusammen, bei „Vertrauen“ sogar mehr als 50 Prozent.

Dass Familienunternehmen ein hohes Maß an Vertrauen genießen, ist das eine. „Die große Herausforderung liegt jetzt darin, diesen Vorteil zu nutzen“, sagt Uwe Rittmann, Leiter Familienunternehmen und Mittelstand bei PwC Deutschland. Die Daten zeigen: Familienunternehmen haben viel Luft nach oben bei der externen Kommunikation. Die Hidden Champions würden sich noch immer zu bedeckt halten, sagt Rittmann. Sie riskierten dadurch bei Kriterien, die für die Wahl des Arbeitgebers wichtig seien, schlecht abzuschneiden. Für Rittmann ist klar: „Hidden war gestern.“ Oder anders gesagt: Rede darüber, wenn Du Gutes tust. Problematisch ist dabei, dass Unternehmen gerade bei der Kommunikation von Nachhaltigkeitsthemen nach außen nah dran sind, sogenanntes Green-, Pink- oder Whitewashing zu betreiben. Das Farbenspiel steht für Verschleierung schlechter ESG-Leistungen und Übertreibung bei guten. 

Katharina Roehrig ist bei Melitta Geschäftsführerin für den Zentralbereich Kommunikation und Nachhaltigkeit und beschäftigt sich täglich mit dem schmalen Grat zwischen Information und Blenderei. Für sie gilt bei Kommunikation nach innen: „Die Transformation wird dann glaubhaft und mitgetragen, wenn die Werte und Ziele klar sind.“ Ihre These: „Wenn Mitarbeitende und Stakeholder etwas Positives für die Welt und die Gesellschaft mitgestalten können, entfalten sie Freude, Stolz und eine positive Triebkraft, die die Transformation auch tiefer im Unternehmen und seinen Mitarbeitenden verankert.“ Aber es gehört eben auch dazu, das nach außen zu tragen.

Linda Marquardt von Interbrand sagt: „Wenn Unternehmen böswillig täuschen wollen, werden sie auch in Zukunft weiter Wege finden, das zu tun. Aber: Wir beobachten bei vielen Marken, dass die Zahl der schwarzen Schafe abnimmt.“ Wenn Marken früher vielleicht noch damit durchgekommen seien, sich hinter möglichst hochtrabenden CSR-Projekten zu verstecken, sonst aber nichts zu verändern, reiche das heute nicht mehr aus.
Ritter Sport hat reichlich verändert und ist immer noch längst nicht fertig damit. Dort arbeiten sie auch noch an der letzten Meile – der Verpackung. Kunststoff sei ideal, aber der werde noch nicht gut recycelt, sagt Chef Moritz ­Ritter. Die Ideallösung Papier sei noch sehr herausfordernd. Es muss halt schützen, frisch halten, undurchlässig und stabil sein, bedruckbar, um nur einiges zu nennen. Bleibt nur noch eine Frage, die nach seiner Lieblingssorte. Ritter schmunzelt: „Wenn man in so einem Schokoparadies aufwächst, hat man gar nicht so viel Lust auf Schokolade.“
 

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