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Recht und Steuern > Serie Bürokratie

Gelesen, gelacht, gelocht: Das Schwarzer-Peter-Spiel

Es gibt kein komplexeres Wirtschaftssystem in Deutschland als das Gesundheitswesen. Jetzt fordert die AOK Einhalt. Und eine Orthopädietechnikerin berichtet, warum ein Drittel ihrer Mitarbeiter keine Prothesen mehr macht, sondern Formulare ausfüllt.

So viel Papier: Unternehmer klagen sehr häufig über überbordende Bürokratie. Zu Recht?
So viel Papier: Unternehmer klagen sehr häufig über überbordende Bürokratie. Zu Recht?

Ja, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Und auch beim Abbau der eigenen Bürokratie haben die gesetzlichen Krankenkassen noch viel zu tun. Trotzdem macht die AOK mit ihren aktuellen Forderungen einen Punkt. Der bezieht sich zwar „nur“ auf die Leistung Hilfsmittel. Darunter fallen alle beweglichen Gegenstände, die für eine Krankenbehandlung, zur Vorsorge oder wegen einer Behinderung nötig sind. Doch der Vorwurf der AOK lässt sich auf alle weiteren Leistungsbereiche übertragen.

„Überflüssige Bürokratie bindet aktuell zu viel Personal und führt zu unnötigen Kosten im Hilfsmittelbereich", diagnostiziert Carola Reimann, Chefin des AOK-Bundesverbandes. Dabei ging es schon in diesem Teilbereich des Gesundheitswesens 2022 um erstmals mehr als zehn Milliarden Euro. Das sei zu viel, so die AOK. Ergo: Es muss gespart werden. Ergo: Prozesse sollen optimiert werden - wie in jeder guten Fabrik.

Reimanns Rezept: Die Informations- und Kontrollpflichten der Krankenkassen sollten ebenso reduziert werden wie die kleinteiligen Vorgaben für die Qualifizierung der Leistungserbringer.

Man mag es kaum glauben: Unnötige Bürokratie führe beispielsweise dazu, dass voll funktionstüchtige Blutdruckmessgeräte alle zwei Jahre ausgetauscht werden müssten. Zudem solle  - wir schreiben das Jahr 2023 - „die gesamte Kommunikation zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen digitalisiert werden“. So sollten zum Beispiel Kostenvoranschläge für Hilfsmittel nur noch elektronisch gestellt und beantwortet werden.
Für mehr Wettbewerb im System sollten die Krankenkassen wieder mehr Vertragsinstrumente wie Ausschreibungen oder Selektivverträge nutzen dürfen. Reimann klagt: „Aktuell ist laut Bundeskartellamt der Preis- und Qualitätswettbewerb im Hilfsmittelbereich durch die beherrschende Marktmacht einzelner Anbieterorganisationen stark eingeschränkt.“ Statt die Hilfsmittelversorgung künftig nur noch über landesweite Einheitsverträge zu regeln, brauche es einen dynamischen ordnungspolitischen Rahmen.

Ob das die Lösung ist? Bürokratie im Gesundheitswesen ist ein Perpetuum Mobile. Denn je teurer die medizinische Versorgung in einer alternden Gesellschaft wird, desto stärker müssen die Krankenkassen jede Kostenpositionen hinterfragen und kontrollieren. Schließlich geht es um Versichertengeld, allein 2022 fast 289 Milliarden Euro. Gemäß Sozialgesetzbuch müssen aber alle abzurechnenden Leistungen nachweislich „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich" sein. Da lacht das Bürokratie-Monster.

Was das Hilfsmittel-Dilemma für engagierte Medizin-Handwerker bedeutet, hat die Illertissener Orthopädiemeisterin Aurelia Schnitzlein-Funk soeben der Handwerkszeitung berichtet. Bürokratischer Verwaltungsaufwand hält nicht nur sie als Geschäftsführerin im elterlichen Fachbetrieb von der Arbeit am Patienten ab. So gehen etwa Rechnungen direkt an die Krankenkasse des Versicherten. Deshalb haben die Kassen mit den Orthopädietechnikern Verträge abgeschlossen. Mehr als 1000 Einzelverträge genau genommen, im Schnitt mit mehr als 100 Seiten. Bis zur Gesundheitsreform 2007 gab es deutschlandweit nur rund 25 Verträge mit Krankenkassen.

Schnitzlein-Funk beschreibt ihren Arbeitsalltag so: „Früher haben unsere Techniker ihren Job gemacht und waren glücklich. Heute fragen sie sich, woran sie denn noch alles denken müssen“.

Sechs ihrer 20 Mitarbeitenden kümmerten sich fast ausschließlich um die Verwaltungsarbeit für die Krankenkassen und die Dokumentationspflichten für die europäische Medizinprodukteverordnung. Die Folge in Zeiten des Fachkräftemangels: „Mitarbeiter wechseln in berufsfremde Branchen, weil wir nicht in der Lage sind, höhere Gehälter zu bezahlen", sagt Michael Schäfer, stellvertretender Obermeister der Landesinnung Bayern. Er beklagt zudem, dass die Kassen zwar die Hilfsmittelverzeichnis ständig aktualisieren, aber „das ist oft medizinisch, handwerklich und logisch fehlerhaft. Wir haben aber nur ein Anhörungsrecht, kein Widerspruchsrecht“.

Und schon ist der Schwarze Peter wieder bei der AOK.

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