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Zukunftsmärkte > 80. GEBURTSTAG: WIE EIN WENDIGER MEDIENKANZLER ZUM DOGMATIKER WURDE

Gerhard Schröders 80. Geburtstag: Vom Medienkanzler zum Dogmatiker

Früher folgte er seinem Instinkt und agierte pragmatisch. Dass der Ex-Kanzler heute nicht nur an seiner Freundschaft mit Putin festhält, sondern ihm auch "freie Wahlen" bestätigt, ist eine Verdrehung der Fakten.

Der Autor im Gespräch mit dem damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten für sein 1998 erschienenes Buch "Gerhard Schröder. Der Weg nach oben". FOTO: Christoph Irion / Dirk Lehrach Verlag

Der Autor dieser Zeilen ist Gerhard Schröder mehrfach begegnet, zunächst in dessen Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident, dann im Bundestagswahlkampf 1998, schließlich während seiner Kanzlerschaft und zuletzt zu einem kurzen Gespräch beim Bundespresseball 2018 in Berlin, an der Seite seiner kurz zuvor angetrauten fünften Ehefrau So-yeon Schröder-Kim. Er hat sogar eine Biografie über den Kanzlerkandidaten geschrieben, „Gerhard Schröder. Der Weg nach oben“. Aber der Autor bezweifelt, dass er Schröder, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, kennt.

Rief ihn die „Süddeutsche Zeitung“ 1997 noch zum „Liebling der Nation“ aus, bespöttelt ihn das gleiche Blatt heute als „Elder Müsliman“, weil er sich unter ernährungstechnischer Aufsicht der Frau durch Hafermilch und Kichererbsen fit halte. Der Politiker, der einst Deutschland, den „kranken Mann Europas“ wieder fit machte, wird inzwischen „im Abseits“ („Augsburger Allgemeine“) verortet, ihm gratulieren „Scholz geheim, Steinmeier kühl“ (n-tv) und andernorts wird fragt: „Wie tief kann der Altkanzler eigentlich noch sinken?“ (Neue Zürcher Zeitung).

Der alte Schröder war der „Medienkanzler“, der „Bild, BamS und Glotze“ mit formalem Charme und inhaltlicher Geschmeidigkeit für sich einzuspannen wusste. Was am heutigen Schröder so irritiert, ist der Dogmatismus, mit dem er an seiner Männerfreundschaft mit Wladimir Putin festhält. Ja, die beiden waren zusammen in der Sauna und haben frühere Geburtstage gemeinsam gefeiert, Schröders 60. in Hannover und seinen 70. in St. Petersburg, mit herzlicher Umarmung kurz nach der russischen Annexion der völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Krim. Dergleichen zwischenmenschliche Erlebnisse mögen politische Zerwürfnisse überdauern. Aber dass Schröder in der dieser Tage ausgestrahlten ARD-Dokumentation behauptete, in Russland hätten soeben „freie Wahlen“ stattgefunden, samt Zusatz „das kann man nicht bestreiten“, hat nichts mit einer Überhöhung persönlicher Begegnungen zu tun haben, sondern stellt eine Verdrehung aktueller Fakten dar. Basta, Herr Schröder!

Früher war dieser Mann wandlungsfähig, manche nannten ihn einen Wendehals. Schröder war als Jugendlicher ein Suchender, er wurde nicht wie viele seiner Generation gleich zum Klassenkämpfer. Er war beeindruckt von Helmut Schmidt, weil der „bei ‚Meet the Press‘ so perfekt Englisch sprach“, er schaute sich bei der CDU um und, 19-jährig, sogar im rechtsextremen Milieu: „Ich bin bei linken und rechten Parteien gewesen, war selbst auf Bubi von Thaddens Parteitag der Deutschen Reichspartei“ - gemeint ist Adolf von Thadden, der von der rechtsextremen DRP weiterzog zur Gründung 1964 der ebenfalls rechtsextremen NPD.

Es gab kein Schlüsselerlebnis, aber seine schließlich Entscheidung für die Sozialdemokraten dürfte weniger den polyglotten Auftritten Schmidts als der eigenen Herkunft aus sehr einfachen Verhältnissen zuzuschreiben sein: Ein Vater, der als Hilfsarbeiter auf Rummelplätzen arbeitete und 1944 als Obergefreiter im Krieg in Rumänien fiel, ohne den Sohn je gesehen zu haben. Eine Mutter, die sich, alleinerziehend, als Putzfrau durchschlägt, und nach „Gerd“ und dessen fünf Jahre älterer Schwester Gunhild von einem Mann, wieder ein Hilfsarbeiter, den sie 1947 heiraten wird, noch drei weitere Kinder bekommt. Eine Großmutter, die gelegentlich sonntags den „Braten organisierte“, indem sie den Kinderwagen im Nachbardorf durch die Straßen schob auf der Suche nach Fleisch, das auf dem offenen Fensterbrett kühl gehalten wurde. Ein raues Leben für den Jungen aus Mossenberg im westfälischen Lipperland, das zwei Jahre nach seinem Geburt zum neuen Bundesland NRW geschlagen werden sollte. Zum Alltag gehörten Besuche von Gerichtsvollziehern und die damals noch knappe Sozialhilfe. Gerd machte den Hauptschulabschluss und sah sich einer unbefriedigenden Perspektive „als Lehrling hinterm Ladentisch“ gegenüber. Das war nichts für den jungen Schröder: „Ich wollte da raus, etwas bewegen, und dabei blieb es.“ Er holte Mittlere Reife und Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach und studierte in Göttingen Jura, „um den Schwachen zu helfen“. Wahrscheinlich war er selbst der erste Schwache, den er dabei im Auge hatte. 

