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Zukunftsmärkte > Investoren im Gesundheitssystem

Wenn Dr. Heuschrecke übernimmt

Investoren haben das deutsche Gesundheitssystem entdeckt. Sie kaufen Praxen und bündeln sie in Behandlungszentren. Besonders beliebt: Radiologie und Zahnärzte.

Schön weit aufmachen: Zahnarztpraxen sind beliebt bei Investoren. Mit Zusatzleistungen lässt sich gut Geld verdienen. Bildquelle: Cast Of Thousands/Shutterstock.com

Skaleneffekte, Gewinnmaximierung, Kostendruck: Wer zum Arzt geht, hat sicher anderes im Sinn als solche Themen. Doch die Praxen sind auch kleine Unternehmen, die sich zudem in einem streng regulierten Markt bewegen. In den vergangenen Jahren sind die Kosten derart gestiegen, dass immer mehr niedergelassene Mediziner sich die Sinnfrage stellen. Die Ärzte klagen vor allem über das Abrechnungssystem, das für jeden Patienten nur einen Festbetrag vorsieht, egal wie oft er im Monat in der Praxis sitzt. Ärzteverbände wie der Virchowbund kritisieren, dass das Geld bereits vor Quartalsende aufgebraucht ist und Ärzte danach praktisch unbezahlt weiterarbeiten. Deswegen ergebe es oft keinen Sinn, neue Patienten aufzunehmen.

Ganze zwei Monate Arbeitszeit werden in den Praxen nach Angaben der Verbände nur für Dokumentation und Bürokratie verwendet. Das laugt die Mediziner auf Dauer aus. Nach einer Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) aus dem vergangenen Oktober fühlen sich fast drei Viertel der Hausärzte „ausgebrannt“. Nur jeder Zehnte betrachtet sich als angemessen honoriert. Gut 60 Prozent der befragten Hausärzte denken daran, vorzeitig aufzuhören. Die Folgen sind dramatisch: Nach einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung werden in den kommenden zehn Jahren rund 11.000 Hausärzte fehlen. Gut 40 Prozent der Landkreise wären dann unterversorgt. Betroffen sind vor allem Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Baden-Württemberg.

Der medizinische Nachwuchs beobachtet diese Entwicklung kritisch und kommt häufig zum Schluss: Eine eigene Praxis lohnt sich nicht, obwohl keine Konkurrenz zu befürchten ist. Stattdessen weichen die jungen Ärzte zunehmend auf Medizinische Versorgungszentren (MVZ) aus. Diese Einrichtungen sind seit 2015 erlaubt und können die Arbeit verschiedener Mediziner bündeln und so die betriebswirtschaftliche Seite kostenoptimiert abdecken. Dazu gehört vor allem das zeitaufwendige Abrechnungs- und Dokumentationssystem. Die Ärzte sind hier angestellt, tragen kein Geschäftsrisiko und haben geregelte Arbeitszeiten.

Das schrumpfende medizinische Angebot hat inzwischen finanzkräftige Investoren angelockt. Sie kaufen zunehmend Praxen auf und betreiben sie unter dem Dach einer Kette weiter. Sehr beliebt sind bei den Investoren Radiologie, Augen- und Zahnheilkunde. So haben internationale Konzerne inzwischen Hunderte von Augenarztpraxen übernommen. In einigen Regionen beherrschen sie bereits den Markt. Inzwischen arbeitet gut jeder fünfte Augenarzt bei einer Kette wie Sanoptis. Das Unternehmen mit Sitz im steuerlich günstigen schweizerischen Zug hat Filialen in Deutschland, Österreich, Italien und Griechenland.

Die KBV will die neuen Spieler zwar „generell nicht verteufeln“. Allerdings verfolgt der Verband deren Treiben skeptisch. Aufgrund der Pauschalsummen, die die Krankenkassen vergüten, bekämen die niedergelassenen Ärzte nicht alle Leistungen bezahlt. Das sei Teil des solidarischen Leistungsprinzips im deutschen Gesundheitswesen. „Versorgungsfremde Investoren“, wie die Kapitalgesellschaften auch genannt werden, seien renditegetrieben. „Es könnte zu einer Rosinenpickerei beim Leistungsgeschehen kommen", befürchtet ein KBV-Sprecher. Entscheidend seien klare Rahmenbedingungen durch den Gesetzgeber. 

Kaufen, bündeln, verkaufen

Nach einer Studie der Beratungsgesellschaft PwC wollen Finanzinvestoren quer durch die Branchen Renditen zwischen zehn und 25 Prozent erzielen. Die erreicht „Dr. Heuschrecke“ nicht unbedingt über die Behandlung von Patienten. So beobachtet die Gesundheitsbranche kritisch, dass Praxen aufgekauft, gebündelt und später mit hoher Marge weiterverkauft werden. „Buy-and-Build“, also „Kaufe-und-Wachse“, wird diese Strategie genannt. So erzielen international tätige Finanzgesellschaften auch im Gesundheitsbereich Deals in Milliardenhöhe. Der Nachteil: Die Preise für Praxen gehen in die Höhe, sodass potenzielle Nachwuchsärzte nicht mithalten können. Zudem, so befürchten die Verbände, werden nur Leistungen angeboten, die viel Ertrag und wenig Kosten bedeuten.

