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Zukunftsmärkte > Boom und Bürokratie

Indien - Traumziel für den Mittelstand?

Viele Mittelständler liebäugeln mit dem aufstrebenden Indien. Doch nicht für jeden werden dort Träume wahr. Wer Fuß fassen will, muss einiges beachten.

Mittags in Neu-Delhi: Manche Straßenszene mutet im nach Hightech strebenden Indien fast archaisch an. Bildquelle: Eli Hamacher

Wer Suresh Balakrishnan treffen will, fährt mit dem Aufzug in den 46. Stock eines Hochhauses am Kohinoor Square im Herzen Mumbais, der zweitgrößten Megacity Indiens. Dass man aus dem Konferenzraum seines International Sales Headquarters einen guten Blick auf die Skyline der Stadt und die Arabische See hat, ist kein Zufall. Der Geschäftsführer der Indien-Tochter des Hamburger Klimatechnikspezialisten Stulz bekommt immer häufiger Besuch von ausländischen Kunden. „Einige von ihnen verbinden mit unserem Land immer noch Gurus, heilige Kühe und Armut“, sagt der Manager. „Hier geben wir ihnen das richtige Bauchgefühl mit.“

Umgerechnet fünf Millionen Euro hat die Stulz-Tochter für die exklusive Immobilie gezahlt, die Balakrishnan ein super Investment nennt. Der Wert der 600 Quadratmeter sei bereits um 20 Prozent binnen zwei Jahren gestiegen. Ähnlich gut läuft für Stulz-CHSPL (Comfort Heating Systems Private Limited) India das eigentliche Business mit Kühlsystemen für Serverräume. So gut, dass der Managing Director gerade für 15 Millionen Euro eine fünfte Fabrikhalle im Osten der Stadt in Auftrag gegeben hat. „So wollen wir die Kapazität von 2025 an verdoppeln, die Zahl der Mitarbeitenden von heute 800 auf 1000 erhöhen.“

Hohe Wachstumsraten

Für so viel Gesprächsstoff wie im vergangenen Jahr hat Indien selten gesorgt. Die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt überholte China als bevölkerungsreichste Nation der Welt, glänzt mit stabil hohen Wachstumsraten um die sieben Prozent und Allzeithochs an der Börse, erzielte mit Deutschland einen Handelsrekord, setzte sich als erstmaliger Gastgeber eines G20-Gipfels als Vertreter des globalen Südens geschickt in Szene und wusste das Event vor der Parlamentswahl 2024 gut als PR-Forum zu nutzen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bereiste Indien öffentlichkeitswirksam. Mit Milliardeninvestitionen in die zum Teil immer noch marode Infrastruktur lockt die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens Unternehmen aus aller Welt. Und eine stark wachsende konsumfreudige Mittelschicht verspricht einen gigantischen Absatzmarkt – auch für deutsche Produkte.

Stefan Halusa, seit Herbst 2020 Hauptgeschäftsführer der Indo German Chamber of Commerce in Mumbai, bekommt deshalb häufiger Besuch aus der Heimat. Viele Unternehmen aus allen Industriesektoren, vom Konzern bis zum kleinen Mittelständler, schauen sich verstärkt Indien an, um zu diversifizieren und das Risiko zu streuen. Mehr als 2000 deutsche Firmen sind bereits vor Ort. Um China ersetzen zu können, seien die deutschen Unternehmen nicht stark genug vertreten, sagt Halusa. „Wer jedoch eine Ergänzung zu China mit Blick auf Marktgröße und Marktpotenzial sucht, für den ist Indien eines der Länder, das man sich als erstes anschauen sollte“, rät er. Es könne nicht jedes Unternehmen sofort Millionenumsätze in Indien machen, schränkt sein Kollege Dirk Matter ein. Dafür locken aber gute Perspektiven. Bei einer Umfrage der Kammer sei herausgekommen, dass deutsche Unternehmen in Indien eine Umsatzrendite nach Steuern von 15 Prozent erzielten, sagt der Chef der Deutsch-Indischen Handelskammer in Düsseldorf.