Schröder trat 1963 der SPD bei und wurde wegen seines Alters automatisch Mitglied der Jusos. Die verfolgten damals übrigens noch einen strikt antitotalitären und auf die deutsche Wiedervereinigung ausgerichteten Kurs, ganz im Sinne des 1956 in Godesberg proklamierten Wandels von der Klassen- zur Volkspartei. Der Kurs der Partei war Schröder damals ziemlich gleichgültig, und nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Jusos 1969 in Göttingen gab es aus den Reihen des Sozialistischen Hochschulbundes (SHB) Widerstand gegen ihn, den „rechten Schröder“, weil er sich nicht mit Klassenkampf-Phrasen befasste und in den ihm zu intellektuellen Schriften von Adorno und Marcuse allenfalls den Klappentext zu lesen pflegte. 

Erst mit 33 Jahren, 1978, wurde Schröder, zu diesem Zeitpunkt bereits Volljurist und Rechtsanwalt, Bundesvorsitzender der Jusos, die eine Altersgrenze von 35 Jahren haben. Die SPD-Jugendorganisation war inzwischen weit nach links gedriftet, und ganz links außen gab es sehr nahe an den orthodoxen Kommunisten den Stamokap-Flügel, dem unter anderem Olaf Scholz angehörte. Schröder war eher ein „Gefühlsmarxist“, er hatte mit den Predigern des „Staatsmonopolkapitalismus“ nichts am Hut und gehörte der „Neuen Linken“ an, die sich als „Antirevisionisten“ definierten. Die Loyalität zur Partei war ihnen weniger wichtig als die Akzeptanz der Massen. Dass diese Juso-„Spontis“ infolge dessen mit der Mutterpartei über Kreuz lagen, aber auch von den Arbeitermassen niemals ernst genommen wurden, mögen Schröder und seine Genossen damals übersehen haben.

Schröder wollte gleichwohl im Establishment aufsteigen. War es Mut oder Karriereplanung, dass er 1978 den inhaftierten RAF-Mitbegründer (und späteren NPD-Rechtsextremisten) Horst Mahler gerichtlich vertrat bei dessen Versuch, in den offenen Vollzug verlegt zu werden? Aus der Union hagelte es Kritik, aber Schröder hatte sich beim SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner vorher die Erlaubnis für dieses Mandat abgeholt. Mahler, selbst früherer Anwalt, und er blieben erfolglos.

1980 kandidierte Schröder erfolgreich für den Bundestag. Er gehörte dem linken Flügel der Fraktion an, trat aber als Redner auch auf beim dezidiert konservativen „Studienzentrum Weikersheim“ des vormaligen baden-württembergischen CDU-Ministerpräsidenten Hans Filbinger. Dort sprach er vom „nationalen Interesse“, das nach seiner Meinung dazu führen müsse, US-Raketen auf deutschem Boden im Rahmen der Nachrüstung abzulösen – Parteifreund Scholz wäre damals bei einem solchen Begriff mutmaßlich noch blass geworden. Zum Ende des Jahrzehnts, als Gorbatschow in Moskau den marxistisch-leninistischen Dogmatismus aufgegeben hatte, die Sowjetunion zu wanken begann und die Menschen aus der DDR flohen, entwickelte Schröder eine Sowohl-als-auch-Position in der deutschen Frage. Bereits1986 hatte ihn der Journalist Peter Gatter gefragt: „Haben Sie keine unrealistischen Wünsche? Die deutsche Einheit etwa?“ Die Antwort: „Da wäre ich zwar nicht drauf gekommen, aber das wäre auch ein schöner Wunsch.“

