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Einkauf, Marketing und Marken > Branchenbericht

Welche Zukunft hat der deutsche Einzelhandel?

Im deutschen Handel meldet ein Unternehmen nach dem anderen Insolvenz an. Besonders trifft es den Fachhandel. Doch mancher trotzt erfolgreich der Krise.

Salamanders Ende: Der Schuhhändler haut zum Schluss alles mit hohen Rabatten raus. Maskottchen Lurchi lächelt stoisch – wahrscheinlich Galgenhumor.© picture alliance / Snowfield Photography | D. Kerlekin/Snowfield Photography

Messer Müller ist eine Institution: Seit 186 Jahren kaufen die Stuttgarter dort alles, was schneidet, sticht und säbelt. Jetzt ist für das Traditionsgeschäft an der zentralen Stiftskirche in der fünften Generation Schluss. Die Nachricht hat Anfang Oktober viele Menschen in der Hauptstadt Baden-Württembergs bewegt. Wieder ein gewohnter Name, der aus der Einzelhandelslandschaft verschwindet. Die Lokalzeitungen listen reihenweise Traditionsgeschäfte auf, die nach erfolgreichen Jahrzehnten aufgeben mussten. So ist die Lerche, einst Süddeutschlands größtes Radio- und Fotohaus aus der Königstraße verschwunden. An der Stuttgarter Prachtstraße ist Galeria Kaufhof noch mit einem Geschäft vertreten. Im zweiten großen Haus sind heute Büros. Und nebenan, wo einst die Kaufhalle residierte, klafft eine riesige Baulücke.

Verändertes Kaufverhalten, Wirtschaftskrise und immer höhere Kosten setzen dem Handel heftig zu. Die ums Überleben kämpfenden Traditionshäuser wie Messer Müller belastet derzeit zusätzlich das der Staat vielerorts die Pandemiehilfen zurückverlangt. Das ist für viele existenzbedrohend. Daniela Schäfer, Co-Inhaberin der einstigen königlichen Hofmesserschmiede, spricht von einer „zweiten Coronawelle“. Eine Rückzuzahlung sei für viele Betriebe nicht machbar, sagt Schäfer. Für Messer Müller ist es der Einschnitt zu viel ins ohnehin schwierig gewordene Geschäft.

Stuttgarts Citymanager Sven Hahn spricht das aus, was viele seiner Kollegen quer durch Deutschland umtreibt. Er warnt davor, dass noch mehr Geschäfte schließen werden, sollte der Staat an der geplanten Rückzahlungsfrist für die Coronahilfen festhalten. „Das ausgezahlte Geld war die Kompensation für die staatlich verhängten Berufsverbote“, erklärt er der Lokalpresse etwas reißerisch. Zeitweise verhängte der Staat Ausgehsperren, um zu verhindern, dass sich die Pandemie ausbreitete.

„Einfach keine Reserven“

„Wenn man erst Medizin zum Überleben verabreicht und dann die Medizin wieder wegnimmt, überrascht es nicht, wenn das Ladensterben weitergeht“, sagt Hahn. Allein in Baden-Württemberg wurden dem Bundeswirtschaftsministerium zufolge bis Jahresmitte etwa 85. 000 Betriebe aufgefordert, Corona-Geld zurückzuzahlen. Nicht einmal die Hälfte sei dieser Aufforderung nachgekommen, obwohl die Frist abgelaufen sei. Etwa ein Drittel habe sich nicht zurückgemeldet, heißt es im Ministerium, 11 .000 Betroffene hätten den Zahlungen widersprochen.

Handelsexperten wie Hahn weisen darauf hin, dass gerade die Händler noch lange mit dem pandemiebedingten Rückschlag beschäftigt sind. Auf Jahre werde Corona noch in den Büchern stehen. Für die geforderte Rückzahlung hätten die meisten Betriebe „einfach keine Reserven“. Das betrifft vor allem die kleineren Geschäfte. In die Bücher könne er zwar nicht schauen, sagt Hahn, „aber in vielen Fällen steht fest, dass Betriebe über den Jordan gehen, wenn es bei den geforderten Rücküberweisungen der Hilfen bleibt.“

Zudem drücken Inflation, gestiegene Zinsen und hohe Energiekosten inzwischen seit gut eineinhalb Jahren die Verbraucherstimmung auf bisher kaum gekannte Tiefstwerte. Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands HDE, warnt: „Wir beobachten besonders bei kleineren Handelsunternehmen einen teils dramatischen Niedergang.“ Der HDE rechnet damit, dass in diesem Jahr bis zu 9000 Betriebe endgültig schließen werden. „Es ist die Kombination von Krisen, die den Unternehmen zusetzt. Da sind die Reserven aufgebraucht“, sagt eine HDE-Sprecherin in Berlin. Für viele entscheide das bevorstehende Weihnachtsgeschäft, ob es noch weitergehe. Die Zeit vor dem Fest ist die umsatzstärkste im Jahr. Die Verbraucherstimmung ist schlecht, so ist zu befürchten, dass sich der Niedergang der Branche fortsetzt.

