Wo die Präzision zu Hause ist
Im sächsischen Glashütte baut Nomos mechanische Uhren, die zu Klassikern geworden sind. Wer die Manufaktur besucht, erfährt viel über das Erfolgsrezept.
Osterzgebirge. Zwischen Dresden und der tschechischen Grenze gibt es vor allem Wald und ein paar Dörfchen. Auf der Autobahn kommen nur wenige Autos entgegen, niemand drängelt von hinten. Nach der Abfahrt schlängelt sich die Straße 20 Minuten lang durch ein grünes Tal, über Hügel, entlang plätschernder Bachläufe, bis auf einem Ortschild Glashütte steht. Plötzlich alles piekfein. Frisch geteerte Straßen, sanierte Gebäude, neue Büros. Ein Ort, der aus dem Nichts auftaucht wie eine Fata Morgana. Nicht mehr als 1700 Menschen leben hier, und es gibt rund 2000 Arbeitsplätze.
Lange lebten sie in dieser Gegend vom Bergbau. Doch Anfang des 19. Jahrhunderts waren die Silber- und Kupfererzvorkommen aufgebraucht – die Not war groß. So sandte der damalige König von Sachsen, Friedrich August II., 1845 den Uhrmachermeister Ferdinand Adolph Lange, um Stück für Stück eine neue Industrie aufzubauen. Er sollte die Menschen zu Uhrmachern ausbilden und eine arbeitsteilige Fertigung nach Schweizer Vorbild aufbauen. Mit großem Erfolg – es entstand eine neue Uhrenindustrie, die weltberühmt werden sollte. Andere folgten dem Visionär Lange, brachten neue Kompetenzen mit. Der Ruf reichte bis nach Russland, Zar Alexander II. war ein begeisterter Kunde.
Mittlerweile zählen die hiesigen Uhrmacher zu den besten ihrer Zunft. Glashütte gilt als Synonym für Produkte auf höchstem Niveau. Neun Hersteller sind es heute, die sich hier dem Bau feiner Armbanduhren verschrieben haben: Glashütte Original, A. Lange & Söhne, Mühle Glashütte, Bruno Söhnle, Union Uhrenfabrik, Wempe, Tutima, Moritz Grossmann und Nomos Glashütte – eine der raren inhabergeführten Uhrenmanufakturen, gegründet von Roland Schwertner.
Der Mauerfall 1989 markierte einen Neustart. In und zwischen den Kriegen waren die Zeiten für Armbanduhren schlecht. Auch in Glashütte mussten Zünder und anderes Kriegsgerät gefertigt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Enteignung, Verstaatlichung, Wiederaufbau. Die Uhrenfertigung wurde zusammengefasst. Glücklicherweise konnte das Vorkriegs-Know-how über die Zeit gerettet werden, teils im Privaten überstand es die Jahrzehnte.
Uwe Ahrendt, CEO und geschäftsführender Gesellschafter von Nomos, empfängt an einem schattigen Plätzchen auf der Terrasse des Betriebsrestaurants. Ahrendt trägt einen marineblauen Anzug. Ein Outfit, das so elegant und zurückhaltend daherkommt wie die Uhren, die hier per Hand gefertigt werden. Es gibt Pasta und Salat. Beides schmeckt deutlich besser als durchschnittliches Kantinenessen. Eine leichte Brise weht über den Hang. Der Blick wandert über das Tal und Glashütte. Nomos betreibt dort vier Standorte. Was es sonst noch gibt im Ort: ein Uhrenmuseum, ein Restaurant, ein Café. Was es nicht gibt: ein Hotel.
Hier also entstehen sie, die Ideen und Neuentwicklungen, an denen oft jahrelang unter strenger Geheimhaltung gefeilt wird, bevor sie bei den Messen in Genf und Basel einem elitären Publikum präsentiert werden. Ahrendt ist sofort beim Thema, kein Blick aufs Handy, keine höflichen Smalltalk-Phrasen. Schon vor dem Besuch hat er einige Fragen per Mail beantwortet. Jetzt, sagt er, wolle er sich einfach unterhalten. Eineinhalb Stunden habe er Zeit.