Rüdiger Schröder, ehemaliger Chef von Kärcher Indien und heute Berater bei M+V Altios, einem Spezialisten für internationale Expansion, kennt sich in seiner Wahlheimat bestens aus. „Wir stellen fest, dass deutsche Unternehmen, die bereits ihre Produkte hier vertreiben, jetzt verstärkt in die Produktion einsteigen. Wegen der Geopolitik will man ein zweites Standbein haben. Und man sieht, dass der indische Markt wächst.“ Wegen des „Make in India“-Programms der Regierung, das Produktion im Land ausbauen soll, bleibt denen, die erfolgreich sein wollen, auch nichts anderes übrig. Dennoch macht es das Land Newcomern nicht leicht. „Im Alltag lauern viele Fallstricke, etwa bei Registrierungen, Eröffnen von Bankkonten, Einstellen, aber vor allem auch Entlassen von Mitarbeitenden“, sagt Schröder. Für den Berater steht deshalb fest: „Man muss auch Rückschläge finanziell aushalten können.“

Kleine und mittelgroße Unternehmen exportieren zwar gern nach Indien, scheuen aber oft den Aufwand, hier eine eigene Produktion aufzubauen. Sie haben auch aus der Expansion nach China gelernt. Kleine Mittelständler verließen das Reich der Mitte als erste, als sie die prosperierende Konkurrenz vor Ort ihnen das Geschäft wegnahm – teilweise auch durch geschicktes Kopieren.

Wer die Firma Böllhoff im Großraum Delhi besuchen will, braucht Geduld – viel Geduld. In der Rushhour quält sich der Wagen durch dichten Verkehr. Da hilft es auch wenig, dass die ununterbrochen hupenden Fahrer den Straßenraum optimal nutzen. Wo drei Spuren sind, passen locker fünf Autos nebeneinander. Die gut 20 Kilometer lange Fahrt aus dem Zentrum dauert trotzdem eine gute Stunde. Wie viele deutsche Mittelständler hat auch der Spezialist für Verbindungstechnik mit Montage- und Logistiklösungen erst einmal das so fremde Terrain sondiert. Böllhoff aus Bielefeld startete in Indien 2007 mit dem Vertrieb, bevor man zunächst eine kleine eigene Produktion aufbaute. Zu dem Zeitpunkt zählte der Subkontinent knapp 1,2 Milliarden Einwohner, heute sind es gut 1,4 Milliarden.

Vielversprechender Start

Für Kunden aus der Automobil-, Bau-, Maschinen-, Luftfahrt- und Eisenbahnindustrie und damit vor allem für solche Branchen, die am Aufschwung des Landes teilhaben, fertigt Boellhoff Fastenings Pvt. Ltd. seitdem einen kleinen Teil des weltweiten Sortiments. „Die Produkte, die wir vor Ort produzieren können, stellen wir in Indien her. Den Rest importieren wir aus den weltweiten Werken“, erklärt Managing Director Shiv Kumar. 40 Prozent des Umsatzes kämen immerhin aus lokaler Produktion, früher waren es nur 20 Prozent.

Der Start im fernen Indien war so vielversprechend, dass das 1877 gegründete Familienunternehmen mit heute mehr als 3300 Beschäftigten und 783 Millionen Euro Umsatz 2019 in der Metropolregion New Delhi eine größere Fabrik eröffnete. Auf vier Etagen arbeiten heute 80 Beschäftigte in der Verwaltung, der Produktion und im Lager. Im vergangenen Jahr setzte die indische Tochter rund 8,3 Millionen Euro um, 36 Prozent mehr als 2022.
Zum Start des neuen Werks kam mit Kumar auch ein neuer Manager. Wie deutsche Unternehmen ticken, wusste er gut. Viele Jahre hatte Boellhoffs Indien-Chef für Freudenberg in Indien gearbeitet und bereits eine Produktion aufgebaut. Noch kann das Unternehmen auf bestehender Fläche wachsen. Braucht es mehr Raum, bieten die Industriegebiete rund um die Hauptstadt New Delhi noch ausreichend Möglichkeiten. „2025 werden wir gegebenenfalls eine weitere Fabrik in Gurugram bauen“, sagt Kumar.

Wollen die Unternehmen vor Ort erfolgreich sein und mit Made in Germany punkten, brauchen sie vor allem gut ausgebildetes Personal. Als die drei wichtigsten Standortfaktoren nannten die Unternehmen bei einer Umfrage von Deutsch-Indischer Außenhandelskammer und KPMG politische Stabilität (62 Prozent), Verfügbarkeit exzellenter Fachkräfte (56 Prozent) und relativ niedrige Lohnkosten (45 Prozent). Das erforderliche Know-how bringt etwa bei Boellhoff Fastenings und auch bei vielen anderen indischen Töchtern deutscher Unternehmen vor Ort kaum jemand mit. Zu speziell sind die Anforderungen der Zentralen in der fernen Bundesrepublik, vor allem an die Qualitätsstandards.

