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Einkauf, Marketing und Marken > Krise im Online-Handel

Neue Ära im E-Commerce

Nach dem stationären Handel steuert der Online-Handel in die Krise. Neue Technologien und aggressive Firmen aus China verbreiten Panik.

Erfolgreiche alte Idee: Der schnell wachsende Online-Händler Shein, hinter dem Chinesen stehen, setzt weltweit auf Ladengeschäfte auf Zeit, in denen für kurze Zeit Kleidung anprobiert werden kann.Bildquelle: © picture alliance / abaca | Stevens Tomas/ABACA

Mal sind es schwarze Ozeane, schwer zu befahren wegen der unsichtbaren Gefahren. Mal führen Hängebrücken in den Nebel. Wenn es um Online-Handel geht, zeigen die Sprachbilder in Fachmagazinen und auf Konferenzen vor allem eins: Unsicherheit. Wuchs die Branche über Jahre kräftig, steckt sie plötzlich im Überlebenskampf. Das hat mehrere Gründe – einer sind aggressive chinesische Firmen mit reichlich Geld. Dass der stationäre Handel große Probleme hat, zeigt sich an den Insolvenzen von Galeria-Kaufhof, Reno, Ahlers, Peek & Cloppenburg und Görtz. Und das sind nur die großen Beispiele. In den vergangenen Jahren befeuerte der Aufstieg der Online-Händler den Niedergang der Läden. Die Pandemie mit ihren strengen Ausgangsregeln setzte den Firmen noch zusätzlich zu und deckte auf, dass es bei vielen schon seit Jahren nicht rund lief. Der Online-Handel boomte gleichzeitig. War ja so einfach, vom Sofa aus zu bestellen und liefern zu lassen, ohne die Corona-Regeln zu verletzen.

Und jetzt? Geraten sogar die Größen des Internethandels unter Druck. Bei einer Umfrage des Bundesverbandes E-Commerce und Versandhandel gab knapp die Hälfte der Firmen an, 2023 nicht mehr so viel umzusetzen wie im Vorjahr. Manche sind gar nicht mehr im Geschäft. Windeln.de zum Beispiel. 2015 war das Unternehmen beim Börsengang noch 500 Millionen Euro wert. Als das Unternehmen Ende Januar Insolvenz anmeldete, waren es nur noch fünf Millionen Euro. Keller Sports, auch so ein Senkrechtstarter, ging Ende 2022 bankrott. Selbst die, die es nicht so hart trifft, müssen hart entscheiden: Von Amazon bis Zalando verkünden Unternehmen Entlassungen, wie sie die Branche noch nie erlebt hat. 

Tarek Müller, CEO von About You, verkündete kürzlich zwar überraschend ein Quartal mit schwarzen Zahlen, ist aber ein gefallener Star im Otto-Konzern, der rund zwei Drittel am börsennotierten About You hält: Das Hamburger Traditionshaus geht seit Jahren neue Wege, zuletzt lief es nicht rund. Sebastian Klauke, E-Commerce-Vorstand von Otto, fasst es beim großen E-Commerce-Branchentreffen K5 so zusammen: „Transform or die.“ Wandeln oder untergehen. Es brauche „Mut, Dinge zu beenden, die nicht funktionieren“. So kann man es auch formulieren, wenn man Projekte wie den einst erfolgreichen Spielwarenhändler MyToys oder den Schuhshop Mirapodo abwickelt, wie zuletzt geschehen. Insgesamt wird gespart und auf Profitabilität getrimmt. Die Anteile an About You gelten als Tafelsilber, chinesische Käufer als nicht unwahrscheinlich.

Drei Faktoren belasten die verwöhnten Online-Händler. Die Konsumlaune der Kunden ist wegen der hohen Inflation schlecht, und europaweit denken die Verbraucher zweimal nach, bevor sie etwas kaufen. Die gesamtwirtschaftliche Lage ist trübe. Es gibt enorme technologische Veränderungen und Wettbewerber aus China mit Methoden, die so neuartig wie erfolgreich sind. Und das trifft auch die ganz Großen der Branche.

Zum Beispiel Mode-Online-Händler wie Zalando. Chinesische Konkurrenten wie Shein (gesprochen Shie in) könnten für Zalando so gefährlich sein, wie es Zalando in den vergangenen 15 Jahren für Peek & Cloppenburg war. Shein schafft es dank rabiater Methoden und eines hochinnovativen On-Demand-Systems, mit 16-Euro-Jeans irrwitzige Margen zu erreichen. Durch die Vielzahl an Daten und die Fähigkeit, sie zu nutzen, kann das Unternehmen vorhersehen, was Kunden wollen, und so sehr schnell auf Modetrends eingehen. Keine andere App wurde im vergangenen Jahr weltweit so häufig heruntergeladen. In den USA dürfte das Unternehmen bei Bekleidung auf einen Marktanteil von rund 40 Prozent kommen. Shein sitzt in Singapur, wurde 2008 in China gegründet.