Erst auf sein Lieblingsmodell angesprochen, wirft er einen Blick aufs Handgelenk. „Tangente Update“ – eine Weiterentwicklung des Modells, mit dem alles begann. Das Modell „Tangente“ spiegelt den gesamten Geist der Manufaktur wider und ist bis heute ihr Bestseller. Sie sei „geradlinig, integriere moderne Technik und habe eine klassische Größe“, sagt der Chef. Im Gegensatz zu vielen anderen Uhren dieser Gattung, sogenannten Dresswatches, die zu eher schickeren Outfits passen und elegant unter der Hemdmanschette verschwinden sollen, wirkt das Gehäuse dieses Klassikers kantig. Fast so, als bräuchten die runden und geschmeidigen Rädchen im Inneren – sichtbar durch den Glasboden auf der Rückseite – einen Gegenspieler.
Lange Wartezeiten
Ahrendt, Werkzeugmacher und Ingenieur, ist Glashütter in vierter Generation. Die Uhrenleidenschaft liegt in der Familie. Bereits sein Urgroßvater fertigte Teile für A. Lange & Söhne. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass auch er, der dreifache Familienvater, sein Wissen an die nächste Generation weitergeben wird.
Nomos ist nach eigenen Angaben der größte Hersteller von mechanischen Uhren in Deutschland – gemessen an der Produktionsmenge. Zahlen möchte das Unternehmen nicht nennen. Die Branche ist verschwiegen. Nur so viel: „Wir hatten in der ersten Corona-Zeit eine Delle, konnten auch nur mit reduzierter Belegung arbeiten“, sagt Ahrendt, denn Homeoffice sei für Uhrmacher nicht möglich. „Seither wachsen wir wieder.“ Derzeit seien die Wartelisten so lang wie noch nie.
Trotzdem: Wie kann ein Mittelständler mit rund 200 Mitarbeitern auf einem Markt mithalten, der von Riesenplayern wie der Swatch Group oder LVMH dominiert wird? Konzerne haben ihre Vorzüge, Nomos habe seine, erklärt Ahrendt knapp und mit ruhiger Stimme. „Wo etwa Nomos über wenige Mittel und auch internationale Vertriebsstrukturen verfügt, sind wir wendiger, schneller als die Konzerndickschiffe“ – ein altbekanntes Argument. Dem Erfolgsgeheimnis ist man damit noch nicht auf der Spur, das muss tiefer liegen. Schaut man sich die Fertigung von Nomos einmal genauer an, stechen einige Erfolgsfaktoren heraus.
Die Fertigung eigener Triebe und Räder durch Uhrenhersteller ist eher eine Ausnahme. Nomos aber möchte die Dinge in der Hand haben, deshalb kauft das Unternehmen nur wenige Bauteile ein. Er könne sich keinen anderen Beruf vorstellen, erzählt ein Mitarbeiter, während er irrwitzig kleine Zahnräder aus einer CNC-Maschine nimmt, um sie mit einer Pinzette auf die Fingerkuppe zu legen. Es riecht nach geschnittenem Metall und Schmierstoffen. Die exakten Umrisse dieses Bauteils kann man nur unter einer Lupe erkennen. Es geht um tausendstel Millimeter.
Vieles wird von Hand gefertigt. Das Bild vom hoch konzentrierten Feinmechaniker ist Teil des Mythos, den die Manufakturen pflegen. Es ist leise, kein Handy in Sichtweite, keine Ablenkung. Der Mitarbeiter, dessen Vater und Opa ebenfalls als Zerspanungsmechaniker gearbeitet haben, liebt die Gründlichkeit, die hier alle miteinander verbindet.
