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Energie & Rohstoffe > Ölpreise

Ölpreiskrimi, nächstes Kapitel

Der Ölpreis steigt wieder und das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Die erdölexportierenden Länder kürzen die Fördermenge, was die Preise weiter in die Höhe treibt. Bislang geht die Rechnung aus Sicht der Förderländer – darunter auch Russland – auf.

Wird der Ölpreis weiter steigen? Bild: Shutterstock

In der ersten Jahreshälfte schienen Saudi-Arabien und seine Verbündeten in der Organisation der erdölexportierenden Länder (Opec) in ein immer tieferes Loch zu stürzen. Die Rohölpreise, die davor lange Zeit über 125 Dollar pro Barrel gelegen hatten, sanken auf unter 85 Dollar. Um den Abwärtstrend zu stoppen, der durch die sinkende Nachfrage aufgrund des schwachen Wachstums in China und der steigenden Zinsen in anderen Ländern verursacht wurde, verlängerte die Opec die im Oktober letzten Jahres erstmals angekündigten Förderkürzungen immer weiter. Dann fielen die Preise im Juni auf 72 Dollar. Das Kartell verkaufte immer weniger Öl, für immer weniger Geld.

Doch die Pechsträhne der Opec ging im Juli zu Ende, als Saudi-Arabien eine zusätzliche Förderkürzung von 1 Millionen Barrel pro Tag (b/d) beschloss - das entspricht 1 Prozent der weltweiten Nachfrage - und ankündigte, die Kürzung bis August zu verlängern. Seitdem haben Saudi-Arabien und Russland ihre Förderkürzungen bis zum Jahresende verlängert, und es ist wahrscheinlich, dass sie auf diesem Kurs bleiben werden. Gleichzeitig wurden die Anleger, die für dieses Jahr mit einer Rezession der Weltwirtschaft gerechnet hatten, durch Anzeichen für eine Verlangsamung der Inflation in den USA ermutigt, die ein Ende der Zinserhöhungen und vielleicht sogar eine „weiche Landung" der Wirtschaft erwarten ließen. Diese Kombination hat die Ölpreise um 30 Prozent auf über 90 Dollar pro Barrel in die Höhe getrieben.
 

Wie geht es weiter? Die Händler sind hin und her gerissen. Letzte Woche überschritt der Preis die Marke von 97, jetzt liegt er unter 92 Dollar. Inmitten dieser Volatilität diskutieren Experten darüber, ob die Rallye gerade erst beginnt oder schon wieder abflaut. Die Bären sagen bis Weihnachten einen Stand von unter 90 Dollar voraus. Die Bullen sehen bis dahin dreistellige Werte. Es steht viel auf dem Spiel, und zwar nicht nur für die Opec: Teureres Öl wird die Inflation in die Höhe treiben, was die Zentralbanken zu einer restriktiven Politik zwingen und der Weltwirtschaft einen Schlag versetzen könnte.

Die Bullen stützen sich auf die überraschende Widerstandsfähigkeit der Ölnachfrage. Wirtschaftlicher und buchstäblicher Gegenwind in Form eines mächtigen Taifuns hielt chinesische Touristen und Geschäftsleute nicht davon ab, diesen Sommer eine Rekordzahl von Reisen zu unternehmen, was die Nachfrage nach Benzin und Flugzeugtreibstoff ankurbelte. Die Reisetätigkeit in den USA, die am Labour-Day-Wochenende Anfang September ihren Höhepunkt erreicht, ist weiterhin stark. Insgesamt scheint der jüngste Preisanstieg den Ölverbrauch nicht zu dämpfen. Jorge León vom Beratungsunternehmen Rystad Energy schätzt, dass ein solcher Nachfragerückgang erst bei 110-115 Dollar je Barrel eintreten würde.

Die Bullen sehen auch, dass die Förderkürzungen den Produzenten die Taschen füllen, was die Möglichkeit eröffnet, dass sie erneut verlängert werden. Trotz der geringeren Exportmengen könnten die Einnahmen Saudi-Arabiens in diesem Quartal um 30 Millionen Dollar pro Tag höher ausfallen als im letzten Quartal, was einem Anstieg von 6 Prozent entspricht, schätzt das Beratungsunternehmen Energy Aspects. Auch die Einnahmen Russlands sind gestiegen. Beide Länder können sich damit trösten, dass anders als in den späten 2010er Jahren, als sich die Opec und Russland erstmals zusammentaten, um das Angebot zu drosseln, die amerikanischen Schieferbohrer die Lücke nicht füllen. Die Produktion steigt zwar im Moment noch, aber die Bohrungen werden aufgrund der höheren Kosten eingestellt. Die Zahl der Bohranlagen ist gegenüber November letzten Jahres um 20 Prozent zurückgegangen.

