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Debatte > Olaf Scholz

So sieht der Economist unseren Kanzler

Die Wahl habe er nur gewonnen, weil er sich unerbittlich an ein fades Drehbuch gehalten hat, während seine Konkurrenten allesamt Fehler im Wahlkampf begangen haben. Seitdem gehe es bergab mit Deutschland.

Bildnachweis: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Ebrahim Noroozi

Die britische Wirtschaftszeitschrift rechnet mit dem deutschen Kanzler ab: Für seine Versäumnisse gebe es wenige Entschuldigungen. Die Wahl habe er nur gewonnen, weil er sich unerbittlich an ein fades Drehbuch gehalten hat, während seine Konkurrenten allesamt Fehler im Wahlkampf begangen haben. Seitdem gehe es bergab mit Deutschland.

161 Jahre sind eine lange Zeit in der Politik. Durch zwei verheerende Weltkriege und einen langen kalten Krieg, durch fette und magere Jahre bis in die Gegenwart hinein haben die deutschen Sozialdemokraten (SPD) einen erstklassigen Platz am Tisch der Macht behalten. Mit Ausnahme von vier Jahren im letzten Vierteljahrhundert war die Mitte-Links-Partei in jeder Regierung ein Junior- oder Senior-Koalitionspartner. Olaf Scholz, der achte SPD-Mann, der seit 1919 Bundeskanzler ist, führt die Ampelkoalition, die nach den Farben der drei Parteien benannt ist und die nach der letzten Bundestagswahl 2021 antrat.

Doch seither ist die Popularität der SPD und von Scholz eingebrochen. Bei der Wahl 2021 lag die Partei an erster Stelle und erreichte in Umfragen über die „Wahlabsicht" einen Spitzenwert von 28 Prozent. In denselben Umfragen liegt sie jetzt auf dem dritten oder sogar vierten Platz und erreicht gerade einmal 15 Prozent. Der Abwärtstrend ist so schnell und stetig, dass die SPD, wenn das Schicksal ihr nicht hilft, bei den Europawahlen im Juni wahrscheinlich gedemütigt und im September bei den Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern, in denen die Feindseligkeit gegenüber der Regierung Scholz brodelt, vernichtend geschlagen wird. Wie die traditionelle sozialistische Partei in Frankreich, die von der nationalen Dominanz in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht ist, könnte auch die SPD vor dem Aussterben stehen.

Dieser Niedergang ist nicht unvermeidlich. Viele Deutsche stimmen immer noch mit dem überein, wofür die SPD steht: ein großzügiger Sozialstaat, ein starker Schutz der Arbeitnehmerrechte, eine fortschrittliche Sozialagenda, ein Engagement für die Europäische Union. An den letzten Wochenenden haben sich Hunderttausende auf deutschen Straßen versammelt, um mit der Ermutigung von Scholz die rechte Alternative für Deutschland (AfD) anzuprangern - eine starke Demonstration der Leidenschaft, die die SPD begünstigt.
 

Der Niedergang wäre aufzuhalten

Dennoch lastet eine Reihe von Faktoren auf der alten Partei, darunter der Rückgang ihrer Arbeiterbasis, eine schwache Wirtschaft, ein bedrohliches globales Umfeld und politische Auseinandersetzungen zwischen den Partnern in der Drei-Parteien-Koalition. Wenn man dann noch die trockene Vorliebe von Scholz für Management statt für mutige Führung hinzunimmt, ist der Sturm perfekt.

Ein Gradmesser für diese Gefahr ist die Tiefe der gemeinsamen Wut auf die Regierung in sehr unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft. Als Landwirte Anfang Januar landesweit Straßen blockierten, um gegen einen Plan der Regierung zu protestieren, der die Abschaffung von Steuerbefreiungen vorsieht, von denen sie profitieren, schlossen sich auch LKW-Fahrer und selbständige Handwerker an. Trotz der Störungen zeigten Umfragen zufolge mehr als drei Viertel der Deutschen Sympathie für die Proteste.

Auch die großen Unternehmen sind nicht zufrieden. Rainer Dulger, der Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, sagt, seine Mitglieder hätten zunehmend kein Vertrauen in die Regierung. „Es schmerzt mich zu sehen, wie tief Deutschland in den letzten zwei Jahren gesunken ist", sagte er Mitte Januar vor Journalisten.
 

Die große Einkommensschrumpfung

Ein offensichtlicher Grund für die Verärgerung ist die Abflachung oder in vielen Fällen das Schrumpfen des real verfügbaren Einkommens in den letzten zwei Jahren, als die Inflation auf ein Niveau anstieg, das seit Anfang der 1990er Jahre nicht mehr erreicht wurde. Die Regierung von Scholz hat versucht, dies abzumildern, unter anderem durch die Erhöhung der Leistungen für Arbeitslose. Doch trotz der Erleichterungen für etwa 5,5 Millionen Menschen scheinen die Deutschen davon überzeugt worden zu sein, dass die Großzügigkeit der SPD im Umgang mit Steuergeldern Schnorrer belohnt und die Arbeitsmoral untergräbt. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass 62 Prozent der SPD-Anhänger glauben, dass die Politik der Partei die Menschen von der Arbeit abhält.

Als Zeichen der Dysfunktionalität innerhalb der Koalition hat Christian Lindner, der Finanzminister und Vorsitzende der kleinen, wirtschaftsfreundlichen Freien Demokratischen Partei, wiederholt die Politik seiner Partnerpartei angeprangert. „Ist das noch die alte Tante SPD, die Anwältin der Arbeitnehmer, oder ist das die Vertreterin der Sozialhilfeempfänger?", fragte er im Januar in einem Interview.