Über einem Schulungsraum prangt bei Boellhoff in großen Lettern „Klassenraum“. Hier lernen neue und alte Mitarbeitende regelmäßig. Steigt die Qualifikation, winkt mehr Gehalt. „Die Mitarbeiter wollen am steigenden Wohlstand teilhaben und Teil des Aufstiegs zur Supermacht sein. War früher ein Kühlschrank Luxus, gehört er heute in der Mittelklasse zur selbstverständlichen Ausstattung. Die Menschen arbeiten sehr hart“, sagt Kumar. Es sei wichtig, Karrierechancen aufzuzeigen. Auch das sei ein Tool, um Beschäftigte zu halten. Denn Inder wechseln schnell, wenn anderswo bessere Chancen locken. Letztlich profitiert die indische Tochter auch von der deutschen Zentrale. „So können die Mitarbeitenden internationale Erfahrungen sammeln.“

Probleme mit der Qualität

Berater Schröder warnt jedoch: „Wer in Indien startet, kann sich nicht nur auf indisches Personal verlassen. Er braucht zumindest für die ersten Jahre einen CEO aus Deutschland oder zumindest einen Experten, etwa aus der Produktion oder Qualitätssicherung.“ Der indische Qualitätsanspruch decke sich eben nicht mit dem der Deutschen. Training ist dann unerlässlich. „Und ein Manager muss auch in der Lage sein, die Produktion stillzulegen, wenn die Qualität nicht stimmt.“ Firmen, die mit Unterstützung aus Deutschland gestartet sind, sind Schröder zufolge im Schnitt erfolgreicher. Es gebe aber auch einige Unternehmen, die wieder geschlossen wurden oder die ein Interimsmanager retten musste. Last but not least sei Indien für deutsche Arbeitnehmer kein Traumziel wie Amerika, Australien oder Thailand, sagt Schröder. „Viele Unternehmen, die bereits vor Ort sind, klagen darüber, dass sie keine Mitarbeitenden finden, die bereit sind, mal für einige Jahre hierher zu kommen.“

Während Indien unter der Regierung von Premierminister Narendra Modi, der 2024 für eine dritte Amtszeit kandidiert, riesige Fortschritte in der Digitalisierung gemacht hat, sei es beim Payment und auch bei Geschäftsabläufen wie Steuererklärungen, stellen Bürokratie und Korruption die Manager immer noch vor größte Herausforderungen. In der Umfrage von Deutsch-Indischer Außenhandelskammer und KPMG gaben 53 Prozent der deutschen Unternehmen an, dass sie sich durch Bürokratie und administrative Hürden beeinträchtigt fühlten. Es folgten Korruption (47 Prozent) und das regulatorische Umfeld (31 Prozent). Düstere Prognose: Mit wesentlichen Fortschritten rechnen die Befragten bis 2028 nicht.

Seit 26 Jahren begleitet Suresh ­Balakrishnan den Aufstieg von Stulz in Indien. Konzentrierte sich der Anlagenbauer zunächst auf maßgeschneiderte Kühltechnik für die Serverräume von Premiumkunden, setzt er seit 2018 auch auf andere Kundengruppen wie Hotels, Flughäfen und Fabriken. Der jedoch wichtigste Wachstumstreiber: Stulz India stieg 2019 unterstützt von der globalen Stulz Vertriebsorganisation in den Export ein. Fortan saßen die Kunden nicht mehr nur in Indien, sondern auch in Asia Pacific, allen voran Singapur, Indonesien, Korea, auf den ­Philippinen.

So ganz leicht taten sich die gut 6000 Kilometer entfernt sitzenden Hamburger mit dem Schritt ihrer Tochter zunächst nicht und fragten sich, ob die Inder im Vertrieb überhaupt überzeugend auftreten können. Schließlich ging es auch um das eigene Renommee, denn auf den Kühlsystemen klebt das Stulz-Logo. Doch das Unternehmen dürfte die neue Strategie nicht bereut haben. Im laufenden Jahr rechnet die Indien-Tochter mit einem Umsatz von umgerechnet 51 Millionen Euro nach 46 Millionen Euro im abgelaufenen Finanzjahr (31. März). 2025 wird der Standort in Mumbai den im chinesischen Huangzhou überholen.

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