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Einkauf, Marketing und Marken > Angriff auf Amazon und Zalando

Shein und Temu sorgen für neue Spielregeln im eCommerce

Erst gab es diverse Insolvenzen im stationären Handel. Droht jetzt auch eine Pleitewelle im eCommerce? Selbst ein Riese wie Amazon gerät unter Druck, weil die chinesischen Newcomer Shein und Temu wie Dampfwalzen Marktanteile gewinnen. Dabei steht der Großangriff auf Europa jetzt erst an.

Lieferung von Amazon
Von A wie Amazon bis Z wie Zalando: Im eCommerce bleibt derzeit kaum ein Stein auf dem anderen. Bild: Shutterstock

Von A wie Amazon bis Z wie Zalando: Im eCommerce bleibt derzeit kaum ein Stein auf dem anderen: Konsumenten sehen sich ganz neuen Möglichkeiten gegenüber. Und bei immer mehr Händlern regiert die Unsicherheit. Gestern ging das Wachstum des Onlinehandels noch durch die Decke, heute ist Überlebenskampf. Erst kam die Inflation inklusive Kaufzurückhaltung – und jetzt greifen chinesische Wettbewerber auch auf dem europäischen Markt an. Teilweise gehen altbekannte Größen wie Alibaba in die Offensive, mal sind es neue Player wie Shein und Temu, die auch schon in den USA in unglaublicher Geschwindigkeit Marktanteile erobern konnten.

Dass der stationäre Handel am Fliegenfänger hängt, ist längst bekannt: Galeria-Kaufhof, Reno, Ahlers, Peek & Cloppenburg und Görtz meldeten Insolvenz an – um nur einige Beispiele zu nennen. Corona hat dem Online-Handel berauschende Zahlen beschert und vielen stationären Händlern den Rest gegeben. Doch als der stationäre Handel nach dem Ende der Lockdowns Kunden wieder in die Läden lockte und die galoppierende Inflation die Konsumfreude drückte, gerieten auch diverse eCommerce-Größen unter Druck:

2015 wurde windeln.de beim Börsengang noch mit einer halben Milliarde Euro bewertet, Anfang des Jahres kam die Insolvenz. Keller Sports, auch so ein Senkrechtstarter, ging Ende 2022 pleite. About You gilt als Übernahmekandidat. Und selbst die, die es nicht so hart trifft, müssen harte Entscheidungen treffen: Von Amazon bis Zalando verkünden Unternehmen Entlassungen, wie sie die Branche noch nie erlebt hat.

Die Chinesen kommen wie Dampfwalzen

Und genau in dieser Phase starten die Chinesen eine Offensive, bei der sich die deutschen Händler und selbst Marktführer Amazon warm anziehen müssen: Shein, Temu und Alibaba mit der Plattform Tmall haben jetzt angekündigt, in Europa noch schneller wachsen zu wollen. Das geht vor allem über ein sogenannten Marktplatzmodell, dass sie auch in Europa einführen wollen. Dort verkaufen sie nicht mehr nur die Produkte, die sie selbst produzieren, sondern auch die fremder Marken – so wie es Amazon auch tut. Für den US-Konzern dürfte vor allem Alibabas Tmall ein harter Wettbewerber werden. Shein und Temu greifen in erster Linie die Modehändler an, könnten sich aber rasant ausbreiten. Fachleute erkennen in all dem derzeit eine Zeitenwende für die deutschen Konsumenten. Selbst die bisher starken Händler haben dem nicht viel entgegenzusetzen, hört man in der Branche hinter vorgehaltener Hand.

Gerade chinesische Wettbewerber wie Shein könnten für Zalando also so totbringend sein wie es Zalando einst für Peek & Cloppenburg war. Shein schafft es dank rabiater Methoden und eines hochinnovativen Systems, mit 16-Euro-Jeans irrwitzige Margen zu erreichen. Keine andere App wurde weltweit 2022 so häufig heruntergeladen. In den USA dürfte das 2008 gegründete Unternehmen aus Singapur bei Bekleidung auf einen Marktanteil von rund 40 Prozent kommen. Die Branche lernt gerade auf die harte Tour: Erfolgsmodelle aus China reüssieren allem Anschein nach auch im Westen.

Das gilt ebenso für Temu, dem eCommerce-Unternehmen der Stunde. Die Zahl der Kunden steigt in einem irrwitzigen Tempo, derzeit dürften es weltweit 750 Millionen aktive Nutzer sein. Extrem hohe Rabatte sind ein Kennzeichen, aber es steckt viel mehr hinter dem Erfolg. Erstens – die Daten: Shein und Temu können extrem schnell auf Modetrends reagieren. Durch die Vielzahl an Daten und die Fähigkeit, sie zu nutzen, kann das agile Unternehmen rasant vorherzusehen, was Kunden wollen. Wo andere raten, was morgen gekauft wird, wissen sie es schon.