Oder Temu, Online-Händler der Stunde, erst seit 2022 am Markt. Er gehört zur PDD Holding aus Shanghai. Die Zahl der Kunden steigt in hohem Tempo, derzeit dürften es weltweit 750 Millionen aktive Nutzer sein. Hohe Rabatte sind ein Kennzeichen, aber es steckt viel mehr hinter dem Erfolg. Kunden können sich leicht für Sammelbestellungen zusammenschließen oder bei Online-Spielen Gutscheine erhalten. Chinesische Firmen können direkt, und ohne Lagerhäuser in Europa oder den USA nutzen zu müssen, an die Kunden dort liefern. 

Ganz sauber arbeiten Shein und Temu möglicherweise nicht, die Liste der Vorwürfe ist lang: Sie sollen Nutzerdaten missbrauchen, potenziell gesundheitsschädliche Materialien verarbeiten und geistiges Eigentum stehlen – inklusive der Designs anderer Modemarken. Zwangsarbeit soll es angeblich geben – irgendwoher müssen die niedrigen Preise ja kommen. Mit dem Lieferkettengesetz europäischer Prägung können die Chinesen wenig anfangen. Hinter vorgehaltener Hand fürchten viele in der Branche, dass nur die Regulierung Shein und Temu aufhalten kann. Vor allem in den USA und Frankreich erarbeiten die Behörden gerade Gesetze. Doch bis die greifen, haben die Firmen ihre Probleme und Praktiken vermutlich längst umgestellt und vor allem so hohe Marktanteile erworben, dass die Etablierten sie erst einmal wieder verdrängen müssen.

Doch es gibt Wege aus der Krise. Für Fachleute wie dem Berater und China-Kenner Björn Ognibeni sollte es den deutschen Händlern jetzt weder darum gehen, einzelne Modelle von erfolgreichen internationalen Wettbewerbern zu kopieren, noch darauf zu hoffen, dass die Behörden dem Treiben schnell ein Ende setzen. Der Berater schlägt vor, anders vorzugehen: „Unser E-Commerce ist traditionell von Suche getrieben. Die chinesischen Apps bieten Erlebnis. Da geht man hin, auch wenn man gerade gar nichts kaufen möchte, allein um sich unterhalten und inspirieren zu lassen.“

China lehrt also den virtuellen Einkauf als Erlebnis. Die Ironie dabei: Genau so war jahrzehntelang das Geschäftsmodell des stationären Handels. Einkaufen war Event, Lebensart und bot Überraschungen. Dann kam die Effizienzmentalität. Gepaart mit Innenstädten voller immer gleicher Ketten ergibt das pure Langeweile. Und im westlichen Online-Handel hat es diesen Erlebnisfaktor noch nie  gegeben.

 

Kunde, Kunde, Kunde

Chinesische Händler setzen auf Gamification und Spieltrieb, Chats, guten Service. Die Hürden für die Neukundengewinnung sind niedrig: Käufer müssen nicht aufwendig Dinge wie Zahlungsdaten eingeben, bis zum Kauf selbst in einer App, die man zuvor noch nie benutzt hat, vergehen nur Sekunden. Zudem ist der Konsum ein Gruppenerlebnis, denn die sozialen Medien sind direkt angeschlossen. Freundinnen und Freunde sind live mit dabei, was Chinesen sehr wichtig ist. Fast der gesamte Konsum findet dort zudem über das Smartphone statt, entsprechend optimiert sind die Apps. Händler müssen entsprechend wenig für Werbung ausgeben, die spielt in China nur eine Nebenrolle. Viel mehr Wert liegt auf der User-Experience und, dass sich Kunden wohlfühlen: Lieferungen innerhalb einer Stunde sind keine Seltenheit. Technische Aussetzer gibt es selbst an den großen Rabatttagen nicht, da schafft Alibaba auch mal 500.000 Bestellungen – pro Sekunde wohlgemerkt. Es gibt für Senioren einen eigenen Modus, sodass es Ältere auch auf dem Smartphone sehr viel einfacher haben, Dinge zu suchen und zu bestellen. Wer König sein will, muss bei Chinesen bestellen.

