Beitrag teilen

Link in die Zwischenablage kopieren

Link kopieren
Suchfunktion schließen
Zukunftsmärkte > Medizintechnikhersteller in der Corona-Krise

„Wenn wir nicht liefern, sterben Menschen“

In Deutschland wird über die rasche Lockerung des Shutdowns diskutiert. Die Befürworter haben Angst, dass sonst die Wirtschaft stirbt. Geschäftsführer Thomas Jurisch vom Medizintechnikhersteller Tracoe Medical hat andere Sorgen. Ein Interview.

Herr Jurisch, Sie sind Geschäftsführer eines deutschen Medizintechnikunternehmens. Wie geht es Ihnen?

Ganz gut. Im Moment überwiegt jedenfalls das Gefühl des Stolzes.

Warum?

Wir haben viel geschafft. Innerhalb von zwei Wochen haben wir das komplette Unternehmen durchkämmt und es auf den Kopf gestellt. Alle arbeiten hart daran, das Unternehmen nicht nur am Laufen zu halten, sondern den Produktionsoutput noch zu steigern. Ein Teil der Belegschaft arbeitet im Homeoffice, gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass sich die Menschen im Unternehmen so wenig wie möglich begegnen, das betrifft vor allem die Früh- und Spätschicht in der Produktion. Aber die Kollegen halten der aktuellen Drucksituation wirklich gut stand und leisten Unglaubliches. Das mitzuerleben, ist ein gutes Gefühl. 

Das Unternehmen: Tracoe Medical

Tracoe Medical ist ein Medizintechnikhersteller aus dem rheinhessischen Nieder-Olm. Das Familienunternehmen produziert und vertreibt Komponenten und Hilfsmittel für zwei medizinische Spezialgebiete: den Zugang unterhalb des Kehlkopfes, die sogenannte Tracheotomie (Luftröhrenschnitt), sowie die Laryngektomie, die Kehlkopfentfernung. Über kurze Zeit, wie bei einer Operation, werden Patienten intubiert und so über den Mund beatmet. Sofern die Beatmung aber länger als fünf Tage dauert, muss ein Zugang zur Luftröhre unterhalb des Kehlkopfes gelegt werden. Die Produkte um den dafür notwendigen Luftröhrenschnitt herum, also Kanülen, Wundauflagen, Pflaster oder Haltebänder, werden in Nieder-Olm gefertigt. Tracoe hat rund 250 Mitarbeiter und erzielte im Geschäftsjahr 2019 einen Umsatz von 26 Millionen Euro.

Was ist jetzt anders?

Wir haben die Produktion in eine Früh- und Spätschicht aufgeteilt. Vor der Corona-Krise haben wir von 6 bis 14 Uhr produziert. Jetzt sind die Kollegen von 6 bis 22:30 Uhr vor Ort. Knapp 100 Mitarbeiter sind jetzt in zwei 50er-Teams eingeteilt. In der Logistik handhaben wir es genauso, sind da aber darauf angewiesen, wann die Ware abgeholt wird. Die Carrier kommen zu den normalen Arbeitszeiten. Die Führungskräfte für die Bereiche Supply Chain und Produktion sind natürlich auch im Büro. 

Und wo sind Sie?

Ich bin jeden Tag im Büro. Ich kann nicht täglich 120 Menschen nach Nieder-Olm kommen lassen und dann selbst im Homeoffice arbeiten.

 

Wie schützen Sie Ihre Mitarbeiter?

Wir arbeiten mit einem Mix aus einfachen und einschneidenden Maßnahmen. Leichter zu organisieren ist die Arbeit im Homeoffice, das betrifft bei uns alle Bereiche, die nicht unmittelbar an der Wertschöpfung oder der Infrastrukturbetreuung beteiligt sind wie F&E, kaufmännische Funktionen, Einkauf, Vertrieb, Produktmanagement. Etwas aufwendiger sind die Sicherheitsmaßnahmen, wenn Menschen an einem Ort arbeiten, dort aber die geltenden Abstandsregeln eingehalten werden sollen.

 

Laufen die Fäden für das Krisenmanagement bei Ihnen zusammen?

Nein, wir haben eine Corona-Beauftragte ernannt. Sie informiert die Kollegen regelmäßig, mindestens jede Woche, in der Anfangszeit war es fast jeden Tag. Und sie sorgt dafür, dass die in der Geschäftsleitung beschlossenen Maßnahmen umgesetzt werden.

 

Ihr Vorgehen ist organisiert. Waren Sie auf eine Pandemie vorbereitet?

Nein, überhaupt nicht. Wir haben zwar ein straffes Projektmanagement und legen Wert auf gute Methoden, das funktioniert auch jetzt. Ein Medizinproduktehersteller muss beispielsweise eigene Hygienebeauftragte haben. Viele von den Schutzmaßnahmen zählen für uns daher zum normalen Alltag. Trotzdem hat uns die Wucht des Coronavirus vollkommen überrascht.

