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Zukunftsmärkte > Interview mit August-Wilhelm Scheer

„Unbedingte Spezialisierung auf bestimmte Themen und auf die Nische“

„Mittelständler müssen Plattformen werden“: Die IT-Unternehmerlegende August-Wilhelm Scheer erwartet eine völlige Umwälzung im Mittelstand. Er rät: Unternehmen sollten sich Amazon und Co. zum Vorbild nehmen.

Herr Scheer, die Digitalisierung verändert die Industrie. Wie verändert sie den Mittelstand?
Das beantworte ich gern aus den Erfahrungen meiner eigenen Branche. In der Informationstechnologie gilt: „The Winner takes it all.“ Das sind die ganz großen wie Amazon oder Google. Sie verdienen mit Margen von bis zu 40 Prozent das meiste Geld. Für mittelständische Unternehmen bleibt dann nur noch eine geringe Marge übrig. Was dann noch hilft, ist eine Spezialisierung.

Gilt das auch für andere Branchen?
Ja klar. Egal in welcher Branche auch immer – in Zeiten der Digitalisierung muss die Strategie für kleinere Unternehmen heißen: unbedingte Spezialisierung auf bestimmte Themen und auf die Nische. Doch aufgepasst! Das klingt erst mal gut, ist aber kein Selbstläufer. Bei näherem Hinsehen ist man dann doch sehr eingeschränkt. Deshalb sehe ich auch die vielgerühmtem Hidden Champions als zweischneidiges Schwert. Denn je spezieller ihr Produkt oder ihre Dienstleistung ist, umso schmaler wird ihr Businessmodell. Zudem setzen diese Firmen häufig veraltete Technologien ein. Das macht sie unflexibel. Und wer in seiner Nische wirklich gut ist, wird schnell von den großen Unternehmen aufgekauft.

Reagiert der deutsche Mittelstand insgesamt zu behäbig?
Generell würde ich das nicht sagen. Schließlich gibt es hervorragende innovative Beispiele. Was ich aber oft sehe, ist: Viele Unternehmen, die Maschinen herstellen, wiegen sich in falscher Sicherheit. Sie sagen, unsere Produkte sind ja noch lange Zeit beim Kunden installiert und benötigen langjährige Betreuung, da sind schnelle Umwälzungen nicht zu erwarten. Das ist eine gefährliche Fehleinschätzung, weil man dann die tatsächlichen Veränderungen im Markt nicht wahrnimmt.

Warum nicht?
Weil sie zu viel Selbstsicherheit kultivieren. Das schadet. Nehmen wir als Beispiel die Autoindustrie: Diese Unternehmen haben schlicht die E-Mobilität und die Digitalisierung verschlafen. Erst Branchenfremde wie Tesla und Google mussten zeigen, wie es geht.

Konzerne sind Tanker. Aber welche Folgen könnte das für mittelständische Unternehmen haben?
Vor allem Zulieferer sind gefährdet. Die große Umwälzung zeigt sich darin, dass Autos immer einfacher werden. Das ist nur noch eine Skateboard-Architektur, eine Platte, auf der die Batterie, Elektromotoren und zwei Achsen angebracht werden. Und der ganze Stolz der deutschen Ingenieurskunst auf ihre hochqualitative Technik, wie die bis ins Detail ausgereiften Ventile oder die perfekte Getriebeabstimmung, fällt einfach weg. In Zukunft wird es „hardwaretechnisch“ weitaus primitivere Autos geben, für die aber eine komplexe Sensorik und Informationstechnologie benötigt wird. Was bleibt für die Automobilkonzerne? Eigentlich nur noch die Entwicklungs- und Montagearbeit.

Das klingt wenig hoffnungsvoll. Hat die Stunde der mittelständischen Zulieferunternehmen geschlagen?
Sicherlich nicht, wenn sie sich nicht nur auf einen großen Partner verlassen, der bisher stets für die vermeintlich guten Umsätze gesorgt hat. Dieses Ausruhen auf einer langjährigen Zusammenarbeit ist gefährlich. Wenn der große Partner wegbricht, ist auch das Geschäft weg. Daher müssen die Zulieferunternehmen immer auf der Hut sein. Statt sich ad ultimo auf eine einzige Kooperation zu verlassen, müssen sie ihre Produkte erweitern – oder besser noch: selbst zu Plattformanbietern werden.