Nach einer Erhebung des HDE ist der Umsatzanteil der selbstständigen Fachhändler im vergangenen Jahr auf 13,3 Prozent geschrumpft nach 13,9 Prozent im Jahr zuvor. In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Anteil des „nicht filialisierten Fachhandels“, der häufig inhabergeführten Fachgeschäfte wie Herrenausstatter, Schuhhäuser oder Schreibwarenhändler damit mehr als halbiert. Besonders in Klein- und Mittelstädten seien „über Generationen familiengeführte Betriebe in akuter Gefahr“.

Fachhandel schrumpft

Im laufenden Jahr könnte der Anteil des Fachhandels erstmals seit Beginn der Datenerhebung 2002 unter die Marke von 13 Prozent fallen, sagt Genth. Somit schreitet die Konzentration von Mode-, Drogerie- und Handelsketten voran. Der Umsatzanteil der Fachhandelsfilialisten wie etwa H&M, Douglas und Deichmann ist zwischen 2002 und 2022 von 12,1 auf 14,9 Prozent gestiegen, bei Fachmarkt-Ketten wie Mediamarkt/Saturn, Obi, DM und Decathlon ging es im selben Zeitraum von 13,5 auf 16,6 Prozent nach oben, Discounter (Aldi, Lidl, Penny) legten von 11,7 auf 15,6 Prozent zu.

Neben kleinen Geschäften wie Messer Müller in Stuttgart schlingern aber auch große Namen einer ungewissen Zukunft entgegen. Dazu zählen beispielsweise die Schuhhändler Reno, Salamander und Görtz sowie die Modeketten Hallhuber, TK Fashion oder Madeleine. Deutschlands größte Bekleidungskette Peek & Cloppenburg musste im März zum Insolvenzgericht. Den 1869 gegründeten Händler belasten Schulden von mehr als 400 Millionen Euro. Gegen den Niedergang half auch immer wieder neues Führungspersonal nichts.

Oder doch? Im Sommer wurde jedenfalls bekannt, dass es kurz vor der Pleite fragwürdige Verlagerungen gegeben hat. Gleichwohl stimmten die aufgebrachten Gläubiger zähneknirschend im August dem Sanierungsplan zu. Ob das gelingt, wird Patriarch Harro Uwe Cloppenburg nicht mehr erleben. Er starb im September im Alter von 82 Jahren. Er hatte die Geschäftsführung 1985 übernommen und 2019 abgegeben.

Konkurrent Galeria Kaufhof, im Besitz des österreichischen Immobilien-Millionärs Rene Benko, schrumpft derweil bereits im zweiten Insolvenzverfahren. Der Bund hatte bei den ersten Sanierungsversuchen über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds mehr als 600 Millionen Euro investiert, um das Unternehmen am Leben zu halten. Nach der erneuten Pleite will der Staat jetzt Geld sehen.

Galeria Kaufhof verscherbelt offenbar das verbliebene Tafelsilber. Die Rückforderung des Bundes soll durch den Verkauf der profitablen belgischen Tochter Inno bezahlt werden. Auch der Onlinemarktplatz Hood Media steht offenbar vor dem Verkauf. Konzernchef Olivier Van den Bossche will sich auf das Kerngeschäft Einzelhandel konzentrieren und plant, das Vertriebsnetz bis Ende 2026 umzubauen. Insgesamt werden 300 Millionen Euro in die Sanierung fließen, wobei Eigner Benko über seine Holding Signa 200 Millionen Euro beisteuern soll. Der hat allerdings zuletzt seinem Online-Sporthandel zugesagte 150 Millionen Euro verweigert. Eine Insolvenz nimmt er in Kauf.

Aber auch außerhalb der Stadtzentren läuft es nicht. Ende September hat die Supermarktkette Real Insolvenz in Eigenverwaltung angemeldet. Der Finanzinvestor SCP hatte die 276 Märkte 2020 von Metro übernommen, um sie zu zerschlagen. Die Wettbewerber Kaufland, Edeka, Globus und Rewe sicherten sich tatsächlich die attraktivsten 160 Filialen. Weitere 30 wurde geschlossen. Der Rest ging 2022 an den Frankfurter Unternehmer Sven Tischendorf beziehungsweise dessen Family Office. Im vergangenen Mai holte SCP die Kette angesichts einer „kritischen wirtschaftlichen Verfassung“ aber wieder zurück. Es half nichts. Mehr als 5000 Beschäftigen in 62 Märkten sowie der Zentrale in Mönchengladbach müssen um Ihre Arbeitsplätze bangen. Etwas mehr als die Hälfte der Filialen soll bestehen bleiben. Trotz der Insolvenz ist Real für SCP ein gutes Geschäft gewesen. Noch 2021 wurden allein 34 Häuser mit einem Gesamtwert von einer Milliarde Euro bewertet. An Metro hatte der Investor 100 Millionen Euro bezahlt.