Wie haben Sie die Anfangsphase empfunden, also bevor das Virus Deutschland erreicht hat?

Zu Beginn war alles weit weg. Wir haben das Virus zwar wahrgenommen, die Zahlen in China und dem restlichen Asien verfolgt, die bedrückenden Bilder der abgeriegelten Städte. Aber wir dachten, das Problem hätten die Chinesen. Ich war mit meiner Familie sogar noch bis Mitte Januar im Urlaub, in Südafrika. In dieser Zeit habe ich gemerkt, dass das Problem größer wird. Aber es fühlte sich an wie die Ebola-Epidemie in Afrika. Wie etwas Lokales, das uns nicht erreicht.

Und dann war die Corona-Pandemie plötzlich da. Wann ist diese Realität bei Ihnen im Unternehmen angekommen?

Das war Anfang März. Da haben wir uns zunächst mit organisatorischen Fragen beschäftigt, also wie wir unsere Mitarbeiter schützen. Aber obwohl wir Medizinprodukte für die Beatmung herstellen, war uns auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, dass diese Pandemie unsere Produkte so massiv betreffen würde. 

Warum?

Die Informationslage war undurchsichtig. Zunächst hieß es, dass Corona-Patienten kurzzeitig beatmet werden, also intubiert, dann gehe es ihnen besser und fertig. Aber so ist es nicht, das wissen wir inzwischen. Die Beatmungszeit bei Covid-19-Patienten dauert zwischen 20 und 30 Tagen. Das ist sehr lange, wenn man berücksichtigt, dass die durchschnittliche Beatmungsdauer in Deutschland bei circa einer Woche liegt. Und das macht die aktuelle Situation noch brutaler, denn das Entwöhnen von der Maschine nach dieser langen Beatmungszeit ist sehr herausfordernd – nicht jeder Patient schafft die Entwöhnung. 

Wann wurde Ihnen bewusst, dass Ihr Geschäft substantiell betroffen ist?

Das ging alles so schnell, dass ich es im Rückblick kaum noch zusammenkriege. Ich würde sagen, in der zweiten Märzwoche war klar, dass es nicht nur um Einschränkungen für uns, also in Sachen Mitarbeiterschutz, geht, sondern dass wir sehr viel stärker bestimmte Produkte zur Verfügung stellen müssen. 

Was genau hat Ihre Alarmglocken schellen lassen?

Der harte Indikator war der Auftragseingang. Der schoss plötzlich um ein Vielfaches in die Höhe. Die Kliniken haben angefangen, wie wild zu bestellen, zum Teil sechs Mal am Tag. Wir haben in Deutschland ein Lieferversprechen von 24 Stunden, in diesem Zeitraum müssen unsere Produkte in den Kliniken sein. Das hat zur Konsequenz, dass die Kliniken selbst kaum Materialbestände haben. Wie auch, sie haben ja gar keinen Platz. Aber so ist das eben, normalerweise verlassen wir uns alle darauf, dass das Regal voll ist. Und das ist auch die „Philosophie“ der vergangenen Jahrzehnte: Es gibt immer Deckung im Markt, und Hersteller sind Lagerhalter.

Das ist jetzt anders.

Ja, denn plötzlich wurden sowohl die Sendungsgrößen als auch die Frequenzen deutlich erhöht, und das nicht nur in Deutschland. Hinzu kommen auch die Aufträge aus dem Ausland – wir verkaufen in 86 Länder – mit sprunghaftem Anstieg in den besonders betroffenen Ländern wie Italien oder Spanien, Benelux und vielen anderen. Da war es für uns offensichtlich: Gerade passiert etwas wirklich Großes.

Was bedeutet das für Ihr Unternehmen?

Wenn wir nicht liefern, sterben Menschen. Wir müssen also unbedingt lieferfähig bleiben, das ist eine Mammutaufgabe in der aktuellen Krisensituation. Was wir zusätzlich bestellen, muss produziert und versendet werden. Derzeit kann es hier zu Verzögerungen kommen, weil die Grenzen geschlossen sind oder unsere Lieferanten selbst nicht lieferfähig sind. Selbst wenn uns die Lieferung pünktlich erreicht, muss das Material auch in der Qualität ankommen wie vereinbart. Ich spreche hier von über 50 Lieferanten: Da reicht es, wenn ein kleines Teil fehlt – und unser Produkt kann nicht fertiggestellt werden. Wir müssen mehr liefern als jemals zuvor, als wir uns je hätten ausmalen können. Deshalb arbeiten wir jetzt auch samstags mit der gesamten Stammbelegschaft. Um so viel zu tun, wie irgendwie geht.

Spüren die Mitarbeiter den steigenden Druck?

Ja, überall, aber vor allem im Vertrieb. Wir erhalten ununterbrochen Anfragen. Hinzu kommen die Situationsberichte der Händler, die einem das Mark in den Knochen gefrieren lassen. 