Zum Vergleich zeigt eine Analyse des Call-Center- und Lagerhausspezialisten Salesupply, wie es um Service in Europa bestellt ist. So wird nicht einmal jene EU-Direktive flächendeckend umgesetzt, nach der Webshops eine Telefonnummer angeben müssen. Mehr als jeder vierte große Online-Shop kommt dieser Informationspflicht noch immer nicht nach. „Selbst große Online-Händler vermeiden den telefonischen Kontakt zu ihren Kunden nach Möglichkeit und betrachten Customer-Care offenbar ausschließlich als lästigen Kostenblock“, fasst Salesupply-Mitgründer Henning Heesen die Ergebnisse der Analyse zusammen.

Neben dem Service setzen die Händler aus dem Reich der Mitte auch auf Gefühle. „In China spielt Emotionalität beim Einkauf eine viel höhere Rolle“, sagt Ognibeni. „Bei uns ist alles auf Effizienz getrimmt.“ Wo hierzulande der Paketbote ein Paket hastig vor die Tür legt oder auf den Balkon wirft, inszenieren sich in China vor allem Luxusmarken bei der Auslieferung selbst mit großer Show. Mit Live-Shopping wollte man das vor einiger Zeit ändern und E-Commerce auch im Westen spannender machen. Doch die Ansätze sind weitgehend gescheitert. „Wenn man in einem komplett auf Effizienz getrimmten Umfeld plötzlich ein bisschen Unterhaltung anbietet, können die Kunden damit nichts anfangen“, sagt Ognibeni. Die Livestreams waren oft ein Fremdkörper und inhaltlich wenig relevant, sodass viele Initiativen schnell wieder eingestellt wurden. „Auch ein Fehler, wie der Spezialist findet, „denn solche Konzepte brauchen Zeit, um Vertrauen aufzubauen. Sie müssen aber stärker vom Kunden her gedacht werden.“ Dazu gehört der Austausch zwischen Marke und Kunden ebenso wie der zwischen den Kunden untereinander, zum Beispiel über Chats.

Ein Unternehmen, das offenbar die Kunden versteht, ist Mytheresa. „Selbst ChatGPT wird emotional, wenn es uns beschreibt“, witzelt CEO Michael Kliger. Der Münchener Modehändler wächst Jahr für Jahr um rund 20 Prozent. Luxus ist resistent gegen jede Krise, wie es scheint. Das Partnerprogramm wächst, kaum eine Marke kann es sich leisten, nicht bei Mytheresa präsent zu sein. „Ware wird bei uns gekauft wegen Emotionen. Wenn man das nicht versteht, geht man das Geschäft falsch an“, sagt Kliger. Für Topkunden werden Events veranstaltet und exklusive Produkte angeboten. Bei aller Digitalisierung brauche es persönliche Ereignisse vor Ort, sagt Kliger.

Wobei Technik schon helfen kann Mensch und Maschine besser zusammenzubringen. Zum Beispiel künstliche Intelligenz (KI). Vielleicht ist 2023 ein Jahr wie 2007, als das iPhone von Apple herauskam und viele Kaufgewohnheiten veränderte. Gerade ChatGPT und andere Anbieter von sogenannter generativer KI könnten alles verändern. Unter dem Schlagwort Conversational Commerce bündeln Fachleute Verfahren, um Kunden besser zu betreuen. Weil die sprachgesteuerten Assistenten der Techriesen Amazon, Apple, Google und Microsoft nicht das leisten, was man sich gewünscht hat, hofft die Branche jetzt auf Chatbots, allen voran die KI-Chatbots, die auf dem Weg sind, wegen ihres komplexen Wissens menschliche Ansprechpartner zu übertreffen. 

Auch Amazon ruht sich auf seiner Marktmacht nicht aus, wie Rocco Bräuniger betont. „KI ist ein Marathon, wir haben erst die ersten Meter hinter uns“, sagt der Country Manager für den deutschsprachigen Raum. Virtuelle Anprobe, die Auswertung von Kundenempfehlungen, besserer Service – Beispiele gibt es viele. Die Konkurrenz inklusive der chinesischen Riesen habe man dabei nur bedingt im Auge: „Es wird immer harte Konkurrenz geben im Retail-Geschäft. Wir konzentrieren uns auf den Kunden, nicht auf den Wettbewerb.“ Und auch Christoph Werner ist eher positiv gestimmt. Der Chef von DM vergleicht Einzelhändler mit DJs: Für die ist es Kunst, ein Musikstück, wenn es zu Ende geht, sanft ausklingen und das neue starten zu lassen. Und auch im Handel gehe viel vom alten Geschäft gerade zu Ende, sagt Werner. Erfolgsmodelle kommen an ihre Grenzen, vieles verändert sich. Wer das Gute vom Bisherigen bewahrt und sanft in die neue Ära einfügt, wird weiter gute Gewinne machen.