Plattform – das bedeutet, dass Mittelständler wie Amazon vorgehen sollten, also eine Leistung anbieten, bei der viele Partner mitverdienen. Wie soll das gehen?
Warum denn nicht? Mit unserem eigenen IT-Unternehmen setzen wir auf SAP als Plattform. Wir bieten Leistungen für SAP an. Und unsere Kundenbeziehungen, also unser technisches Know-how, unsere Partner, also unser eigenes Ökosystem, machen unser Unternehmen für die große SAP interessant.

August-Wilhelm Scheer (Jahrgang 1941) ist einer der profiliertesten Unternehmer und Wissenschaftler der deutschen Informationstechnik. Der ehemalige Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik an der Universität des Saarlandes hat bereits 1984 sein erstes Unternehmen gegründet. Aktuell beschäftigt die Scheer GmbH, ein Beratungs- und Softwarehaus, 550 Mitarbeiter und erwirtschaftet einen Umsatz von 80 Millionen Euro.

In der IT-Branche gehören Systemhäuser zu den klassischen Geschäftsmodellen. Das hat da immer schon so funktioniert …
… das gilt doch genauso für den industriellen Mittelstand, der von zahlreichen Kunden und Lieferanten umgeben ist. Diese Gruppen lassen sich von einem sinnvollen Ziel überzeugen, wenn sie daran verdienen. Und wo liegen die höheren Gewinnchancen und mehr Wertschöpfung – im Produkt oder in der Plattform? Die Antwort ist ganz eindeutig: Die Wertschöpfung verschiebt sich vom Produkt zur Plattform. Das ist eine ganz gravierende Entwicklung. Amazon führt das anschaulich vor: je mehr Nachfrage, desto mehr Anbieter. Umgekehrt funktioniert das auch: Je mehr Anbieter unter einem Dach erreichbar sind, desto höher ist ihre Anziehungskraft auf die Kunden. Um das eigentliche Produkt, auf das mittelständische Unternehmer stets so stolz sind, geht es in diesem Ökosystem erst in zweiter Linie.

Produzierende Unternehmen ohne Produkt – ist das Ihre Zukunftsvision?
Nein, aber so ist es ja auch nicht. Nehmen Sie das Beispiel Amazon für eine erfolgreiche Plattform: Wenn sich nun Unternehmen zu Plattformanbietern entwickeln, können sie sich auf ihrem eigenen Terrains bewegen, wo eben Vertrauen zwischen Kunden und Lieferanten vorhanden ist. Diese Partner stellen ihre Spezialisten zur Verfügung und entwickeln preisgünstig gemeinsam neue Produkte und haben Erfolg auf dem Markt. Das wirkt sich positiv auf das Image dieses Netzwerks aus. Dadurch kommen weitere Netzwerke von spezialisierten Unternehmensplattformen hinzu, die wiederum neue Technologien oder neue Marktfelder erschließen. Nach diesem Modell sollte jeder verfahren.

Wenn nun nicht jeder dazu bereit ist, eine Plattform zu entwickeln oder sich einem Netzwerk anzuschließen, welche Alternative bleibt diesem Unternehmen?
Da bietet sich das Aufkaufen als Innovationsschub an. Mittelständler haben ja bisher ganz gut verdient. Sie sollten sich an Softwarehäusern beteiligen, denn mit deren Know-how können die bestehenden Produkte hinsichtlich der Digitalisierung weiterentwickelt werden Es ist sinnvoller, sich die IT-Kompetenz dazuzukaufen, als alles selbst zu entwickeln. Wenn sich produzierende Unternehmen in Richtung Softwarekompetenz erweitern, belohnt das der Markt.


Der Artikel gehört zu einem Thema aus der „Markt und Mittelstand“-Ausgabe Oktober 2018. Hier können Sie das Heft bestellen und „Markt und Mittelstand“ abonnieren.

 

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