Im Streit mit den Grünen verwahrte er sich gegen eine Streichung des Wiedervereinigungsgebots aus dem Grundgesetz. Anders als manche Parteifreunde trat er nicht für eine „Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft“ an, sondern lediglich für deren „Respektierung“. Doch als Helmut Kohl am 28. November 1989 im Bundestag seine berühmten „Zehn-Punkte-Plan“ vorlegte mit dem Ziel der „Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands“, trat der sonst so instinktsichere Schröder auf die Bremse. Und noch im März 1990 sagte der damalige Ministerpräsident, er sei zwar „kein Gegner der Einheit als jetzt möglich gewordenem politischen Ziel“, aber er kritisierte „das Tempo“, in dem manche die Einheit anstrebten, „insbesondere Helmut Kohl und die Bundesregierung“. Und dann wollte er unbedingt die Wiedervereinigung über den Artikel 146 des Grundgesetzes angehen, also die Entwicklung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung. Dabei skandierten doch die Menschen in der DDR auf ihren Montagsdemos seit Monaten: „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr.“ Sie wollten eine schnelle Einheit durch Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes (wozu es dann ja auch kam), während Schröders Weg wahrscheinlich Jahre der verfassungstheoretischen Debatten erfordert hätte bei gleichzeitiger Massenflucht aus der nunmehr nicht mehr per Mauer selbstisolierten DDR gen Westen.

Der Kanzler Schröder immerhin vollbrachte mit seiner Agenda 2010 das größte soziale Reformwerk der Bundesrepublik seit Ludwig Erhard. „Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“, kündigte der Kanzler am 14. März 2003 im Bundestag sein Programm des „Forderns und Förderns“ an. Das Ziel der Dynamisierung der Wirtschaft und des Gesundens des Haushalts gelang – aber den Erfolg fuhr nicht mehr der Sozialdemokrat ein, sondern seine christdemokratische Nachfolgerin Angela Merkel, die 2005 in vorgezogenen Neuwahlen zur Kanzlerin wurde. Schröder hatte nach dem Prinzip „Erst der Staat, dann die Partei“ mit den wohlfahrtstaatlichen Überzeugungen der SPD gebrochen. Sie verlor auf Jahrzehnte ihre Mehrheitsfähigkeit und brach mit dem einstigen Popstar ihrer Historie.

Und Schröders Verhältnis zu Russland? Nach der Kanzlerschaft wurde er beim russischen Staatskonzern Gazprom aktiv, danach Vorsitzender des Aktionärsausschusses von NordStream 2, seit 2017 sitzt er im Aufsichtsrat des russischen Ölkonzerns Rosneft. Sein Freund Putin machte es möglich. 
Schröder war trotz seiner Zusicherung der „uneingeschränkten Solidarität" mit den USA in der Terrornacht des 11. September 2001 nie ein Atlantiker. Das zeigt nicht nur seine (sehr begründbaren) Absage an George W. Bushs Krieg gegen den Irak. Statt nach Washington fuhr er früh nach Kuba, wo ihm Fidel Castro 1985 gesagt haben soll: „Reduzieren Sie die Steuern und die Miete und Sie gewinnen.“ Und: „Treten Sie ruhig als Antikommunist auf. Immer drauf auf Kuba. Wenn Sie verlieren, machen Sie bei uns 14 Tage Urlaub.“

2004 und 2006 adoptierten Schröder und seine damalige Frau Doris zwei Kinder aus Waisenhäusern in St. Petersburg. Da war er 60 beziehungsweise 62 Jahre alt, Doris Schröder-Köpf ist etwa 19 Jahre jünger. In Deutschland hätte man in dem Alter kaum noch Aussichten gehabt auf eine Adoptionsvermittlung. Schröder, im ersten Fall Noch- und im zweiten Fall Ex-Kanzler, hatte vorab mit dem damaligen wie heutigen russischen Präsidenten Putin über seine Adoptionswünsche gesprochen. Dessen besondere Beziehungen in seine Heimatstadt St. Petersburg sind unstrittig.
Interessant in dem Zusammenhang: Erich Honecker sei ein „zutiefst redlicher Mann“, sagte Schröder 1985 nach einem Besuch beim Staatsratsvorsitzenden in Ost-Berlin. Wen erinnert das nicht an den „lupenreinen Demokraten“, als den er während seiner Kanzlerschaft Wladimir Putin bezeichnen sollte? Später nach dem Grund für seine Hymne auf Honecker befragte, antwortete Schröder: „Aber ich wollte doch was von ihm. Wie konnte ich ihn da beschimpfen?“ 

Vielleicht gibt es ja Parallelen nicht nur bei der Tonalität, sondern auch den Motiven für das Lobpreis zunächst für Honecker und später für den Kreml-Chef.

Schröder ist 80. Eines immerhin ist zu bedenken: Von seiner vasallenartigen Treue zu Putin mag der Altkanzler profitieren und profitiert haben, pekuniär und bei den Adoptionen. Aber dieses Verhältnis hat die Politik nicht entscheidend beeinflusst. Auch Merkel wollte NordStream 2. Seine Sozialreformen hatten hingegen massive (und zwar positiven) Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und den öffentlichen Haushalt in Deutschland. Das eine ist eine unverständliche Privatmarotte, das andere wurde geschichtsmächtig. Darum, trotz allem: Gratulation, Herr Schröder, und gute Wünsche zum Geburtstag.
 

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