Die Schuldenbremse lähmt

Doch der Schaden für die Partei von Scholz ist nicht nur selbst verschuldet. Lindners Weigerung, die „Schuldenbremse" anzutasten, eine Verfassungsvorschrift, die die Fähigkeit des Staates, Kredite aufzunehmen, lähmt, ist ein Grund für die politischen Verrenkungen, die die Regierung beispielsweise dazu brachten, die Landwirte zu provozieren, indem sie ihre Vergünstigungen beschnitten.

Der dritte Partner in der Koalition, die Grünen, haben noch mehr Probleme verursacht. Viele Deutsche hielten ihr Beharren auf der Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke des Landes im April letzten Jahres, inmitten einer Energiekrise, die durch den Stopp der russischen Brennstofflieferungen ausgelöst wurde, für völlig verrückt. Kurz darauf wurde ein unüberlegter Vorstoß der Grünen, Hausbesitzer zum Einbau teurer Wärmepumpen zu bewegen, zu politischem Goldstaub für die Opposition, die diesen Vorstoß als eklatantes Beispiel für die Übervorteilung der Regierung brandmarkte.

Dieser Vorwurf wurde auch deshalb erhoben, weil sich die SPD von ihrer traditionellen Wählerbasis, der Arbeiterklasse, entfernt hat. Diese Klasse ist geschrumpft, da mehr Deutsche in Angestelltenberufe abgewandert sind, während in den schrumpfenden Industrieregionen sowie in den neuen Bundesländern viele ehemalige Sozialisten nach rechts gewandert sind. Untersuchungen zeigen, dass Anhänger der AfD weitaus häufiger über die Inflation besorgt sind als SPD-Wähler, vermutlich weil letztere mit ihrem Schicksal zufriedener sind. Das Schrumpfen des Einzugsgebiets der SPD lässt sich auch am Altersprofil der Partei ablesen. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Mitgliederzahl der Partei fast halbiert und lag im vergangenen Jahr bei nur noch 365.000. Rund 57 Prozent von ihnen sind über 60 Jahre alt.

Die Arbeiterbasis gibt es so nicht mehr

Es mag natürlich sein, dass der Elan der Partei mit der Zeit ein wenig nachlässt. Für die Versäumnisse der Führung von Scholz gibt es wenige Entschuldigungen. Die Deutschen haben nicht vergessen, dass der ehemalige Hamburger Bürgermeister die Wahl 2021 weniger aufgrund seiner Verdienste gewonnen hat, sondern weil er sich unerbittlich an ein fades Drehbuch gehalten hat, während seine Konkurrenten allesamt Fehler im Wahlkampf begangen haben. Er präsentierte sich als ruhiger, beruhigender Klon seiner Vorgängerin Angela Merkel, einer beliebten und bekanntlich unerschütterlichen Kanzlerin (wenn auch einer anderen Partei). Scholz kopierte sogar Frau Merkels Angewohnheit, ihre Finger und Daumen zu einer nach unten zeigenden Raute zusammenzudrücken.

Doch anstatt offen und entschlossen aufzutreten, wirkt Herr Scholz distanziert und zögerlich. Er scheut große Gesten und verschmäht die Presse und zieht den Sitzungssaal dem öffentlichen Podium vor. Immer wieder lässt er Kontroversen schwelen, lässt seine Minister aneinander geraten und greift erst ein, wenn der politische Schaden bereits angerichtet ist. „Olaf vertritt den Ansatz, dass man sich nur auf Kämpfe einlässt, die man gewinnen kann; andere Themen sollte man besser nicht anfassen", sagt ein Partei-Insider. Der Insider fügt hinzu, dass dieser Ansatz gut ist, wenn man ein Ministerium leitet, aber nicht so gut, wenn man Europas wichtigstes Land in einer Zeit mehrerer Krisen leitet.

Pistorius ist keine Aklternative

Scholz, der vom 8. bis 10. Februar Washington besucht, hat im In- und Ausland Verteidiger, die seine Umsicht in schwierigen Zeiten loben. Die deutsche Öffentlichkeit zeigt sich weniger beeindruckt. Die Popularität des Bundeskanzlers stieg im März 2022 kurzzeitig an, nachdem Scholz als Reaktion auf den russischen Einmarsch in der Ukraine mutig eine Zeitenwende ausgerufen hatte. Seitdem ist seine Zustimmungsrate auf 20 Prozent gesunken, den niedrigsten Wert für einen Bundeskanzler seit Beginn der Aufzeichnungen durch das Meinungsforschungsinstitut Deutschlandtrend im Jahr 1997. Nur 12 Prozent sagen, dass er „effektiv kommuniziert".

Es überrascht nicht, dass in der SPD Unzufriedenheit herrscht. Vor allem aber, so beklagt ein anderer Parteimitarbeiter, herrsche Selbstzufriedenheit und ein „Verschieben der Stühle". Einige setzen ihre Hoffnungen auf einen mittelfristigen Führungswechsel, bei dem der weitaus populärere Verteidigungsminister Boris Pistorius die schwächelnde Mannschaft auf Vordermann bringen soll. Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa deutet jedoch darauf hin, dass Pistorius, ein ruppiger, ungehobelter SPD-Mann, bei einer erneuten Bundestagswahl die Chancen der Partei um gerade einmal drei Prozentpunkte verbessern würde. Die Spirale wird sich wahrscheinlich fortsetzen.

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Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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