Mit der Real-Pleite setzt sich die Konzentration im Lebensmitteleinzelhandel fort. Nach Berechnungen des Bundeskartellamts wird der Lebensmittelmarkt in Deutschland zu mehr als 85 Prozent von den vier Konzernen Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland), Aldi Nord und Süd, Edeka (Netto) und Rewe (Penny) dominiert. Seit vielen Jahren sei die Behörde bemüht, durch eine konsequente Fusionskontrolle ein Kippen dieses Marktes zu verhindern. Konkret achte das Bundeskartellamt darauf, dass den Verbrauchern vor Ort genügend Auswahl zur Verfügung stehe. Die deutschen Konzerne sind jedenfalls inzwischen so mächtig, dass sie sich sogar auf Preiskriege mit US-Lieferanten wie Pepsi, Mars oder Procter & Gamble einlassen können.

Breuninger boomt

Während Händler wie Messer Müller keine Zukunft sehen, kennen die Umsätze von Breuninger nur eine paar Minuten zu Fuß weiter zum Stuttgarter Marktplatz nur eine Richtung: nach oben. Das 1881 gegründete Modehaus ist nicht nur am Stammsitz in Stuttgart der unumstrittene Platzhirsch. Während andere Händler immer mehr Filialen schließen, bauen die Stuttgarter ihre Präsenz weiter aus. Im Juli wurde das neue Haus an der Sendlinger Straße in München offiziell eröffnet. Es gehörte zuvor dem Warenhaus Konen, das Breuninger vor zwei Jahren gekauft hatte. Der große Unterschied zur darbenden Konkurrenz: Breuninger lebt überwiegend von Kundschaft, die nicht jeden Euro umdrehen muss. Geboten wird quer durch das Sortiment gehobene Qualität. Die hat ihren Preis. Ein Damenmantel für 2500 Euro, eine Strickjacke für 1100 Euro oder ein Handtäschchen für 3500 Euro sind nichts Ungewöhnliches. Doch wer in Stuttgart, München, Hamburg oder Düsseldorf bei Breuninger einkaufen geht, den schreckt das nicht.

Die Stuttgarter haben zudem schon sehr früh diversifiziert. Die ersten eigenen Shoppingmalls „Breuninger-Land“ auf der grünen Wiese gehen auf die 1970er-Jahre zurück. Insgesamt ist der Modehändler an 13 Standorten vertreten. Zudem betreiben die Stuttgarter 25 Restaurants, Bars und Confiserien. Im vergangenen Jahr wurde mit 6500 Beschäftigten ein Umsatz von 1,4 Milliarden Euro erwirtschaftet. Das waren 20 Prozent mehr als 2021. Mehr als die Hälfte der Erlöse geht auf das Konto des Onlinehandels, der seit 2014 zum Geschäftsmodell gehört. In acht von zehn Ländern, in denen der Stuttgarter Händler aktiv ist, ist die Präsenz nur online. Inzwischen rangiert Breuninger auf Platz sechs unter den umsatzstärksten deutschen Onlinetextilhändlern. Zum Vergleich: Galeria Kaufhof erwirtschaftet nur sechs Prozent über das Netz.

Der HDE legt seinen Mitgliedern den Ausbau der Digitalisierung dringend nahe. „Um die passende Lösung für das eigene Unternehmen zu finden, kommt es auch auf einen intensiven Austausch innerhalb der Branche an“, sagt Stephan Tromp, stellvertretender Hauptgeschäftsführer. Informationen können sich die Betriebe beispielsweise unter www.digitalzentrumhandel.de einholen. Die vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Anlaufstelle wird von HDE, Uni Regensburg, IFH Köln, EHI Retail Institute und dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz betrieben.

Breuninger ist auch in der Immobilienentwicklung aktiv und hat unter anderem das „Dorotheen Quartier“ neben dem Stammhaus komplett neugestaltet, mit Geschäften, Restaurants, Büros und Wohneinheiten. Dort betreiben unter anderem Porsche, Tesla, Tiffanys oder Max Mara jeweils eine noble Dependance. Für den seit 2017 amtierenden Breuninger-Chef Holger Blecker passt das zum Konzept der Stuttgarter Gruppe. Ziel sei es, Orte schaffen, an denen die Kunden gerne Zeit verbringen wollten und am Ende auch einkauften. „Zeit ist die neue Währung“, sagt Blecker. Er rechnet mit einer weiteren Marktkonsolidierung im Handel, wie er dem Handelsblatt im Sommer erläutert hat. „Es gibt auch in Krisen Gewinner. Am Ende geht es immer um die Frage: Bin ich relevant für die Kunden? Diese müssen spürbar überrascht und inspiriert werden, da gibt es wie immer erfolgreichere und weniger erfolgreiche Akteure im Markt.“

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