Werner ist einer der Erfolgreichen. Der DM-Chef steht mit hochgekrempeltem weißem Hemd auf der Bühne und erklärt sein Mantra, Menschen in möglichst vielen Lebensphasen entgegenzukommen. „Der Kunde kauft so ein, wie es gerade in sein Leben passt.“ Wer Kinder hat, die im Drogeriemarkt Regale ausräumen würden, nutzt lieber den digitalen Kanal. Omnichannel Retailing ist für ihn kein hohles Buzzword, sondern ein sehr relevantes Zukunftskonzept. Die Kernfrage der Strategie: Was ist für Kunden attraktiv? Es gebe keinen Konflikt zwischen digitalem und stationärem Handel. „In der Kombination wird auch der stationäre Handel besser.“

„Wir haben gelernt: Kanal egal“

Anna Weber, Co-Chefin von Babyone, über die Dauererneuerung des Familienunternehmens und Mittel gegen den Personalmangel.

Der Einzelhandel hat turbulente Jahre hinter sich, einschließlich Lockdowns in der Pandemie. Wie nehmen Sie die aktuelle Lage wahr? Kommen die Leute wie vor Corona in die Geschäfte?

Das ist definitiv der Fall. Wir bedienen ein Sortiment, das ganz klar von unserer Beratungskompetenz in den stationären Geschäften lebt. Zum Beispiel betreten 80 Prozent der Käufer eines Kinderwagens eine stationäre Filiale, um sich beraten zu lassen und die Produkte auszuprobieren. Ob die Kunden dann den Kauf dort abschließen oder später im Online-Shop, ist unterschiedlich.

Babyone kommt aus dem Stationären, digitalisiert aber immer mehr durch. Was haben Sie gelernt? Wie ergänzen sich stationär und Online-Handel möglichst ideal?

Wir haben gelernt: Kanal egal. Verbraucher wollen an jedem Touchpoint ein gutes Kundenerlebnis. Entsprechend stellen wir uns auf: Wir haben uns in den letzten Jahren stark in Richtung Omnichannel entwickelt und haben dort investiert. Die Verknüpfung des stationären und des Online-Geschäfts ist für uns extrem wichtig. Unser Ship-from-Store-Modell, das wir 2019 eingeführt haben und alle unsere Franchisenehmer an den Online-Shop anbindet und einbezieht, war ein Meilenstein für unser Geschäftsmodell.

Sie haben im März mit „Elsa & Emil“ gegründet und verkaufen jetzt erstmals online direkt an den Kunden. Was steckt hinter dieser kompletten Neuausrichtung Ihrer Eigenmarkenstrategie?

Wir wollen uns mit der neuen Marke klar vom Wettbewerb differenzieren. Elsa & Emil ist keine klassische Handelsmarke, sondern wir steigen damit früher in die Wertschöpfungskette ein und entwickeln uns vom Händler in Richtung Hersteller. Wir sind davon überzeugt, dass das für uns der richtige Weg in die Zukunft ist.

Welche Rolle spielt der Preis heute im Vergleich zu früheren Zeiten?

Wie die meisten Unternehmen spüren auch wir eine gesteigerte Preissensitivität bei unseren Kunden. Wir sind aber davon überzeugt, dass wir durch die smarte Kombination aus Nachhaltigkeit, Funktionalität, Qualität und Design im Mittelpreissegment neue Standards für Baby- und Kleinkindprodukte setzen können. Entsprechend haben wir die neue Marke Elsa & Emil positioniert: Das hochwertige Design in Kombination mit nachhaltigen Materialien, fairen und transparenten Produktionsprozessen und einem fairen Preis sind klare Erfolgsfaktoren der Marke.

Welche Rolle spielt Personalmangel bei Ihnen? Sie sind ein junges Führungsteam, auf Social Media sehr präsent, positionieren sich bei Themen wie Diversity sehr stark – inwiefern hilft das der Arbeitgebermarke?

Der Fachkräftemangel trifft uns als Mittelständler, zumal wir mit großen Konzernen wie auch Start-ups konkurrieren. Die Sichtbarkeit als Arbeitgeber-Marke spielt natürlich eine wichtige Rolle, und da hilft uns unsere Reichweite auf LinkedIn. Diversity, New Work, Transparenz und Eigenverantwortung – das sind alles superwichtige Themen, über die wir gerne berichten. Social Media ist allerdings nur ein Aspekt von vielen. Auch im Recruiting-Prozess stellen wir – ähnlich wie in unserer Kundenansprache – die Bewerberinnen und Bewerber in den Mittelpunkt. Wichtig ist, dass wir uns im Umgang mit ihnen ständig weiterentwickeln und am Puls der Zeit sind. 

Das Gespräch führte Thorsten Giersch.

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