Der Preisrückgang in dieser Woche ist nach Ansicht der Bullen auf Gewinnmitnahmen der Händler zurückzuführen. Sie verweisen auf ein prognostiziertes Angebotsdefizit von 1,5 bis 2 Millionen Tagestonnen für das gesamte Jahr, das größtenteils im letzten Quartal zustande kommen dürfte, wenn die Rekordproduktion von Nicht-Opec-Ländern wie Brasilien und Guyana durch die Kürzungen des Kartells endgültig übertroffen wird. Dies wird die Verbraucher dazu zwingen, ihre Vorräte weiter aufzustocken. Die Vorräte in Cushing, einem wichtigen Ölumschlagplatz in Oklahoma, sind auf den niedrigsten Stand seit 14 Monaten gesunken.

Doch die Bären sehen das anders. Sie sind der Meinung, dass die Erholung der chinesischen Ölnachfrage bereits stattgefunden hat, auch wenn die Erholung der Wirtschaft insgesamt noch lange nicht abgeschlossen ist, da sich die Sperrungen überproportional auf die ölintensiven Aktivitäten, z. B. im Transportwesen, ausgewirkt haben. Die Bank JPMorgan Chase geht davon aus, dass die chinesische Nachfrage für den Rest des Jahres stagnieren wird. Außerdem hat China in den ersten acht Monaten des Jahres Rekordmengen an Rohöl importiert, von denen es einen großen Teil für die spätere Raffinierung gelagert hat. Die Vergangenheit zeigt, dass das Land seine Käufe bei weiter steigenden Preisen einstellen wird.

Beunruhigende Anzeichen gibt es auch aus Amerika. Der Druck, der von den hohen Ölpreisen ausgeht, erreicht die „Kerninflation", in der Lebensmittel- und Energiekosten nicht enthalten sind, da Unternehmen in anderen Sektoren, angefangen beim Verkehrswesen, die Preise anheben, um dies auszugleichen. Der „Nowcast" der Federal Reserve in Cleveland, der die Öl- und Benzinpreise als Inputs verwendet, geht davon aus, dass die Inflation in diesem Monat im Jahresvergleich auf 4,19 Prozent ansteigen wird, gegenüber 4,17 Prozent im September. Analysten gehen davon aus, dass er längerfristig bei 3 Prozent verharren wird. Daher ist es wahrscheinlicher, dass die Fed die Zinsen länger hochhält, was die amerikanische Wirtschaft dämpft und den Dollar in die Höhe treibt, was das Öl für alle anderen teurer macht.

Die Bären verweisen auch auf den Abbau der Lagerbestände in Cushing und weisen darauf hin, dass sich die Lageraktivitäten in den 2010er Jahren, als Amerika zum Exporteur von Rohöl wurde, an die Golfküste verlagert haben. Die Rohölvorräte sind anderswo nicht so schnell abgebaut worden. Die weltweiten Bestände liegen weiterhin über dem Fünfjahresdurchschnitt. Obwohl die Bären der Meinung sind, dass diese Bestände im kommenden Quartal abgebaut werden, gehen sie davon aus, dass das Marktdefizit im nächsten Jahr schnell schrumpfen wird, wenn das Wachstum der Nicht-Opec-Produktion den größten Teil des Nachfrageanstiegs decken dürfte. Das Datenunternehmen Kpler prognostiziert für die ersten Monate des Jahres 2024 einen Überschuss.

Kurzfristig scheinen die Bullen im Vorteil zu sein, aber im nächsten Jahr werden die Bären die Oberhand haben. Bis Januar wird der Markt wahrscheinlich angespannt sein. Überraschende Wirtschaftsdaten könnten zu Ausschlägen von 5-10 Dollar pro Barrel führen und die Preise auf über 100 Dollar treiben. Im Jahr 2024 werden die nachlaufenden Auswirkungen der hohen Zinssätze jedoch die Nachfrage dämpfen, wenn die neue Produktion anläuft, und die Preise beruhigen. Es könnte ein allmählicher Abstieg folgen.

Es gibt noch eine Unbekannte. Obwohl Saudi-Arabien angedeutet hat, dass es sich Sorgen um die wirtschaftlichen Aussichten seiner asiatischen und europäischen Kunden macht, könnten niedrigere Benchmark-Preise das Land dennoch zu größeren Produktionskürzungen zwingen. Bei einer Angebotsschwemme reichen solche Kürzungen möglicherweise nicht aus, um die Preise in die Höhe zu treiben. Sie werden jedoch den Wiederaufbau der Lagerbestände verhindern, der normalerweise in Abschwungphasen erfolgt. Damit wäre der Weg frei für den nächsten Ölpreis-Krimi.

© 2023 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.

Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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