Als sehr lukrativ für Investoren gelten Zahnarztpraxen. Denn hier kann der Arzt über die Grundversorgung hinaus eine Vielzahl von Leistungen privat abrechnen – der Patient zahlt selbst. Im Schnitt sollen es 50 Prozent der Behandlungen sein. Offenbar gilt: Je geschickter das Marketing am Behandlungsstuhl, desto höher der Umsatz. An diesem Hebel setzen auch die Investoren an. „Das haben die Ketten bemerkenswert optimiert“, bestätigt ein Sprecher der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV). Sie würden die Patienten alle sechs Monate konsequent zum Termin bitten. Und die dort tätigen Mediziner seien darauf getrimmt, Zusatzleistungen zu verkaufen. „Zudem gibt es bei den Ketten Spezialisten, die alle Kniffe im Gesundheitskatalog kennen und so jede Leistung optimal mit den Kassen abrechnen. Dazu hat ein einzelner Zahnarzt gar nicht die Zeit“, sagt der KZBV-Sprecher, der dies optimierte Gebaren der Ketten als „Abzocken des Krankenkassensystems“ bezeichnet.

Die Ketten spielen aber noch einen anderen Vorteil aus. Durch längere Öffnungszeiten sowie zentralisierte und optimierte Standorte werden entsprechende Skaleneffekte erzielt. So bleibt selbst bei Kassenleistungen mehr hängen. Im Schnitt kommen nach einer Erhebung der KZBV 133 Euro in die Kasse, jedes Mal, wenn ein Patient im Behandlungsstuhl Platz nimmt. Einzelne Zahnärzte oder kleine Praxisgemeinschaften kommen hingegen nur auf Werte zwischen 111 und 115 Euro. Was nach Peanuts klingt, macht bei 10.000 Behandlungen im Jahr schon einen Unterschied von 200.000 Euro. Damit sind die Kosten von zwei festangestellten Zahnärzten erwirtschaftet.

Fachfremde als Problem

Im dritten Quartal 2023 betrieben Investoren in Deutschland 464 medizinische Versorgungszentren für Zahnbehandlungen. Das war knapp jedes dritte zahnärztliche Zentrum (30,4 Prozent). Tendenz steigend. Wobei natürlich auch Zahnärzte selbst Investoren sein können. Die Klagen richten sich aber vor allem gegen jene fachfremden Investoren, die eine Möglichkeit sehen, mit ärztlichen Leistungen viel Geld zu verdienen. Inzwischen fordern die KZBV und Bundeszahnärztekammer Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf, „die fortschreitende Vergewerblichung des Gesundheitswesens endlich wirksam zu stoppen.“

Die Ketten arbeiten vor allem in oder im Umfeld von großen Zentren. Ein Grund: Personalmangel. „Jungen Zahnärzten reicht ein Angestelltengehalt von 80.000 Euro und dafür viel Freizeit“, sagt der KZBV-Sprecher. Dabei wissen auch die Ketten, dass es auf dem Land mehr Patienten je Praxis gäbe. So kommen in München 600 Menschen auf eine Praxis. „In entlegenen Gegenden kann eine Praxis sogar auf 5000 Patienten kommen“, sagt der KZBV-Sprecher, der angesichts des riesigen Bedarfs die Zurückhaltung des Nachwuchses nicht verstehen kann. „Wer richtig Geld verdienen will, macht sich als Zahnarzt selbstständig.“ Doch in der Praxis winkt der Nachwuchs offenbar ab.

Die Zahnarztketten kommen mit ihrer Ausrichtung auf Optimierung, mehr Umsatz und Rendite allerdings nicht immer gut bei den Betroffenen an. „Wir registrieren jetzt öfter Patienten, die mit der Kette nicht zufrieden sind“, stellt ein Zahnarzt aus dem schwäbischen Reutlingen fest, der anonym bleiben will. Aber auch in seiner Praxis wird optimiert. Er versucht, dem Kostendruck mit Diversifizierung zu begegnen. Längst wird nicht mehr nur gebohrt, Zahnstein bekämpft und neue Brücken eingesetzt. Viele Laborarbeiten, die früher externe Techniker übernommen haben, erledigt die Praxis dank Digitalisierung und neuer Geräte selbst. Das erhöht den Umsatz und hält das Dentalunternehmen am Markt.