Was ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Ein Hilferuf unseres italienischen Händlers: Er sieht, wie die Menschen um ihn herum sterben. Er beschrieb, wie schrecklich er sich dabei fühlt, nicht helfen zu können. Die Menschen in Italien müssten jetzt die Rechnung dafür bezahlen, dass das italienische Gesundheitssystem kaputtgespart wurde, meinte er. Und am Schluss schrieb er: Bitte helft mir und schickt Produkte.

Wie haben Sie auf seinen Hilferuf reagiert?

Ich war traurig. Solche Gespräche gehen mir sehr nah. Und es gibt immer mehr davon. Die Hilferufe kommen aus Spanien, aus den Niederlanden, aus Großbritannien. Deshalb müssen wir jetzt kontingentieren. 

Was bedeutet das?

Der Vertrieb schaut sich jeden Auftrag genau an, und wir ordnen das, was wir haben, so verantwortungsvoll zu, wie es uns möglich ist. Unser Gesamtvertriebsleiter telefoniert aktuell mindestens acht Stunden am Tag, um aus der Mangelsituation das Beste zu machen.

Wie trifft man solche Entscheidungen, wer wie viel Hilfe bekommt?

Wir wissen, in welcher Größenordnung Kunden bisher bestellt haben. Sobald sich der Bedarf signifikant erhöht, fragen wir nach, ob das wirklich sein muss. Bestimmte Kunden werden auch bevorzugt bedient, wie die Corona-Zentren in Deutschland. Außerdem wissen wir, wo die Krise besonders hart zuschlägt. Das versuchen wir ebenfalls zu berücksichtigen. Trotzdem: Es ist weniger da, als gebraucht wird. Und das ist schlimm bei Produkten, die Leben retten.

Können Sie die Produktion nicht einfach aufstocken?

Nicht so schnell, wie wir wollen. Wir haben bereits ein Programm aufgelegt, mit dem der Output mittelfristig für die Schlüsselprodukte verdoppelt werden soll. Der Hebel ist im Wesentlichen das Personal, das muss aber gemäß unseren eigenen Vorgaben qualifiziert werden. 

Warum geht es nicht schneller?

Wir sind extrem reguliert und müssen nachweisen, dass Mitarbeiter dazu befähigt sind, ihren Arbeitsschritt durchzuführen. Das ist Teil unserer Zulassung. Die Leute haben Anlernphasen und straffe Auflagen bei der Qualifikation. Ich achte sehr auf die Qualität, zu der wir uns verpflichtet haben.

Und was wollen Sie jetzt tun?

Wir haben angefangen, zusätzliche Mitarbeiter an Bord zu holen, im Wesentlichen über Leiharbeiterfirmen. Wir konnten bislang zehn Mitarbeiter integrieren und setzen die Suche weiter fort. 

Immer mehr Unternehmen anderer Branchen wollen die Produktion medizinischer Komponenten unterstützen. Könnte Ihnen das helfen?

Bei Atemschutzmasken ist das unproblematisch. Aber Medizinprodukte mit Klasse-2- oder Klasse-3-Standard, da häufen sich bei mir die Fragezeichen. Wie soll ein Autohersteller plötzlich Beatmungsgeräte bauen? Wir stellen Produkte der Klassen 2a und 2b her, die alle aufwendig zugelassen werden müssen. Zudem muss jeder Medizintechnikhersteller ein zertifiziertes Qualitätsmanagementsystem nachweisen und zusätzlich dazu eine Vielzahl an Auflagen erfüllen. Ich glaube eher, dass es bald eine große Ernüchterung geben wird.

Könnten Sie denn nicht Ihre Produkte beim Autobauer zusammensetzen lassen und so die Produktion hochfahren?

Nein, Medizinprodukte herzustellen ist ja kein Steckspiel. Und selbst wenn das ginge, also wenn wir unsere Produkte in einer anderen Betriebsstätte nachbauen lassen würden, müssten wir aufwendig nachweisen, dass wir dort alles genauso gut herstellen können wie bei uns. Das ist im aktuellen regulatorischen Umfeld weder einfach noch schnell möglich. Ich habe unsere Aufsichtsbehörde, den TÜV Süd, schon gefragt, ob sich jemand darum kümmert, ob jemand in der aktuellen Situation die regulatorischen Themen vereinfacht. Das würde uns helfen, schneller zu reagieren.

Und, wie lautet die Antwort?

Ich rechne mit keiner schnellen Antwort.

 

Dann andersrum: Was wäre, wenn die Mitarbeiter der Zulieferer zu Ihnen kämen?

So wird ein Schuh draus. Wir brauchen keine Produktionsstätten, sondern Leute. Wir würden Mitarbeiter eines Automobilzulieferers, die über die erforderlichen feinmotorischen Fähigkeiten verfügen, gern aufnehmen. Dann könnten wir über eine weitere Ausdehnung der Produktion, zum Beispiel in die Nachtschicht, nachdenken. Das würde für deutlich mehr Kapazitäten sorgen.

Ähnliche Artikel