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Zukunftsmärkte > Standort-Debatte

Raus aus Deutschland? Was bei Verlagerung zu bedenken ist

Bürokratie und hohe Kosten lassen Mittelständler über eine Verlagerung nachdenken. Zudem locken andere Länder mit Subventionen. Doch ein Umzug hat Tücken.

Saubere Arbeit: Bosch fertigt Wärmepumpen in Deutschland. Jetzt wird die Produktion nach Polen verlegt. Bildquelle: Bosch

Gehen oder bleiben? Die hohen Kosten für Energie, fehlendes Personal und stagnierende europäische Märkte bringen immer mehr Unternehmen ins Grübeln. Ist Deutschland noch der richtige Standort? Ist er nicht, lautet das Urteil des Reifenherstellers Michelin. Bis 2025 soll die Fertigung von Lastwagenpneus nach Polen verlagert werden. Der französische Konzern schließt die Werke in Karlsruhe und Trier, 1500 Stellen fallen weg. Europas größter Reifenproduzent verweist unter anderem darauf, dass sich die Energiekosten in Deutschland binnen eines Jahrzehnts verdoppelt haben. Da könne man mit den Billiganbietern aus Asien nicht mehr mithalten.

Michelin ist kein Einzelfall. Viele deutsche Unternehmen zahlen derzeit bis zu dreimal mehr für Strom als ihre internationale Konkurrenz. Das geht aus Berechnungen des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) und des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hervor. „Spätestens mit der Energiekrise sind deutsche Strompreise im internationalen Vergleich nicht mehr wettbewerbsfähig“, sagte Holger Lösch, stellvertretender BDI-Hauptgeschäftsführer, dem Handelsblatt.

„Vertrauen erschüttert“

Die Umfragen ergeben ein düsteres Bild: Der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) zufolge planen immer mehr Industriebetriebe, Kapazitäten ins Ausland zu verlagern oder zumindest die Produktion im Inland einzuschränken. Nach einer Befragung der Beratungsgesellschaft Deloitte denkt sogar jedes Dritte darüber nach. „Das Vertrauen in den Standort Deutschland ist erschüttert“, stellt Industrieexperte und Deloitte-Partner Florian Ploner fest. Er sieht einen „erheblichen Schmerz“ vor allem im Mittelstand, was die Energiekosten betrifft. Doch es geht nicht nur um Energie.

Große Einschnitte drohen der Belegschaft des Autozulieferers ZF. Der Vorstand denkt dem Betriebsrat zufolge darüber nach, jede dritte Stelle in Deutschland – insgesamt 18.000 – wegfallen zu lassen. Gleichzeitig will ZF im serbischen Pancevo bei Belgrad ein Werk von 1000 auf bis zu 6000 Beschäftigte erweitern. Dort sollen Elektroantriebe gefertigt werden. Bosch hat erst Mitte Januar angekündigt, weitere 1200 Stellen streichen zu wollen. Betroffen ist vor allem der Bereich Softwareentwicklung für das autonome Fahren. Bekannt war schon, dass der Konzern 250 Millionen Euro in ein neues Werk für Wärmepumpen in Polen investiert. Dafür fallen 1500 Stellen in Deutschland weg. Dabei hat der Konzern 80.000 Beschäftigten erst im vergangenen Sommer eine Bestandsgarantie bis 2027 gegeben. Auch Mercedes investiert im Nachbarland in eine neue Van-Produktion und streicht Fertigung hierzulande.

Gut 9500 Firmen mit mindestens einem deutschen Eigentümer sind bereits in Polen, und es werden mehr. Denn der Abzug der Großkunden setzt Tausende von Zulieferer unter Druck. Von ihnen wird die Nähe zur Fertigung erwartet und natürlich auch, dass sie im gleichen Maße ihre Kosten drücken. Die Folge: „Hierzulande wollen nur die wenigsten derzeit Ressourcen aufbauen, aber in anderen Weltregionen wird durchaus investiert und Personal eingestellt“, sagt Heiko Fink, Partner bei der Beratungsfirma Horváth. Sein Team hat 430 Vorstände in 19 Ländern über ihre wesentlichen Strategien befragt. Topthema war neben Personalbeschaffung die Kostenoptimierung.

Bevorzugt werden Standorte in Asien. Allerdings schauen sich die Unternehmen dort inzwischen kritischer um. China hat als größte Volkswirtschaft der Region immer noch große Anziehungskraft. Die Stimmung unter den deutschen Unternehmern ist allerdings gespalten. 54 Prozent der dort engagierten Firmen wollen mehr investieren. Gleichzeitig denken 45 Prozent über Rückzug nach. Die lahmende Wirtschaft und die Abschottungspolitik der Machthaber in Peking schrecken sie ab. Jeder vierte ist auf der Suche nach einer Alternative. „Viele Unternehmen kapseln China ab, indem sie lokal produzieren und den Markt lokal bedienen. Die Abhängigkeit von chinesischen Lieferanten für andere Märkte wird reduziert und es werden Alternativlieferanten in anderen asiatischen Ländern aufgebaut, auch wenn es etwas mehr kostet“, stellt Fink fest. Das ist ganz im Sinn der Bundesregierung. Die hatte im Sommer deutsche Firmen aufgefordert, ihre Risiken im Chinageschäft zu verringern.

So rücken neben Vietnam und Thailand vor allem Indien, Indonesien und Malaysia zunehmend in den Fokus deutscher Investoren. Aber auch weit entwickelte Länder wie Korea und vor allem Japan sind für deutsche Investoren wieder interessanter geworden. „Niedrige Lebenshaltungskosten, sehr gute Infrastruktur und die Expertise in nachhaltige Technologien machen Japan sehr attraktiv“, heißt es bei den Außenhandelskammern (AHK) in Berlin. Korea verfüge mit 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts über die zweithöchste Quote für Forschung und Entwicklung unter den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD). Die Wirtschaft werde 2024 voraussichtlich um 2,2 Prozent wachsen.