Zweitens – die Erlebnisse: Chinesische Händler setzen auf Gamifikation, Chats und große Gefühle. Konsum ist im Reich der Mitte ein Gruppenerlebnis, denn die sozialen Medien sind direkt angeschlossen. Freundinnen und Freunde sind live mit dabei, was Chinesen sehr wichtig ist. „In China spielt Emotionalität beim Einkauf eine viel höhere Rolle“, sagt Björn Ognibeni: „Bei uns ist alles auf Effizienz getrimmt.“ Der Berater und Experten meint,  dass die Chinesen einen gänzlich anderen Ansatz haben: „Unser eCommerce ist traditionell Such-getrieben. Die Chinesischen Apps bieten Erlebnis. Da geht man hin, auch wenn man gerade gar nichts kaufen möchte, allein um sich unterhalten und inspirieren zu lassen.“

Es geht dort eben nicht nach dem Schema „Kunde initiiert und geht bedarfsorientiert ins Netz und Händler erfüllt den Wunsch“. Von China kann man lernen, dass man auch einfach so virtuell einkaufen gehen kann, als Erlebnis. Die Ironie dabei: Genau so war jahrzehntelang das Geschäftsmodell des stationären Handels. Jugendliche, Mütter mit Töchtern – Einkaufen war Event, Lebensart und bot Überraschungen. Fast der gesamte Konsum findet dort zudem über das Smartphone statt, der Desktop-Anteil ist deutlich niedriger.

Drittens – der Service: Kunden können sich leicht für Sammelbestellungen zusammenschließen oder bei Onlinespielen Gutscheine erhalten. In großem Stil ist die Bestellung bei Landwirten in der Region möglich, die frische Ware wird direkt nach Hause geliefert. Die Hürden für die Neukundengewinnung sind vergleichsweise niedrig: Käufer müssen nicht aufwändig Dinge wie Zahlungsdaten eingeben, bis zum Kauf selbst in einer App, die man zuvor noch nie benutzt hat, vergehen nur Sekunden.

Händler müssen entsprechend wenig für Werbung ausgeben, die spielt in China nur eine Nebenrolle. Viel mehr Wert liegt auf der User Experience und dass sich Kunden wohl fühlen: Lieferungen innerhalb einer Stunde sind keine Seltenheit. Technische Aussetzer gibt es selbst an den großen Rabatt-Tagen nicht, da schafft Alibaba auch mal 500.000 Bestellungen – pro Sekunde wohlgemerkt. Es gibt für Senioren einen eigenen Modus, so dass es Ältere auch auf dem Smartphone sehr viel einfacher haben, Dinge zu suchen und zu bestellen. Wer König sein will, muss bei Chinesen bestellen.

Chance für die Deutschen: Nachhaltigkeit und KI

Nun gut, aber man muss dann eben auch ein gewissenloser, böser König sein, wie man ihn aus Märchen und Disney-Filmen kennt. Denn mit gutem Gewissen kann man bei Shein und Temu nicht einkaufen. Die Liste der Vorwürfe ist lang: Die Plattformen sollen Nutzerdaten missbrauchen, potenziell gesundheitsschädliche Materialien verarbeiten und geistiges Eigentum stehlen inklusive der Designs anderer Modemarken. Zwangsarbeit soll es geben – irgendwoher müssen die niedrigen Preise ja kommen. Greenpeace hat bei Tests von Shein-Billigware in jedem dritten Produkt „gefährliche Chemikalien in besorgniserregenden Mengen“ gefunden. 

Mit dem Lieferkettengesetz europäischer Prägung können die Chinesen freilich wenig anfangen, das ist auch für Fachleute eine Blackbox. Vermutlich kann nur die Regulierung Shein und Temu aufhalten. Vor allem in den USA und Frankreich erarbeiten die Behörden gerade Gesetze. Doch bis die greifen, haben die Firmen ihre Probleme und Praktiken vermutlich längst umgestellt und vor allem so hohe Marktanteile erworben, dass die Etablierten sie erst einmal wieder verdrängen müssen.

Eine große Chance für Zalando und andere deutsche Händler liegt also am Appell an das nachhaltige Gewisse der Konsumenten. Je mehr nach dem Motto „Der Preis ist nicht alles“ agieren, desto schwerer dürfte es für die chinesischen Plattformen werden. Zweitens können sie hoffen, dass Shein und Temu weiterhin so lange Lieferzeiten haben – derzeit ein bis zwei Wochen. Doch wer die Chinesen kennt, ahnt, dass es nicht so bleiben wird. Die dritte Chance liegt, besseren Service durch neue Technologien zu bieten. Generative KI, wie sie viele durch ChatGPT kennengelernt haben, und Metaverse-Apps werden auch den Konsum der Zukunft verändern.

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