Hier am Standort im Ortsteil Schlottwitz wird gedreht, gefräst, erodiert und gereinigt. Einige Räume erinnern mehr an ein Labor als an eine Werkstatt. „Je sauberer im Tal gearbeitet wird, desto weniger Aufwand haben die Kollegen auf dem Berg beim Einstellen der Uhr“, sagt eine Mitarbeiterin in der Fertigung. Im Gebäude oben auf dem Berg, dessen Architektur auch ein bisschen an Bauhaus erinnert, setzen die Mitarbeiter mit ruhiger Hand – und mit kleinen Schutzgummis auf den Fingerkappen – die Schräubchen, Zahnräder, Platinen und viele andere Teile zusammen, bevor das Werk zu schlagen beginnt – ticktack, fast wie ein Herz. Und sie sind die Schöpfer.
Längst ist der Ortsname Glashütte eine Auszeichnung. Verwenden dürfen ihn nur Manufakturen, die hier ihren Sitz haben und mehr als 50 Prozent der Wertschöpfung vor Ort erzielen. Nomos gehört zu den Firmen, die das Soll übererfüllen. Denn das Unternehmen fertigt die elf verschiedenen Uhrwerke in der eigenen Manufaktur, 95 Prozent der Fertigung stammen aus dem Müglitztal. Auf diesem Weg könne die Qualität zu jeder Zeit gewährleistet und Probleme in den Lieferketten minimiert werden, sagt Chef Ahrendt.
Design aus dem Loft
Menschen dient die Natur als Inspirationsquelle und Rückzugsort. In Glashütte, abseits jeder Großstadthektik, wirkt es, als fände die Uhrmacherkunst jene Ruhe, nach der das Handwerk verlangt. „Zeit ist für mich als Uhrmacher ganz zentral. Was mitunter nicht leicht fällt und was ich über die Jahre immer deutlicher gespürt habe: Genauigkeit braucht Reduktion der inneren Betriebsamkeit“, verrät Ahrendt. Die Belegschaft mache Überstunden nur, wenn es aus betrieblichen Gründen notwendig sei, erklärt Firmensprecher Florian M. Langenbucher. Der Job verlange volle Konzentration und ein ruhiges Händchen. Nicht jeder sei dafür geeignet.
Ruhig und reduziert ist auch das Design, das rund zweieinhalb Autostunden von Glashütte entfernt erdacht wird – in einem Fabrikloft in Berlin. Der Kontrast zwischen der Hauptstadt und dem ländlichen Idyll könnte größer nicht sein. Designer brauchen die Energie einer Großstadt und Uhrmacher die Ruhe des östlichen Osterzgebirges. Deshalb sei die Trennung von „Kreation und Tradition“ sinnvoll. „Die Reduktion aufs Wesentliche, ohne aber in einem dogmatischen Minimalismus zu verharren“, beschreibt Chef Ahrendt das Aussehen der eigenen Produkte. Nicht zufällig ist Nomos Mitglied des Deutschen Werkbunds, einer Vorläuferbewegung des Bauhaus’ und der Ulmer Schule.
Zur Ruhe in Glashütte mischt sich Abgeschiedenheit. Bis Dresden sind es etwa 45 Minuten mit dem Auto. Mit der Bahn dauert es noch deutlich länger. Was auf den ersten Blick wie ein Standortnachteil wirkt, entpuppt sich als Vorzug. Dank der großen Konzentration an Uhrenherstellern und der Handwerkstradition ist in den ortsansässigen Familien eine große Uhrenleidenschaft gewachsen. Das Gros der Mitarbeiter wohnt in der Gegend. Oft arbeiten Freunde und Familienmitglieder ebenfalls in der Branche, manchmal beim gleichen Arbeitgeber, manchmal auf der „anderen Straßenseite“, wie es heißt. Direkt gegenüber von Nomos sitzt A. Lange & Söhne – ein Hersteller, dessen Uhren mindestens so viel kosten wie ein Kleinwagen.
In ganz Glashütte seien die Menschen wie in einem immerwährenden, freundlichen Wettstreit dabei, ihr Handwerk zu perfektionieren, einander zu übertreffen, ihr Wissen an die Kinder weiterzugeben, sagt Ahrendt. Der Fachkräftemangel treffe Nomos „bis dato nur ein kleines bisschen. Natürlich freuen wir uns immer über gute Bewerbungen, denn wir wollen weiter wachsen.“ Die Fluktuation sei sehr gering. Er selbst hat die Straßenseite wortwörtlich gewechselt, und zwar vor 23 Jahren. Nachdem er seine Karriere beim Schweizer Konkurrenten IWC begonnen hatte, zog es ihn zu A. Lange & Söhne, wo er die Produktion über sechs Jahre verantwortete.