Bei den niedergelassenen Landärzten und Bergdoktoren sind solch lukrative Möglichkeiten begrenzt gegeben. Da mag die Umgebung noch so idyllisch sein: Außerhalb der Städte sinkt die Zahl der Praxen. Neben der hohen Arbeitsbelastung dort ist auch die Zahl der Privatpatienten geringer. Die brauchen die Mediziner, um zu überleben. Die „Privaten“ machen zwar nur zehn Prozent der Versicherten aus. Sie tragen im Schnitt aber zu etwas mehr als 20 Prozent der Einnahmen der niedergelassenen Ärzte bei. Der Mehrumsatz lag im Schnitt bei 58.000 Euro. Eine wichtige Kundschaft also für das Unternehmen Praxis. 

Einige ältere Landärzte betreiben ihre Häuser nur noch weiter, weil sie sonst eine Lücke hinterlassen würden. „Die sind mit Herzblut dabei. Sie wollen ihre Patienten nicht im Stich lassen“, sagt Elisabeth Dostel von der gleichnamigen Beratungsgesellschaft im bayrischen Vilsbiburg. Sie berät Kommunen und Landkreise beim Aufbau von MVZ, um den Versorgungskollaps zu verhindern. Auch Dostel bestätigt, dass die zunehmende Bürokratie die Ärzte belastet. „Durch die Einführung des E-Rezepts benötigt man beispielsweise neue Hard- und Software. Und jemanden, der sich mit der IT auskennt“, sagt sie. Dabei soll das E-Rezept eher entlasten.

Drohende Lücke

Experten wie Dostel empfehlen Kommunen und Landkreisen eindringlich, sich den Gesundheitsmarkt vor der eigenen Haustür intensiv anzuschauen. Einzelpraxen decken auf dem Land 90 Prozent der medizinischen Versorgung ab. Die drohende Lücke werde immer noch unterschätzt, sagt Dostel. So spielt auch unter den Hausärzten die demografische Entwicklung eine bedrohliche Rolle. Im Flächenland Niedersachsen etwa werden bis 2030 gut 60 Prozent der 5000 niedergelassenen Ärzte das Rentenalter erreicht haben. Es drohen Versorgungsengpässe, die Kommunen könnten frühzeitig gegensteuern.

Seit 2015 dürfen auch Gemeinden prinzipiell eigene MVZ betreiben. So haben im hessischen Vogelsberg zwei Kommunen und der Landkreis ein solches Zentrum gegründet. Dort arbeiten inzwischen sechs Ärztinnen und Ärzte. Betreiben die kommunalen Träger ein MVZ, müssen sie gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung eine selbstschuldnerische Bürgschaft übernehmen. Da kommen schnell Beträge in Millionenhöhe zusammen. Solchen Belastungen der Haushalte müssen die Rechtsabteilungen der Landkreise zustimmen, was nicht immer einfach ist.

Experten wie Dostel sehen darum die öffentlichen Träger eher als Notlösung. In der Regel sollten Kommunen zusammen mit Beratern versuchen, den Start eines privatwirtschaftlichen MVZ zu erleichtern. Hierzu wurde auf Länderebene bereits erste Weichen gestellt. Die Fördermittel reichen von 30.000 Euro in Rheinland-Pfalz oder Brandenburg bis zu 120.000 Euro in Baden-Württemberg. Allerdings braucht jede Einrichtung einen eigenen medizinischen und betriebswirtschaftlichen Verantwortlichen vor Ort. Das macht den Betrieb für Allgemeinmediziner auf dem flachen Land kompliziert. Wohl auch ein Grund, warum sich die von Investoren gesteuerten Ketten auf einzelne Fachbereiche konzentrieren, wo die Patienten auch längere Strecken in Kauf nehmen, um sich behandeln zu lassen.

Beim Praxisnetzwerk „Gesundes Kinzigtal“ im Schwarzwald arbeiten die Partner in einer Genossenschaft zusammen. So ist der Einkauf von Materialien zentralisiert. Zudem soll die Versorgung im Ortenaukreis sichergestellt werden. So wurde verhindert, dass die Praxis eines älteren Ärztepaares schloss. Die beiden haben ihr Lebenswerk in die Genossenschaft eingebracht. Inzwischen konnte doch noch ein Nachfolger gewonnen werden, der nicht das Kapital für die Praxis aufwenden musste. Hier haben die Berater von Optimedis aus Hamburg dem Landkreis geholfen, eine Lösung zu finden.

Bundesgesundheitsminister Lauterbach versichert, dass er die Bedingungen für Hausärzte ebenfalls verbessern will. Zudem hat er der Expansion der internationalen Praxisketten den Kampf angesagt und will ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen. Den Hausärzten verspricht er eine „Entökonomisierung“ der Praxen. Das soll bedeuten, dass die Ärzte wieder mehr Zeit für die Patienten haben sollen und sich weniger mit Bürokratie beschäftigen müssen. Wann es tatsächlich so weit ist, blieb nach einem Krisentreffen Anfang Januar in Berlin allerdings offen. Die gesetzlichen Krankenkassen sehen die Pläne des Politikers skeptisch. Sie befürchten bereits Mehrkosten von zwei Milliarden Euro. 
 

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