Von solchen Werten können Unternehmer im derzeit in der Rezession steckenden Deutschland nur träumen. Noch im Sommer hatten viele darauf gehofft, dass die Bundesregierung bei den Energiekosten entlastet und Bürokratie streicht. Stattdessen steigen die CO2-Abgaben, Energie- und Transformationssubventionen fallen weg, Logistik, Material und Personal kosten mehr. Das alles lässt die Margen sinken. 

„Gerade jetzt werden die Weichen für die kommenden Jahrzehnte gestellt“, sagte DIHK-Präsident Peter Adrian. „Nur mit einer starken Wirtschaft wird es gelingen, die aktuellen Herausforderungen anzugehen. Wir müssen schneller, agiler, unbürokratischer und vor allem digitaler werden, wenn wir mithalten wollen.“ Diese Transformation müsse vonseiten der Politik unterstützt werden. „Der Standort ist ansonsten langfristig in Gefahr.“

Fokus nötig

Der DIHK-Präsident verweist darauf, dass viele Rahmenbedingungen beispielsweise in den USA oder asiatischen Ländern grundlegend besser seien. Das gelte etwa für Energieversorgung, Steuern und Abgaben sowie den unternehmerischen Freiraum. Darauf müssten Deutschland und die EU reagieren.

„Wenn die Wertschöpfung aus Deutschland erst mal rausgeht, wird sie auch nicht mehr so schnell zurückkommen“, warnt Horváth-Partner Fink. Den Unternehmen bleibe häufig nichts anderes übrig, als diesen Schritt zu gehen. Entweder um den Markt vor Ort schneller, besser und günstiger bedienen zu können oder um von lokalen Vorteilen für die Produktion oder den Kundenzugang zu profitieren. „Die Frage ,Wo investiere ich eigentlich?‘ wird für den Mittelstand ganz häufig zur Gretchenfrage, weil die finanziellen Ressourcen zu einer Fokussierung zwingen und man nicht in allen Ländern investieren kann.“ Für Fink lautet die Frage: „Was ist in der Kombination Beschaffung, Produktion, Absatzmarkt die richtige Region oder das richtige Land – und das nicht nur kurz-, sondern mittel- und langfristig?“

In den USA zum Beispiel. Dort locken satte Subventionen, niedrige Energiekosten und eine sich kraftvoll entwickelnde Wirtschaft. Die Regierung in Washington hat mit dem Inflation Reduction Act (IRA) ein Paket im Wert von 433 Milliarden Dollar (400 Milliarden Euro) geschnürt. Interessanter Nebeneffekt: Wer in den USA produziert, kommt im Land auch leichter ins Geschäft, denn auch die Regierung des Demokraten Joe Biden macht Importeuren das Leben schwer. „America first“ ist auch nach der Abwahl von Donald Trump geblieben. IW-Chef Michael Hüter geht davon aus, dass vor allem energieintensive Betriebe den Lockrufen der USA folgen. Derzeit sind im Land 5800 Unternehmen mit insgesamt 923.000 Beschäftigten tätig. Ob das Interesse an Investitionen aus Deutschland in jüngster Zeit gestiegen ist, vermochten die amerikanische Handelskammer nicht zu sagen.

Von Deindustrialisierung oder gar einer Massenflucht der deutschen Wirtschaft will Friederike Welter, Präsidentin des Bonner Instituts für Mittelstandsforschung, nichts wissen. „Wir haben gerade eine Studie abgeschlossen, in der wir zeigen, dass es zwar eine stärkere Neigung der Unternehmen gibt, Produktionsstandorte im Ausland aufzubauen. Die deutschen Standorte bleiben aber im Regelfall erhalten.“ Auch würden Ersatzinvestitionen weiter im Heimatland stattfinden, der deutsche Standort also nicht vernachlässigt. „Das Thema Deindustrialisierung wird aktuell überbetont“, sagt Welter. Weniger beachtet werde hingegen, dass auch die Nähe zu den Absatzmärkten im Zuge der grünen Transformation an Bedeutung gewinnt. „Abwanderung allein ist ja schließlich auch keine Lösung für die Probleme am deutschen Standort.“ Die Transformation stehe früher oder später allen Industriestandorten bevor. Entsprechend müssten sich die Betriebe auch dort umstellen. Eine Verlagerung mache deshalb nur Sinn, wenn das Zielland auch nach der Transformation noch günstig sei.

Manchmal erweist sich ein Auslandsstandort bereits jetzt schon als Fehlentscheidung. So hat der Autozulieferer Eberspächer aus Baden-Württemberg im Januar sein Werk im bulgarischen Ruse an die österreichische GG Group verkauft. Dabei hatte der Konzern erst im vergangenen April mit dem Bau begonnen. Die Produktion von elektrischen Heizungen für E-Mobile sollte in diesen Wochen beginnen. Der Spezialist für Abgasreinigungs- und Akustiksysteme wollte im neuen Werk nach 2025 mit 500 Leuten rund 2,4 Millionen Heizungen fertigen. Jetzt bleibt man bei der kleinen, bereits bestehenden Produktion mit 100 Beschäftigten. Offenbar kommt die E-Mobilität in Europa doch nicht so schnell voran wie gedacht. Die GG Group will nun in dem brandneuen Werk Hochvoltkabelsätze fertigen – auch für E-Mobile.  

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