Das alles klingt nach kleiner, heiler Welt. Doch der Uhrenmarkt ist hart umkämpft. Auf der einen Seite sind da die Schweizer, auf der anderen Seite stehen die Glashütter Betriebe. Trotz aller Vorteile, die eine örtliche Konzentration des Know-hows hervorbringt, stehen die sächsischen Unternehmen untereinander im Wettbewerb.
Schlicht, hochwertig und flach sollten die Uhren sein, mit denen Gründer Schwertner eine Nische besetzte: zu günstig, um den Edelmanufakturen Konkurrenz zu machen, zu hochwertig, um die breite Masse anzusprechen. Damals warnte ein Berater: „Damit gehst du pleite.“ Das Gegenteil passierte. Mit dem ikonischen Bauhausstil und einer Positionierung im mittleren Preissegment zwischen 1000 und 4500 Euro galt Nomos lange als Underdog aus der sächsischen Provinz und gefiel sich in dieser Rolle ganz gut.
Überraschung mit Swing
In den vergangenen Jahren aber änderte sich das Image – unter anderem, weil Ahrendt und sein Team Jahr für Jahr mit technischen Neuerungen wie etwa dem Nomos-Swing-System – das taktgebende Herzstück einer Uhr – überraschen. Mit dieser Innovation ist der Firma gelungen, unabhängig von der Swatch-Tochter ETA zu werden, die große Teile der weltweiten Uhrenindustrie mit fertig montierten Werken beliefert. Gleichzeitig stieg die Manufaktur in den Adelsstand der Uhrmacherei auf. Denn es gibt nur einige Dutzend Hersteller weltweit, die eigene Werke entwickeln und fertigen.
In diesem Umfeld entwickelt Ahrendt aber nicht nur mechanische Wunderwerke. Er bekleidet auch ein politisches Amt. Für die Grünen sitzt er im Stadtrat, engagiert sich für die Demokratie und gegen rechtsextreme Entwicklungen. Sachsen ist AfD-Land, 35 Prozent sagen die Wahlforscher für die Rechten voraus. Ahrendt hält diese Entwicklung für gefährlich. Nicht politisch zu sein, funktioniere nicht. Deshalb engagiere sich Nomos als eines von 90 Unternehmen in der Demokratie-Initiative Business Council for Democracy. Ziel sei, der Ausbreitung von Verschwörungsmythen und gezielter Desinformation bewusst entgegenzutreten. Der Glashütter will den AfD-Durchmarsch aufhalten.
Wer sich ausschließlich für die Uhrzeit interessiert, braucht keinen Zeitmesser mit Handaufzugs- oder Automatikwerk. Quarz- oder Digitaluhren machen einen zuverlässigen Job, sie laufen genauer als ihre mechanischen Pendants. Eine Manufakturuhr möchte gepflegt und gewartet werden. Klar können einzelne Modelle teurer Hersteller als Wertanlage dienen, vererbt werden und deshalb im klassischen Sinne als nachhaltig gelten.
Was man in Glashütte findet, geht über rationale Gründe hinaus. Hier, wo das Osterzgebirge in die sächsische Schweiz übergeht, mitten im Wald und in friedlicher Ruhe, bekommt man ein Gefühl für Perfektionismus im eigentlichen Sinne. Anders zu sein, und gleichzeitig mit großer Liebe zum Detail an Dingen arbeiten, das ist das Erfolgsrezept des Uhrenherstellers Nomos, der mit seinen Produkten eindrücklich beweist: Präzision kann wunderschön sein.
Handarbeit in Glashütte: Wer hier arbeitet, braucht Geschick und eine ruhige Hand. Der Bestseller ist die Tangente (oben).